Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
Zur Druckversion .
Susi Koltai

Wiedergeburt aus Witz und Spielfreude

Neues aus dem alten Filmland Ungarn
Der erfolgreichste ungarische Spielfilm der vergangenen Jahre war "Hukkle", was soviel heißt wie Schluckauf. In György Pàlfys liebevoll gemachtem Erstlingswerk ist der rhythmische Schluckauf eines betagten Mannes, der in der Sonne auf dem Bänkchen vor seinem Haus sitzt, gewissermaßen der Refrain des Filmes. Dialoge gibt es keine, nur Geräusche und Laute des Dorflebens, die sich manchmal zu einem synchronen Zusammenspiel verdichten.

Idyllisch wirkt der Leichenzug, der sich durch das Dorf bewegt. Ebenso sanft und still ermittelt der Dorfpolizist im Mordfall am friedlichen Fischerteich. Die Flasche des Anglers liegt leer getrunken da. Häschen hoppeln, Schneeglöckchen sprießen im Zeit-raffertempo aus dem Boden, Schweine werden zum Begatten gebracht, ein Maulwurf frisst begeistert einen Regenwurm. Und während das Spülwasser fröhlich zum Abwasserrohr hinausgluckert, sackt ein Fußgänger auf der Dorfstraße tonlos in sich zusammen. Immer weniger Männer spielen auf dem Dorfplatz Boccia. Eine nette Oma kocht aus den hübschen Schneeglöckchen jenen merkwürdigen Saft, den sie unter die Dorffrauen verteilt. Einen Schuss Saft in den Schnaps des Ehemannes, ein wenig Saft ins Gulasch… Zerissen wird die Idylle durch das enorme Gedonner eines Jagdflugzeuges, das in einem surrealistischen Taumel unter der dörflichen Steinbrücke hindurchrast. Einen Moment lang bleibt alles stehen. Doch dann setzt der Schluckauf des Opas von Neuem ein, und alles nimmt wieder seinen friedlichen Lauf…

Zu entdecken gibt es in der ungarischen Filmlandschaft sehr viel. Die Originalität, Witz und Experimentierfreude der ungarischen Filmer sind wohl auch der Grund, weshalb das ungarische nationale Filmfestival in Budapest seit Jahrzehnten eine ansehnliche Gruppe von illustren Filmkritikern und Festivalveranstaltern aus aller Welt anzuziehen vermag. Trotz gleich anschließender Berlinale erscheinen die internationalen Gäste getreulich zum Festival, um sich anschließend im jeweiligen Wirkungskreis tatkräftig für den ungarischen Film einzusetzen. Auch beim einheimischen, vorwiegend jungen Publikum ist das Festival überaus beliebt. Dieses Jahr wurden 40.000 Eintrittskarten verkauft. Die Tendenz ist seit einigen Jahren steigend. Der eigenen Filmproduktion wird in Ungarn vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, dennoch ist die Vorherrschaft amerikanischer Streifen auf dem Markt überdeutlich. 80 bis 85 Prozent der in Ungarn verkauften Kinokarten gehen auf das Konto von Hollywoodproduktionen.

Das Medium Film stieß in Ungarn seit seinen Anfängen auf große Begeisterung. Bis 1919 entwickelte sich eine florierende Filmindustrie. Nach Machtantritt des faschistischen Horthy-Regimes emigrierten in den 20er-Jahren scharenweise ungarische Filmpioniere nach Amerika und waren am Aufbau der Filmindustrie Hollywoods wesentlich beteiligt. Der Ungar Adolph Zukor begründete die Paramount Pictures, William Fox die 20th Century Fox. Auch Tony Curtis und Paul Newman haben ungarische Vorfahren.

In den 30er-Jahren konnte das Vakuum, das infolge des Weggangs dieser wichtigen Filmpioniere entstanden war, durch eine gut organisierte Tonfilmindustrie gefüllt werden. Allerdings waren die meisten der in dieser Zeit gedrehten Filme Komödien der eher seichteren Art mit Stars wie Marika Rökk, Géza von Cziffra und vielen anderen.

Bereits 1948 wurde der ungarische Film verstaatlicht und fortan in den Dienst des staatlichen Propagandaapparates gestellt. In den 60er- und 70er-Jahren lockerte sich jedoch in Ungarn die politische Atmosphäre. Der ungarische Film gehörte zu denjenigen Künsten, die am weitesten gehen durften in der Kritik am sozialistischen System. Ganz frei war er dennoch nicht. Denn die Filmschaffenden produzierten ihre Filme im Rahmen der gut organisierten und recht großzügig dotierten Filmfabrik, die aber immer noch Teil des staatlichen Systems blieb. "Bei Bedarf" wurden dort die Drehbücher zensiert.

