Auch ein Blick auf die Ergebnisse der psychologischen Forschung macht deutlich, dass eine positive kindliche Entwicklung keineswegs selbstverständlich ist. Die Prävalenzrate für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen liegt je nach Literaturübersicht zwischen 17 und 27 Prozent (Anderson & Werry, 1994). Externale Störungen (oppositionelles, aggressives und dissoziales Verhalten) treten häufiger bei Jungen auf, internale Störungen (sozialer Rückzug, ängstlich/depressive Befindlichkeit, körperliche Beschwerden) und Essstörungen häufiger bei Mädchen. Insbesondere aggressives Verhalten scheint über den Entwicklungsverlauf sehr stabil zu sein, das heißt viele der betroffenen Kinder behalten diese Auffälligkeiten von der Kindheit bis in das frühe Erwachsenenalter bei.
Um Fehlentwicklungen vorzubeugen, Eltern und Erzieher zu entlasten sowie die beträchtlichen Folgekosten jugendlicher Verhaltensauffälligkeiten in den Griff zu bekommen, wird es immer wichtiger, präventiv zu arbeiten und nicht erst dann zu handeln, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Ein Programm, mit dem in Australien seit Jahren erfolgreich präventiv gearbeitet wird und das seit 1999 rasch auch in Deutschland Verbreitung findet, ist Triple P.
Positives Erziehungsprogramm
Triple P (Positive Parenting Program) wurde in Brisbane, Australien, von Matthew Sanders und seinen Mitarbeitern an der Universität von Queensland am dortigen Parenting and Family Support Center als positives Erziehungsprogramm entwickelt (Sanders, 1998, 1999). Ziel ist es, Eltern günstiges Erziehungsverhalten nahe zu bringen und dadurch kindliche Verhaltensprobleme zu reduzieren beziehungsweise zu verhindern und vor allem die Entwicklung einer positiven Eltern-Kind-Beziehung zu unterstützen.
Unterschiedliche Eltern benötigen unterschiedliche Unterstützung, deshalb sind spezifische, auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Interventionen wichtig. Triple P umfasst verschiedene Interventionsangebote mit steigendem Intensitätsgrad, von Informationsbroschüren und -gesprächen über intensivere Beratungen, Elterntrainings bis hin zu therapeutischen Angeboten. Dabei wird ein präventiver Erziehungsansatz verfolgt mit dem Ziel, die Kindesentwicklung zu fördern und mit kindlichem Verhalten in einer konstruktiven und nicht verletzenden Art und Weise umzugehen. Grundlage dafür ist eine gute Kommunikation und viel positive Zuwendung, um das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen. Kinder und Jugendliche, deren Erziehung sich an den Prinzipien der positiven Erziehung orientiert, haben eine größere Chance, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ein positives Selbstbild aufzubauen. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie ernsthafte Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Probleme entwickeln.
Fünf Prinzipien bilden die Grundlage für eine positive Erziehung:
1. Für eine sichere und interessante Umgebung sorgen.
Unfälle zu Hause sind eine der häufigsten Ursachen für Verletzungen bei kleinen Kindern. Eine sichere Umgebung bedeutet, dass Eltern entspannter sein können, während ihr Kind ohne die Gefahr einer Verletzung "auf Entdeckungsreise" geht. Die Wohnung sollte für das Kind sicher sein (etwa gefährliche Dinge außer Reichweite stellen). Kinder brauchen eine interessante Umgebung, die viele Möglichkeiten zum Entdecken, Erforschen, Ausprobieren und zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten bietet. Kinder brauchen angemessene Beaufsichtigung. Dies bedeutet, zu jeder Zeit zu wissen, wo sich das Kind aufhält, mit wem es zusammen ist und was es tut.
2. Eine positive, anregende Atmosphäre schaffen.
Eltern müssen für ihre Kinder da sein. Dies bedeutet nicht, ununterbrochen mit dem Kind zusammen zu sein, sondern da zu sein, wenn es Unterstützung und Zuwendung braucht. Wenn sich das Kind an ein Elternteil wendet, sollte man seine Tätigkeit - wenn möglich - unterbrechen und mit ihm Zeit verbringen. Das Kind sollte beim Lernen ermutigt werden, Dinge selbständig auszuprobieren.
