Einleitung
Spätestens seit der Arbeit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission gibt es die Vorstellung, dass sich Gesellschaften auf ähnliche Weise "heilen" lassen wie Individuen. Das Herausfinden und Benennen der Wahrheit soll zu Verzeihung und Versöhnung führen. Versöhnung hat dabei mehrere Dimensionen: die Versöhnung mit sich selbst, mit anderen Menschen und zwischen Gruppen. In der christlichen Religion resultiert Versöhnung aus der Vergebung durch Gott. In säkularen Gesellschaften sprechen wir von der politischen Dimension dieses Prozesses, wie ihn Hannah Arendt formuliert hat: "Gäbe es nicht eine Mitwelt, die unsere Schuld vergibt, wie wir unseren Schuldigern vergeben, könnten auch wir uns kein Vergehen und keine Verfehlung verzeihen, weil uns, eingeschlossen in uns selber, die Person mangeln würde, die mehr ist als das Unrecht, das sie beging."
Für die politische Dimension der Versöhnung nach dem Ende der DDR beschreibt der Theologe Ralf Wüstenberg die Einsicht in die Akten der Staatssicherheit als symbolische Handlung und Heilritual. Damit verbindet er eine Veränderung in der Gesellschaft, die sich über die Anerkennung des Einzelschicksals vollzieht. Die betroffene Person, welche die Akten einsieht, erlebt, dass ihr Anliegen von der Gesellschaft ernst genommen wird, indem diese die juristischen und räumlichen Möglichkeiten dafür schafft. Diese Integrationserfahrung bietet den Rahmen für die Konfrontation mit der Aktenwahrheit und der Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen. Damit soll das Loslassen und Reinigen von belastenden Erfahrungen erleichtert werden. Die Gesellschaft nimmt die Geschichte von Individuen in ihr soziales Gedächtnis auf und verändert sich. Die Vorstellung der Reinigung der Gesellschaft spiegelt sich in dem Begriff der "Lustration" wider, der die "Säuberung" der Gesellschaft durch die Überprüfung ehemaliger Parteikader und mit dem Geheimdienst verstrickter Personen meint, wie er z.B. im deutschen Stasi-Unterlagen-Gesetz geregelt ist.
Reichen Akteneinsichts- und Überprüfungsverfahren aus, damit sich eine Gesellschaft nach staatlich angeordneten Menschenrechtsverletzungen selbst "heilen" kann? Wie können neue Diktaturen verhindert werden? Um uns dieser Frage anzunähern, sollen Forschungsergebnisse aus der Untersuchung von Opfer-Täter-Gesprächskreisen nach dem Ende der DDR mit Prozessen persönlicher und gesellschaftlicher Heilung verglichen werden, wie sie in internationalen Opfer-Täter-Begegnungsprojekten praktiziert werden. Mein Vergleichskriterium ist der Transfer von Interaktionsprozessen in Täter-Opfer-Begegnungen auf die gesellschaftliche Ebene.
Politische Traumatisierung
Die Politische Traumatisierung betrifft in unterschiedlicher Weise Opfer und Täter politisch motivierter Gewalt. Diese wird dazu genutzt, politische Macht zu erlangen oder zu erhalten bzw. oppositionelle Kräfte zu schwächen. Die Traumatisierung besteht in dem psychischen und mentalen Fortleben der Extremerfahrung, die als Konfliktsituation nicht beendet werden kann. Unbearbeitete (intrapersonale und interpersonale) Konflikte werden innerhalb von Familien und anderen Formen des Zusammenlebens unbewusst an die nächsten Generationen weitergeben und brechen wieder auf. Die Generationsgrenzen verschwimmen, und die Nachkommen tragen an den Traumatisierungen ihrer Vorfahren. Die transgenerative Weitergabe politischer Traumata betrifft Opfer wie Täter und ihre Nachkommen gleichermaßen: Die einen quälen sich mit belastenden Erinnerungen, die anderen mit dem belastenden Gewissen. Wir unterscheiden die psychosoziale Traumatisierung von Opfern und die moralische Traumatisierung von Tätern. Politisch sind ihre Auswirkungen deshalb, weil es sich um kollektive Prägungen handelt, die sich in gesellschaftlichen Konflikten immer wieder neu aktualisieren können und somit nicht mehr das Problem von Einzelnen sind.