Die Wende war für die ungarischen Filmemacher bei aller Freude auch ein gewisser Schock. Die so genannte Blumensprache (verklausulierte Sprache, "durch die Blume") war unnötig geworden. Es musste eine neue Filmsprache gefunden werden. Im Gegensatz zur sozialistischen Zeit, als die Filme noch vom Staat bezahlt worden waren, fehlten zu Beginn der 90er-Jahre auch die Finanzierungsmöglichkeiten. Darauf waren wenige Filmschaffende gefasst. Eine Reihe von talentierten Filmemachern kam mit den neuen Erfordernissen der freien Marktwirtschaft nicht zurecht und wanderte in andere Berufe ab. Sie inszenierten im Theater, machten Werbung oder eröffneten Kneipen. So kommt es nahezu einem Wunder gleich, dass das ungarische Filmfestival dennoch jedes Jahr durchgeführt wurde und dass dem enormen Geldmangel zum Trotz jährlich mindestens 20 Spielfilme produziert werden konnten.

Die Zukunft stimmt optimistischer. Beim letztjährigen Filmfestival im Februar 2003 kündigte der damalige Kulturminister György Görgey an, dass sich die Filmförderung bis zum Jahre 2006 verdoppeln würde. Im Dezember 2003 wurde das erste Filmgesetz verabschiedet, das die staatliche Filmförderung verankerte und dem Film eine finanzielle Grundlage von rund zehn Milliarden Forint (rund 40 Millionen Euro) zusicherte. Seither wächst die Bereitschaft der Filmemacher wieder, sich neu zu formieren und Produktionsstätten und -kollektive zu gründen. Großes künstlerisches Potential gibt es in Ungarn auf jeden Fall. Istvàn Szabò, Miklòs Jancsò, Màrta Mészàros gehören zu der älteren Generation derjenigen ungarischen Regisseure, deren Filme auch im Westen gezeigt wurden. Von der jüngeren Generation sind Béla Tarr und Peter Gothàr die bekanntesten Vertreter.

Zwei der beim diesjährigen Filmfestival gezeigten Filme seien erwähnt. Der neueste ungarische Publikumserfolg ist "Kontrolle" von Nimròd Antal. Der Film spielt ausschließlich in der Schattenwelt der Untergrundbahn. Antals 20-jähriger Held Bulcsù versteckt sich in der Metro vor der Welt und fristet als Fahrkartenkontrolleur, einer allseits geächteten Berufsgattung, sein hartes Leben. Der Umgang mit respektlosen Schwarzfahrern, Bandenkämpfe und lebensgefährliche Wettläufe entlang der Metro gehören zur Tagesordnung. Rauschhafte Neon-Beton-Tunnel-Bilder von Kameramann Gyula Pados führen wie durch einen Alptraum.

Altmeister Miklòs Jancsò, inzwischen 83 Jahre alt, wartet mit einer quirligen Umarbeitung der ungarischen Geschichte auf ("Die Schlacht bei Mohàcs"). Kapa und Pepe, ewige Politclowns von Jancsò, werden mit Hilfe einer Zeitmaschine ins Jahr 1526 zurückbefördert. Damals verloren die Ungarn trotz ihrer Übermacht die Schlacht gegen die Türken unter Suleiman wegen heftigen Regens. Ihre Wagen versanken im Schlamm. Jancsò dreht das Rad zurück; die Ungarn siegen. "Das heißt: Null Türken, Null Habsburger, Null Faschisten, Null Russen". Weltweite Lingua Franca wird Ungarisch... .

Eine wichtige Einnahmequelle für die ungarische Filmindustrie ist die Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern. Meisterhafte Kameraleute wie beispielsweise Oscarpreisträger Lajos Koltai oder Elemér Ragàly haben den guten Ruf der ungarischen Filmschaffenden in die Welt getragen. Die ungarische Filmbranche hat reiche Erfahrung bei internationalen Koproduktionen. Yves Simoneaus epischer Film "Napoleon" mit Gérard Dépardieu, Christian Clavier, John Malkovich und Isabella Rossellini in den Hauptrollen war mit einem Budget von 50 Millionen Euro eine der teuersten europäischen Produktionen der letzten Jahre. Er wurde 2001 in Ungarn gedreht. Popstar Madonna wurde 1996 als "Evita" von ungarischen Statisten bejubelt und schließlich durch Budapests Straßen zu Grabe getragen. Nach der Weigerung der Argentinier, den Film in Evita Perons Heimat drehen zu lassen, entdeckten die Filmproduzenten viele Ähnlichkeiten zwischen Buenos Aires und Budapest. In Ungarn produziert wurden auch die US-Kassenschlager "Spy Game", "Underworld", der Thriller "I Spy" mit Eddie Murphy und Peter Greenaways "Tulse Luper Suitcases". Brad Pitt hat ebenfalls schon in Ungarn gearbeitet, ebenso Robert Redford, Michael Jackson und Ralph Fiennes. Oscarpreisträger Istvàn Szabò dreht seine internationalen Koproduktionen oft in der Heimat.

