Die meisten Bücher, die damals entstanden, widerspiegeln die Trendwende. So gesehen haben es heutige Historiker leichter. Sie können ohne Rücksicht auf die Aufgeregtheiten der Zeit Ihrem Metier nachgehen und wie Kunisch zu einem weitgehend ausgewogenen Urteil kommen.
Johannes Kunisch war vor seiner Emeritierung Professor für Neuere Geschichte an der Universität Köln. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Arbeiten über den europäischen Absolutismus und die Kriege dieser Epoche. Die Welt, in die Friedrich II. eingeordnet werden muss, ist ihm wohlvertraut. Das schärft seine Urteilsfähigkeit. Hinzu kommt, dass es über kaum eine andere Persönlichkeit so viel Literatur und so viele Quelleneditionen gibt.
Nicht die Suche nach neuem Material betrachtet Kunisch daher als seine Aufgabe. Er will den "Wissensvorrat" über den König zusammentragen und ihn nach heutigen "Erkenntnisinteressen" bewerten. Den Leitfaden dafür liefern ihm weniger die Fakten, sondern Funktion und Bedeutung, die ihnen heute im Prozess des Erinnerns zugemessen werden.
Kunisch folgt anfangs der Chronologie, bricht aber schon am Ende des ersten Kapitels mit dem für eine Biographie klassischen Prinzip. Zwischen Kronprinzenzeit und Inthronisation 1740 fügt er den Exkurs "Land und Leute" ein, der den Leser mit den politischen und sozialen Bedingungen in Preußen vertraut machen soll.
Ein berechtigtes Anliegen, wären damit nicht Vorgriffe auf die Regierungszeit verbunden. Dabei schwört Kunisch auf das "Kontinuum der Lebensabläufe". So beginnt er denn mit der bittersten Phase im Leben des Monarchen, die vom Vater-Sohn-Konflikt dominiert wurde. Nicht deren Ursachen interessieren den Autor in erster Linie, sondern die Folgen der Misshandlungen und Demütigungen, weshalb Kunisch auch neuere psychoanalytische Literatur heranzieht.
Glück in Rheinsberg
Auf die schlimmsten Jahre des Kronprinzen folgten die schönsten, die Zeit in Rheinsberg. Hier konnte er, ohne Eingriffe des Vaters befürchten zu müssen, seinen Neigungen nachgehen. Hier begann er auch, sich ernsthaft mit Philosophie zu befassen und Beziehungen zu französischen Aufklärern zu knüpfen. All das ist nicht neu, wurde jedoch bisher selten in einer solchen Fülle beschrieben. Dadurch kommt der Leser zwangsläufig zu dem Schluss, dass hier ein Monarch heranwächst, dem die geistige Entwicklung seiner Epoche nicht fremd ist.
Welchen Platz er in ihr einzunehmen gedachte, lässt sich der Analyse von zwei Schriften entnehmen, den "Considérations sur l'état présent du corps politique de l'Europe" und dem "Antimachiavell". Schon damals setzte Friedrich II. auf Krieg, während er gleichzeitig Herrscher anprangerte, die ihr Volk bedrücken. Kunisch hegt völlig zu Recht keinen Zweifel daran, dass Friedrich II. die Fackel des Krieges ergreifen wird, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Und er konstatiert die Widersprüchlichkeit seines Charakters, die vor einiger Zeit noch von deutschen Historikern in Abrede gestellt wurde.
Ein Manko des Buches
Kunisch wendet sich im zweiten Kapitel gleich den Schlesischen Kriegen zu, ohne die ersten Regierungsmaßnahmen zu benennen. Überhaupt entsteht schon hier der Eindruck, dass er der Außenpolitik mit ihren drei Kriegen und der Teilung Polens mehr Aufmerksamkeit schenkt als der inneren Entwicklung Preußens. Eine grobe Schätzung der quantitativen Proportionen von Außen- und Innenpolitik, allerdings unter Nichtbeachtung persönlicher Beziehungen und künstlerischer Neigungen, ergibt ein Verhältnis von etwa 240 zu 85 Seiten. Das hängt sicher damit zusammen, dass Kunisch ein erstklassiger Kenner der europäischen und der Kriegsgeschichte ist, bleibt aber trotzdem ein Manko.
Der Grundtenor des Verfassers bei der Schilderung der Kriege ist ein kritischer. Auch das war in der deutschen Geschichsschreibung nicht immer so. Kunisch negiert die erbrechtlichen Ansprüche Preußens auf Schlesien und spricht von Aggression und Raubgier, von Machtkalkül und Ruhmsucht. Auf Friedrichs Haupt komme das Blut, das in den beiden Schlesischen Kriegen vergossen wurde. Schon hier, aber in noch viel stärkerem Maße beim Siebenjährigen Krieg, schreibt Kunisch keine bloße Kriegsgeschichte.