Die Begriffe "Opfer" und "Täter" sind Hilfskonstruktionen, weil eindeutige Zuschreibungen oft nicht möglich sind. In den meisten Konflikten sind die Beteiligten beides - passives Opfer und aktiver Täter. Gleichzeitig gibt es Opfer, die sich bewusst als Täter im Konflikt verstehen. Täter wiederum sind oft in anderen Beziehungen Opfer. Beide Seiten sind in die strukturelle Gewalt involviert gewesen. Die jeweiligen generationellen Prägungen führen dazu, dass sich Schicksalsgemeinschaften bilden. Beide Seiten der Schicksalsgemeinschaft hängen zusammen und durchlaufen dieselbe zeitgeschichtliche Situation.
Der Umgang mit Schuld und Traumatisierungen ist notwendig, um sich von den innerhalb der Schicksalsgemeinschaft festgefahrenen Täter- bzw. Opferrollen zu lösen. Einer konstruktiven Konfliktbearbeitung liegt ein psycho- und sozialdynamisches Verständnis zugrunde: Konflikte kehren immer wieder, solange sie nicht ausgetragen oder bearbeitet werden. Die Politische Traumatisierung der Opfer und der Täter betrifft in erster Linie die Störung sozialer Beziehungen. Auf der Opferseite geht diese Störung über die bekannte Posttraumatische Belastungsstörung hinaus: Das Vertrauen inBeziehungen ist grundlegend erschüttert. Das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins setzt sich in alltäglichen Beziehungen fort und äußert sich in Abgrenzungsschwierigkeiten, Impulsivität sowie Problemen im Umgang mit Ärger und Wut. "Ein Teil dieser Symptome wird in der Diagnose derandauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung zusammengefasst."
Die Täterschaft wird häufig erst nach dem Wechsel des politischen und rechtlichen Systems zum Thema. Taten, die im alten System legitimiert waren oder aus politischen Gründen nicht strafverfolgt wurden, gelten plötzlich als verwerflich. Die moralische Traumatisierung der Täter ist dadurch gekennzeichnet, dass das eigene Gewissen nach außen delegiert wird: "Die werden es schon wissen." Für jede Situation lässt sich immer jemand finden, der Verantwortung trägt oder tragen sollte. Die Politische Psychologie ortet beispielsweise in der Ausbildung von Folterern eine Traumatisierung, die das Foltern und Töten ermöglichen soll. Diese Form der Traumatisierung soll mit einbezogen werden, da es in der DDR regelmäßig zu Tötungen an der innerdeutschen Grenze kam und vor allem in den achtziger Jahren psychische Folterungen zum Machtmittel wurden. "Zersetzung" als Unterdrückungsstrategie war ein besonderes Merkmal der Staatssicherheit, z.B. durch "die Zerstörung des Privatlebens durch demonstrative Tag- und Nachtbeobachtungen, ständige telefonische Anrufe, Annoncenkampagnen, heimliche Hauseinbrüche und das Verstellen von Gegenständen, Beschädigung privaten Eigentums, Vortäuschung außerehelicher Kontakte, verdeckt organisierte Entfremdung der Kinder von den Eltern" . Eine andere Form der Täterschaft ist die Mittäterschaft im politischen Kontext. Die Willkür der eigenen Moral zeigt sich an Aussagen wie "Wir konnten nichts tun" und "Wie hättest Du denn gehandelt?". Mittäterschaft meint die Erfahrung der eigenen moralischen Beeinflussbarkeit und Gleichgültigkeit. Sie erscheint oftmals diffus und versteckt sich hinter der Kollektivschuld: Wenn alle "irgendwie" schuld sind, ist keiner "richtig" schuld.
Die politische Dimension dieser Mitschuld und damit moralischen Traumatisierung wird deutlicher, wenn man sich mit dem Phänomen der Staatskriminalität beschäftigt. Staatskriminalität ist die Bezeichnung für systemimmanente Kriminalität, die der Herrschaftssicherung diktatorischer Systeme dient. Damit werden systematische Menschen- und Bürgerrechtsrechtsverletzungen durch politische Willkür legitimiert, die nicht als Straftaten verfolgt werden - selbst wenn es innerhalb der Gesetzlichkeit möglich wäre. Zu nennen sind Menschenrechtsverletzungen wie Mord, Entführung und Zwangsadoption. Zur Staatskriminalität zählen alle Formen der politischen Verfolgung. Dies betrifft auch Akteure, die in öffentlichen Behörden angestellt sind und ihre Funktion gebrauchen, um Entscheidungen über andere zu treffen, welche wiederum nach dem Machtwechsel als politische Verfolgung, als Verletzung von Menschenrechten gelten.