Auf zwei neue internationale Koproduktionen, die von Eurimages gefördert werden, darf man besonders gespannt sein. Beispielsweise auf Béla Tarrs "London Man", ein ungarisch-französisch-deutsches Gemeinschaftswerk. Der Film ist eine Adaptation von George Simenons gleichnamigem Kriminalroman. Wie schon oft, arbeitet Tarr dabei mit dem ungarischen Schriftsteller Làszlò Krasznahorkai zusammen. Das Gespann hat einzigartige Filme mit einer besonderen meditativen Filmsprache ("Werckmeister Harmonien", "Satanstango") geschaffen. Tarr wurde dafür mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen bedacht.

Von Eurimages gefördert wird auch "Roman eines Schicksalslosen" (Koproduktion Ungarn-Frankreich-Deutschland) nach dem gleichnamigen Roman des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész. Die Dreharbeiten sind noch im Gange. Regie führt Lajos Koltai, István Szabòs hervorragender Kameramann. Es ist das erste Mal, dass Koltai selbst die Regie übernommen hat. Ennio Morricone komponiert die Musik. Am Film werden ungefähr 150 zumeist ungarische Schauspieler mitwirken. Das Produktionsbudget beläuft sich auf zehn Millionen Euro. Die Verfilmung dieses schwierigen Stoffes dürfte in jeder Beziehung eine Gratwanderung sein.

Kulturminister Istvàn Hiller stellte beim diesjährigen ungarischen Filmfestival im Februar in Budapest das neu verabschiedete zweite Filmgesetz vor. Er bezeichnete das am 1. April 2004 in Kraft getretene Gesetz als Kulturoffensive, die dem Film einen stabilen finanziellen Rahmen gibt, jedoch inhaltlich und politisch keinerlei Einfluss ausübt. Das Gesetz wurde von 18 Organisationen der Filmbranche in Form eines Roundtable erarbeitet und gutgeheißen, daher erfreut es sich großer Akzeptanz bei den Filmemachern.

Ungarn positioniert sich mit dem zweiten Filmgesetz als einer der weltweit attraktivsten Produktionsstandorte. Es geht um eine umfassende Strategie zur Förderung des Films, in der die ungarische Filmindustrie als ernstzunehmender Wirtschaftszweig betrachtet und der Eintritt in den audiovisuellen europäischen Markt vorangetrieben wird. Mittels eines Punktesystems werden die ungarische Beteiligung an der jeweiligen Koproduktion und damit die Höhe des gewährten Beitrages errechnet. In- und ausländische Sponsoren, die eine ungarische Koproduktion finanzieren, erhalten über einen dreijährigen Zeitraum einen Steuernachlass von 20 Prozent für in Ungarn ausgegebene Kosten. Außerdem erhalten ausländische Investoren einen zwanzigprozentigen Steuernachlass des für Ungarn vorgesehenen Budgets, wenn ein ungarischer Koproduzent beteiligt und ein ungarischer Verleiher angeschlossen ist.

Neben der Produktionsförderung ist auch die Förderung der Distribution, der Drehbuchentwicklung, der Filmarchivierung, der Filmforschung und der Ausbildung vorgesehen. Bisher betrugen die jährlichen Koproduktionsaufträge aus dem Ausland durchschnittlich 7 bis 9 Milliarden Forint (etwa 35 Millionen Euro). Man hofft, dass sich durch das neue Gesetz das Volumen der internationalen Koproduktionen verdoppelt. Dabei steht die ungarische Filmindustrie in harter Konkurrenz zu ihren Nachbarn. Tschechen und Rumänen haben den Ungarn schon mehrfach saftige Koproduktionsaufträge weggeschnappt. Die Rumänen sind wegen der niedrigeren Arbeitslöhne billiger, die Tschechen hingegen verfügen über sehr gute Infrastrukturen, beispielsweise das Filmstudio Barrandov bei Prag. Mit dem neuen Filmgesetz und der erweiterten Kapazität, sich auch finanziell an Koproduktionen zu beteiligen, könnten die Ungarn in Kürze den Vorsprung der Nachbarländer aufholen, denn an gut ausgebildeten Fachleuten und interessanten Drehorten mangelt es nicht. Auch die Infrastrukturen für internationale Koproduktionen sollen ausgebaut werden. Außerdem profitiert Ungarn ab 1. Mai 2004 nicht nur wie bisher vom Eurimages-Programm, sondern auch vom Media Plus-Förderungsprogramm der EU.

Susi Koltai lebt als freie Journalistin in Budapest und Zürich.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.