Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 17 / 19.04.2004
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Barbara Minderjahn

Ein Ansporn für die Verwöhnten im Westen?

Der gespannte Blick nach Ungarn, Slowenien und der Slowakei
"Guten Tag, meine Damen und Herren, ich bin der Kapitän und begrüße Sie an Bord. Auf dem Weg von Frankfurt nach Wien fliegen wir gerade über die Tschechische Republik." Nur in Gedanken ist es noch leichter, Grenzen zu überqueren und Zusammenhänge zu erkennen, als in der Luft. Wir springen daher gedanklich über den drei neuen EU-Ländern Ungarn, Slowenien, Slowakei ab. Denn dort gibt es viel zu entdecken.

Zum Beispiel Budapest oder Bratislava, zwei wunderbare und noch nicht zu sehr von Touristen überlaufene Hauptstädte, oder die ungarischen und slowakischen Provinzmetropolen Kosice, Pécs, Szeged oder Eger. Keiner dieser Orte ist so prominent wie Prag oder Warschau. Doch genau das macht einen Teil ihres Reizes aus. Die alten und historischen Cafés strahlen noch ein wenig von ihrem ursprünglichen Flair aus. Häuser, von deren Fassade der Putz blättert, bilden einen angenehmen Kontrast zur blendenden Pracht der restaurierten Altbauten. Studenten und viele andere junge Leute bevölkern die Kneipen und Kunstcafés. Echte Lebensfreude liegt über den Städten. Obwohl es den Menschen in allen drei Beitrittsländern meist schlechter geht als den Deutschen.

Die Arbeitslosigkeit ist trotz überdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum hoch, die Löhne vergleichsweise niedrig, und die Arbeitsbedingungen sind schlechter geregelt als hierzulande. Von einer 40- oder gar 38-Stunden-Woche können die meisten Angestellten nur träumen. Wer arbeiten kann, tut dies, egal wie hart die Bedingungen auch sein mögen. Viele Ungarn streiken zum Beispiel erst, wenn es darum geht, die gewohnte Umgebung für den Job zu verlassen. Ungarische Arbeitnehmer gelten als relativ immobil, weil sie es ablehnen, dorthin zu ziehen, wo ausländische Investoren ihre Produktionsstätten besitzen. Dafür nehmen sie andererseits in Kauf, mehrere Stunden täglich bis zur Arbeitsstelle unterwegs zu sein.

Einer der Gründe, warum sich die Menschen diesen Stress antun, ist die Bedeutung der Familie. Selbst alleinstehende, beruflich erfolgreiche Mittdreißiger scheuen sich, den Ort, in dem sie groß geworden sind, zu verlassen, um ihre Eltern nicht allein zu lassen. Viele, die zum Studium nach Budapest oder Pécs gegangen sind, kehren später zurück. Und sobald die jungen Berufstätigen ihre eigene Familie gegründet haben, verbietet ein handfestes Problem den Umzug: Die Großeltern kümmern sich, während die Eltern arbeiten, um die Kinder. Der traditionelle Familiensinn hat sich in Ungarn bis heute gehalten, nicht zuletzt weil man darauf angewiesen ist. Ähnlich ist es übrigens - im Vergleich zu Westeuropa - mit dem ebenfalls engen Verhältnis zwischen Freunden. Wer ein Haus bauen will, ruft selten Bauarbeiter und Handwerker, sondern versucht es selber. Familie, Freunde, manchmal sogar das ganze Dorf helfen unentgeltlich mit.

All das erleichtert den Alltag gerade dort, wo die Menschen wenig Geld haben, um ihr Leben unabhängig voneinander zu meistern. Abgesehen davon vermittelt diese gemeinschaftliche Lebensart aber auch eine enorme Wärme und Geborgenheit. In dieser Hinsicht könnte die westeuropäische Gesellschaft von den Gepflogenheiten in den neuen EU-Staaten lernen. Wie sieht es mit den anderen Eigenarten der Ungarn und ihrer Nachbarn aus?