Die Täter- und Mittäterschaft von Staatskriminalität kann bisher kaum angeklagt und verurteilt werden. Die ethisch-zivilgesellschaftliche Ausrichtung der Systemumbrüche in Ostmitteleuropa hatte die Ablehnung von Tribunalen zur Folge, die das Rückwirkungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 7, Abs. 1) umgehen würden: "Gemäß dem Prinzip des Rechtsstaats darf man keinesfalls die rückwirkende Kraft eines Gesetzes akzeptieren, die Kollektivschuld, die Aberkennung des Rechtes, sich zu verteidigen, die Nichtbefolgung von Vorschriften; daher ist das Prinzip der Unschuldsannahme unantastbar."
Die Tribunaldiskussion nach dem Ende der DDR führte dazu, dass zumindest die Todesschüsse an der Mauer laut Bundesverfassungsgericht als derart unerträgliches Unrecht gelten, dass es gerechtfertigt erscheinen lasse, das Rückwirkungsverbot zu umgehen. Die Todesschüsse werden sowohl als Verstöße gegen die Menschenrechte als auch gegen DDR-Recht verstanden. Andere Staaten haben einen überraschend einfachen Ausweg aus dem Dilemma des Rückwirkungsverbotes gefunden: 1994 in Tschechien und 1997 in Polen wurde die generelle Nichtverjährbarkeit von Staatskriminalität, Straftaten von öffentlichen Funktionsträgern, in der Verfassung wie im Strafrecht eingeführt: "Jeder, der eine wichtige politische Funktion übernimmt, tut dies mit dem vollen Wissen und Willen ganzer Verantwortlichkeit." "Diese Regelungen sollen den Amtsträgern vor Augen führen, dass Menschenrechtsverletzungen, die im Amt begangen werden, nicht ungeahndet bleiben werden." Polen und Tschechien haben mit diesem weltweit einmaligen Schritt gezeigt, dass es möglich ist, den bestmöglichen staatlichen Schutz vor staatsgestützten Menschenrechtsverletzungen in Verfassung und Strafrecht festzuschreiben. Diese Regelung ist eine nicht zu unterschätzende Rahmenbedingung für das Heilen von Gesellschaften und sollte daher über die Europäische Verfassung in die nationalen Gesetzgebungen einfließen.
Kirchliche Gesprächskreise und Täter-Opfer-Ausgleich
Zur Wiederherstellung zerstörter sozialer Beziehungen bildeten sich nach dem Ende der DDR einige wenige Gesprächskreise, in denen sich ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit mit Bürgerrechtlern, politisch Verfolgten und Interessierten an einen Runden Tisch setzten, der von Pfarrern moderiert wurde. Solche Projekte fanden in Berlin, Dresden, Leipzig und Schwerin statt. Das Museum Haus am Checkpoint Charlie lud zu öffentlichen Täter-Opfer-Gesprächen ein. Hier gab es bei jedem Treffen unterschiedliche Akteure, so dass sich kaum ein Gruppenprozess entwickeln konnte, zumal die Anwesenheit der Medien immer wieder zu Eskalationen um Selbstdarstellungen führte. Meine Studie konzentriert sich deshalb auf Gesprächskreise, in denen ein kontinuierlicher Gruppenprozess stattfand. Der besondere protestantische Charakter der DDR-Revolution 1989 führte dazu, dass sich solche Projekte vorwiegend im kirchlichen Raum bildeten, von denen ich zwei in Fallstudien untersucht habe. Meine Studie sowie der Vergleich mit dem Täter-Opfer-Ausgleich sind diskursanalytisch angelegt.