3. Konsequentes Erziehungsverhalten zeigen.
Wenn Eltern in ihrer Erziehung konsequent und vorhersehbar reagieren, lernen Kinder, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und Selbstdisziplin zu entwickeln. Konsequenz bedeutet, konstant zu handeln, sofort auf unangemessenes Verhalten zu reagieren und Kindern angemessenes Verhalten zu vermitteln. Die Individualität des Kindes kann so gewahrt bleiben. Verhält sich das Kind provozierend, sollten Eltern versuchen ruhig zu bleiben.
4. Realistische Erwartungen (an das Kind und sich selbst) aufbauen.
Kinder sind Individuen, die sich unterschiedlich schnell entwickeln können. Sie müssen einen gewissen Entwicklungsstand erreicht haben, bevor sie neue Fertigkeiten, wie das selbständige Anziehen oder Essen, erlernen können. Probleme können auftreten, wenn Eltern zu früh zu viel erwarten oder wenn sie glauben, ihr Kind müsste perfekt sein. Alle Kinder machen Fehler. Die meisten Fehler sind unbeabsichtigt.
Es ist für Eltern ebenso wichtig, realistische Erwartungen an sich selbst zu haben. Natürlich sollte man versuchen, das Beste zu geben, aber das Streben nach Perfektion wird lediglich zu Frustration und Überforderung führen.
5. Auch die eigenen (elterlichen) Bedürfnisse erfüllen.
Gute Eltern sein bedeutet nicht, dass man immer für die Kinder da sein muss. Wenn die eigenen Bedürfnisse nach Intimität, Partnerschaft, Erholung und Zeit für sich alleine erfüllt sind, kann man selbst ausgeglichener und geduldiger sein.
Erste Auswertungen
Kontrollierte Untersuchungen an der Universität Brisbane belegen die universelle Wirksamkeit von Triple P in seinen verschiedenen Angeboten. Es ließen sich positive Veränderungen innerhalb der Familie nachweisen. Es zeigten sich im Vergleich zu Wartelistenkontrollgruppen signifikant weniger beobachtete und berichtete Verhaltensprobleme der Kinder, ein geringeres Ausmaß an ungünstigem Erziehungsverhalten, eine höhere Erziehungskompetenz der Eltern sowie eine hohe Zufriedenheit mit dem Programm.
Die Ein- und Zwei-Jahresnachuntersuchungen zeigten auf, dass die Veränderungen im Verhalten der Kinder stabil blieben. In der Untersuchung des Gruppenprogramms wurde in einer Studie an N = 1673 Familien in East Perth (Westaustralien) der Anteil verhaltensauffälliger Kinder aus sozial schwachen Gebieten durch das Training um 50 Prozent gesenkt (Sanders, 1999).
Derzeit wird in einem breit angelegten, aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekt an der TU Braunschweig die Effektivität von Triple P in Deutschland untersucht. Erste Auswertungen zeigen beispielsweise eine hohe Zufriedenheit mit dem Programm, einen durch das Programm verringerten Anteil an klinisch auffälligen Kindern, Verbesserungen im kindlichen Verhalten (ängstliches, unsicheres, aggressives oder oppositionelles Verhalten) sowie einen Rückgang des ungünstigen und eine Zunahme günstigen Erziehungsverhaltens. Insgesamt schätzen 90 Prozent der Eltern die Qualität des Trainings als gut bis hervorragend ein und 82 Prozent empfinden das Angebot als hilfreich bis sehr hilfreich. Neben der positiven Bewertung des Kursangebots geben die Eltern auch Veränderungen durch das Training an. Über 90 Prozent meinen, dass das Programm ihnen dabei geholfen habe, besser mit dem Verhalten ihres Kindes umzugehen und mehr als zwei Drittel der Eltern schätzen das Verhalten ihres Kindes im Vergleich zu vorher als positiv verändert ein.
Insgesamt existiert mit Triple P ein wirksames Programm zur Unterstützung von Eltern bei der Kindererziehung und damit zur Prävention von Verhaltensproblemen. Alleine im vergangenen Jahr haben mehr als 25.000 Eltern deutschlandweit an einem Triple P Kurs teilgenommen, und die Nachfrage wächst stetig - viele empfehlen die Kurse begeistert weiter.
Kurt Hahlweg ist Professor für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Diagnostik an der TU Braunschweig. Yvonne von Wulfen ist Diplom-Psychologin, und Triple-P-Ausbilderin beim PAG Institut für Psychologie AG in Münster.
Weitere Informationen im Internet unter www.triplep.de oder bei der PAG Institut für Psychologie AG, Nordstraße 22, 48149 Münster, Tel. 02 51/51 89 41.