Ein weiterer Grund für die starke Verhaftung in Dorf und Gemeinschaft ist die Scheu vor Neuem. Die Ungarn waren zwar wegen der Reisefreiheit die ersten, die noch zur Zeit des Kommunismus über die Grenze schauen durften. Kosmopoliten und offene Weltbürger sind auch sie dadurch jedoch nicht geworden. Der typische Ungar - den gibt es natürlich nicht, aber auch Stereotype haben ihre gewisse Berechtigung - isst noch immer am liebsten Braten oder Gulasch in all seinen Varianten, manchmal auch Wild mit hausgemachten Nudeln dazu. Und das, obwohl das Land in seiner Geschichte nicht nur österreichischen und türkischen Einflüssen ausgesetzt war. Die vielen Minderheiten beispielsweise hätten die kulinarische Tradition des Landes viel stärker beeinflussen können, wenn die Menschen in dieser Hinsicht offener wären. Doch gerade die Minderheiten leben unter sich. Es gibt ganze Doerfer, in denen deutsch, rumänisch oder serbisch gesprochen wird und sich alles um das kulturelle Erbe dieser Gemeinschaft dreht. Schon ein Dorf weiter haben die Bewohner von all dem keine Ahnung. Hinzu kommt der in allen drei neuen EU-Länder stark vorhandene Nationalismus und die damit verbundene Ausländerfeindlichkeit. Was wird aus dem Potential, das die Neuen in die EU mitbringen?

Nun gibt es Skeptiker und Optimisten, und beide haben in Bezug auf die EU-Erweiterung und die damit verbundenen Probleme und Chancen eine eindeutige Meinung. Die einen glauben beispielsweise fest daran, dass sich die Minderheitenfrage noch zu einem bedeutenden und bisher nicht geahnten Ausmaß ausweiten könnte. In Osteuropa leben sechs Millionen Roma. Viele von ihnen in den am 1. Mai beitretenden Staaten, Menschen, die in den ärmsten Verhältnissen leben, ohne Ausbildung und Beruf. Wenn sie überall hin reisen können, prophezeien die Skeptiker, wird das unser Sozialsystem gravierend verändern. Auch die alten EU-Staaten haben nicht so viel Geld, um diese Menschen zu integrieren. Zuerst wird die Kriminalität, dann Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit ausufern.

Dieses Problem sollte man nicht unterschätzen. Doch vielleicht bietet es ja genau den richtigen Anlass, um den Umbau der Gesellschaft, der sich im Moment so schwierig gestaltet, voranzutreiben, hoffen die Optimisten. Tatsächlich steht Deutschland zurzeit nicht allein mit dem Problem. Sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei hat die Bevölkerung in den vergangenen Monaten ähnlich wie in Deutschland oder Frankreich massiv gegen Reformen im Sozialwesen protestiert. Doch wenn gar nichts mehr geht, besinnen sich vielleicht Alle auf sinnvolle Maßnahmen. Im Alleingang scheinen die sozialen Probleme Europas jedenfalls nicht zu lösen zu sein. In der Slowakei beispielsweise haben Roma in vielen Städten bereits Geschäfte geplündert, nachdem die Regierung angekündigt hatte, die Sozialhilfe um 50 Prozent zu reduzieren.

Um zu einem gemeinsamen Ansatz zu kommen, müssten die Menschen im "alten" und "neuen" Europa allerdings beginnen, sich gegenseitig besser wahrzunehmen, als sie es bisher tun. So könnten die Bescheidenheit und der Ehrgeiz der Neuankömmlinge aus dem Osten ein Ansporn für die Wohlstandsverwöhnten im Westen sein, sich ebenfalls ein wenig mehr anzustrengen. Denn die besten Gesetze können Firmen nicht verbieten, dorthin zu gehen, wo fleißige Leute auf Arbeit warten. Die Vogel-Strauß-Mentalität hilft nicht weiter. Doch um dies zu erkennen, müss-ten die Betroffenen diejenigen kennen, mit denen sie um Arbeitsplätze konkurrieren.

Umgekehrt würde den Nationalisten in den aufstrebenden Staaten vermutlich sofort jede Gefolgschaft verweigert, sobald der Bevölkerung klar würde, wie sehr sie auf Ausländer, ihre Nachbarn und die EU angewiesen sind. Die Firmen, die sie ernähren, gehören, zumindest in Ungarn und der Slowakei, zum großen Teil Investoren aus dem Ausland. Gute Geschäfte machen sie allerdings nur, so lange das politische Umfeld stabil bleibt. Wir leben bald in einem größeren vereinten Europa. Doch zu viele machen ihre eigene Situation immer noch zum Maßstab aller Dinge. Dabei täten mehr Wärme, Zusammenhalt und Lebensfreude allen gut. Deshalb reicht der gedankliche Sprung in die drei neuen EU-Partner nicht aus. Manche Grenzen muss man mindestens einmal zu Fuß überschreiten.

Barbara Minderjahn ist Rundfunkjournalistin und freie Publizistin in Köln.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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