Ein Vergleich der beiden Formen der Opfer-Täter-Begegnung zeigt, dass sich bei den Opfer-Täter-Gesprächskreisen der Diskurs auf die Täter konzentriert, während im juristisch klar definierten Täter-Opfer-Ausgleich die Tat im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Worin ist diese Unterschiedlichkeit begründet? Im Gegensatz zu den Opfer-Täter-Gesprächskreisen ist der Täter-Opfer-Ausgleich eine Regelung im Rahmen des Strafrechtes. Unter Einbeziehung der Perspektive der Opfer soll in Zusammenarbeit mit dem Täter, dessen Tat ermittelt und verurteilt wurde, eine Wiedergutmachungsleistung erarbeitet werden. Dabei geht es um die freiwillige Übernahme von Verantwortung und den materiellen sowie immateriellen Tatfolgenausgleich, der eine Entschuldigung, ein Geschenk, Schmerzensgeld, Schadensersatz sowie Arbeitsleistungen bis zu gemeinsamen Aktivitäten mit dem Opfer umfassen kann. Vermittelt wird der Täter-Opfer-Ausgleich von beruflich dafür qualifizierten Mediatorinnen und Mediatoren. Sie haben auf das Ausbalancieren von Ungleichgewichten zwischen den Akteuren und auf Fairness zu achten. Der Täter-Opfer-Ausgleich ist mit dem gemeinsamen und aktiven Wiederherstellen von Moral im Sinne von Rechtsempfinden und Gerechtigkeit verbunden. Die Tat wird in ihren Folgen für das Opfer sowie in der möglichen Wiedergutmachung verhandelt. Die gesellschaftliche Dimension dieses Prozesses liegt darin, dass die Beteiligten eigenverantwortlich, partizipativ und gemeinsam versuchen, das gebrochene Recht wiederherzustellen. Dieser Prozess bedeutet deshalb eine Stärkung des demokratischen Rechtsstaates.
Bei den Opfer-Täter-Gesprächskreisen ist keine eindeutige Tat oder Schuld ermittelbar, was am subtilen Charakter der Staatskriminalität und ihrer Nichtverhandelbarkeit aufgrund des Rückwirkungsverbots liegt. Die Gesprächskreise vermeiden daher eine Zuschreibung von Opfer- und Täterschaft. Gleichzeitig sind die Täter diejenigen, um die sich der Diskurs dreht. Zum einen sind sie die Personen mit den interessanteren Biografien, zum anderen sind sie im christlichen Kontext die Sünder, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Die Aktualisierung gemeinschaftlicher Werte, die sich beim Täter-Opfer-Ausgleich auf der Moral- und Rechtsebene bewegen, erhält bei den Gesprächskreisen eine andere Richtung. Hier geht es um den Moralaspekt Idealismus. Dazu passt die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Aussagen der Bibel und des Kommunistischen Manifestes und die Überzeugung, dass diese Ideale von Staat, Regierung und Partei missbraucht wurden. Neben der Anerkennung ihrer Ideale gelingt es der Täterseite, den von den Pfarrern angebotenen Versöhnungsdiskurs zu vereinnahmen und mit Rechtfertigungs- und Legitimierungsdiskursen zu verknüpfen. Zahlreiche Betroffene haben es nicht ausgehalten, sich in dieser Atmosphäre auf die Opfer-Täter-Begegnung einzulassen.
Trotz der Dominanz der Täterseite lässt sich darauf schließen, dass einige Teilnehmende einen neuen Umgang mit der Täter-Opfer-Problematik im Sinne von konstruktiver Konfliktbearbeitung gewonnen haben. Wenn Opfer beschreiben, dass die Täterseite für sie "ein Gesicht" bekommen hat und dadurch Angstzustände abgebaut werden konnten, oder wenn Täter durch die Konfrontation mit den Opfern ihre eigene Verantwortlichkeit im DDR-System erkennen und formulieren, dann sind das positive Heileffekte. Die Dominanz der Täterseite und das vordergründige christliche Versöhnungsangebot verhinderten, dass zu tief in emotional belastende Erfahrungen eingedrungen wurde. Die Erfahrungen wurden diskutiert - mit dem Angebot der christlichen Versöhnung, sich in der persönlichen Begegnung einzulassen auf Prozesse, zu denen auch Rechtfertigungsstrategien gehören, ja, sie sind ausdrücklich zugelassen.
Der kirchliche Raum bot mit den Gesprächskreisen einen autoritativen Rahmen für säkulare Menschen, um sich mit Verantwortung zu beschäftigen. Die Wiedergutmachungsleistung war hier schon der zwischenmenschliche Kontakt, der Begegnung als Menschen und nicht als Feinde möglich macht. Damit konnten gemeinschaftliche Prozesse in Gang gesetzt werden, die durchaus Heileffekte haben können - im Sinne einer Beruhigung oder Milderung der politischen Traumatisierungen und im Sinne der Versöhnung mit sich selbst (und Gott). Die religiöse Versöhnung suggeriert Symmetrie, sie beendet aber nicht die transgenerative Weitergabe von politischen Traumatisierungen. Um in die Gesellschaft hineinwirken zu können, sind Veränderungen auf der Ebene der kollektiven Identitäten nötig.
"To Reflect And Trust"-Gruppen
Wenn es bei den Opfer-Täter-Gesprächskreisen um eine Milderung der Politischen Traumatisierungen ging, wie könnte ihre gesellschaftlich wirksame Bearbeitung aussehen? Einen Weg weisen die um den israelischen Psychologen Dan Bar-On entstandenen "To Reflect and Trust" (TRT)-Gruppen. Sie entstanden aus der Arbeit mit Nachkommen von NS-Tätern und Nachkommen von Überlebenden des Holocaust, die gemeinsam versuchten, ihre Politischen Traumatisierungen aufzuarbeiten. Dabei ist auffällig, "dass die Gruppe das Konzept der Versöhnung ablehnte und die Begriffe Vertrauen und Nachdenken wählte, um die Gruppenarbeit zu beschreiben. Auch die Frage der Vergebung stellte sich in den Gruppendiskussionen nie. Das lässt sich unter anderem damit erklären, dass Versöhnung und Vergebung ein Durcharbeiten und nicht bloßes Reden erfordern. Die Begriffe Versöhnung und Vergebung sind über Generationen hinweg mit tiefreligiösen Bedeutungskonstruktionen aufgeladen worden, die für Unterschiede und sozialen Ausschluss plädieren statt für die Überbrückung der Unterschiede und sozialen Einschluss."
Bar-On grenzt sich von dem Diskutieren ab, das die Pfarrer der Gesprächskreise moderiert haben. Während er auf die emotional schmerzhafte Identitätsveränderung von Opfern und Tätern zielt, versuchten die Gesprächskreise, diesen Weg indirekt zu erreichen. Die TRT-Gruppen haben sich das Ziel gesetzt, über die Opfer-Täter-Begegnung Veränderungen kollektiver Identitäten zu erreichen: "Wer bin ich, wenn ich kein Opfer/Täter bin?" Eine Skalierung der Opfererfahrungen steht diesem schmerzhaften Prozess im Wege. Statt der üblichen eindimensionalen Identifikation mit den Opfern ist der innere und äußere Dialog von Opfern und Tätern das Ziel. Dabei werden die vorhandenen Asymmetrien nicht aufgelöst, aber es entstehen neue Symmetrien im Dialog. Dies geschieht durch das Erforschen der beschwiegenen persönlichen Familien- und Gesellschaftsgeschichten. Bar-On zeigt die Verbindung von vergangenheitspolitischen Diskursen und Gruppendiskursen auf, während in der Opfer-Täter-Gruppe erst ein eigener Diskurs gefunden werden musste. Davor lag die Auseinandersetzung "mit dem gesellschaftlichen Schweigen und dem durch die traumatische und moralische Last der Vergangenheit verfälschten (Schein-) Diskurs" . Bar-On spricht vom paradoxen Diskurs, der dadurch bestimmt ist, dass erzählte Geschichten die Funktion haben, das Beschweigen bestimmter Tatsachen und Erlebnisse zu maskieren. Über die Auseinandersetzung mit den kollektiven Erinnerungen und dem sozialen Gedächtnis verändern sich die kollektiven Identitäten der Teilnehmenden. Dies hat zur Folge, das viele der Teilnehmenden zu Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden, die weltweit in der Friedensarbeit versuchen, mit persönlicher Geschichte politischen Feindschaften zu begegnen, z.B. im Israel-Palästina- oder im Nordirland-Konflikt.
Die TRT-Gruppen kommen in der Täter-Opfer-Begegnung über das Durcharbeiten kollektiver Identitäten zu einer Form der Friedens- und Menschenrechtsarbeit, die eine andere gesellschaftliche Dimension der Gewaltbearbeitung als der Täter-Opfer-Ausgleich aufweist. Die Bearbeitung Politischer Traumatisierungen, die mit persönlicher und gesellschaftlicher Heilung einhergeht, kann Versöhnung bewirken und die transgenerative Weitergabe von Traumata über die Bewusstmachung dieser Zusammenhänge beenden. Eine Versöhnung ohne diese Prozesse der Heilung und der Auseinandersetzung mit und Veränderung von gesellschaftlichen Vergangenheitsdiskursen kann zwar eine Beruhigung der Politischen Traumatisierung bewirken; sie bleibt dann aber der Ebene der Versöhnung mit sich selbst verhaftet, mit der eigenen Opfer- oder Tätergeschichte, und nutzt nicht das Potenzial zur Veränderung von gesellschaftlichen Legitimierungen politischer Gewalt. Eine wesentliche Rahmenbedingung, um solche Prozesse anzustoßen, wäre die generelle Unverjährbarkeit von Staatskriminalität.