Obwohl er die Kriegsziele des Monarchen analysiert, dem Ablauf der militärischen Auseinandersetzungen folgt und die Schlachten mit ihren ungeheuren Opfern schildert, dominiert der biographische Aspekt. So beschreibt er die persönlichen Empfindungen des Feldherrn, der Phasen tiefer Depressionen durchlebte und sogar an Selbstmord dachte. Auch die Finanzierung des Krieges auf Kosten seiner Gegner sowie die fiskalischen Maßnahmen im Lande, die den Ideen der Aufklärung widersprachen, wird man hier einordnen müssen.
Die gleichen Prinzipien wendet der Autor dann auch bei der Behandlung des Siebenjährigen Krieges an, wobei er die Einschätzung desselben als Präventivkrieg relativiert. So spricht er, im Anschluss an Johannes Burkhardt, vom "Staatsbildungskrieg", andererseits vom Hegemonialkrieg zwischen Österreich und Preußen sowie England und Frankreich. Doch zieht sich der Gedanke an einen Präventivkrieg durch das ganze Kapitel.
Ziemlich am Ende fragt Kunisch, ob durch die überragende Erscheinung des Königs als Feldherr der Fortbestand des Hauses Brandenburg auf der Grundlage des Status quo ante erklärt werden kann. Seine Antwort ist bejahend, auch wenn er Friedrichs Gegner, den Österreicher Kaunitz, bemüht, der auf die Kriegskunst Friedrichs und einiger Generale verweist.
Für die Zeit zwischen Schlesischem und Siebenjährigem Krieg geht Kunisch auch auf die Bautätigkeit des Monarchen, die Justizreform sowie die Tafelrunde ein. Eine Abhandlung dieser Themen halte ich für wichtig. Sie haben einen Bezug zum König, aber es fehlen vom Standpunkt der Chronologie andere, nicht weniger bedeutende Aspekte. Auch wenn Kunisch im Exkurs "Land und Leute" über die Meliorations- und Kultivierungsmaßnahmen ein paar Bemerkungen macht, hier im Kapitel über die Zwischenkriegszeit wäre ihr eigentlicher Platz gewesen, ging es dem König doch darum, Menschenverluste auszugleichen und durch den Krieg entstandene Schäden zu beseitigen. Nicht zufällig nahm er 1747 die traditionelle Politik der Hohenzollern wieder auf, Einwanderer ins Land zu locken. Auch die Arbeiten zur Entwässerung des Oderbruchs fallen in diese Zeit.
Friedrich II., der mehr und mehr vereinsamte, konnte nach dem Siebenjährigen Krieg an diese Maßnahmen anknüpfen. Um die immensen Menschenverluste auszugleichen und die Schäden im Lande möglichst rasch zu überwinden, setzte er das Retablissement fort wie die Kultivierung ganzer Landstriche. Dazu brauchte er Einwanderer. Sogar an die Aufhebung der Leibeigenschaft dachte er damals. Doch blieb es aus Rücksicht auf den Adel bei der Absicht. Insofern ist nicht recht zu verstehen, warum Kunisch Friedrichs Erklärungen zumindest von der Intention her als Eingriff in das bestehende Sozialgefüge betrachtet. Das Allgemeine Landrecht, dessen Entwurf seit 1784 zur Diskussion stand, ging ja noch von der rechtlichen Fixierung derselben aus.
Theorie und Praxis
Auch das Urteil des Verfassers über die Gewerbeentwicklung teile ich nicht. Natürlich stammte vom König, wie Kunisch feststellt, kein "theoretischer Vorentwurf". Aber braucht es einen solchen? Etwa eine ausgereifte merkantilistische oder physiokratische Schrift? Nach dem Siebenjährigen Krieg kam es zu Auseinandersetzungen zwischen bürgerlichen Kräften, Beamten und dem Monarchen, die Rückschlüsse auf Friedrichs Ansichten erlauben. Ein König verfasst in den seltensten Fällen theoretische Arbeiten, er regiert. Der Preußenkönig hat beides getan.
Geht es um die Wirtschaftspolitik, wird man Quelleneditionen wie die Acta Borussica zu Rate ziehen müssen. Friedrich II. wurzelte im Merkantilismus, allerdings ohne genauere Kenntnis bestimmter Verfechter dieser Lehre. Anregungen für die von ihm verfolgte Linie entnahm er der Praxis anderer absolutistischer Staaten, vor allem Frankreichs.
Wie verhält es sich nun nach der Lektüre der umfangreichen, brillant geschriebenen Biographie mit der Aufgabe, die sich Kunisch selbst gestellt hat? Hat er den "Wissensvorrat" für sein Werk zusammengetragen? Ja, in hohem Maße. Doch gibt es Studien und Bücher auch neueren Datums, die man vermisst. Sie befassen sich mit der Wirtschaftsentwicklung in Stadt und Land, lassen folglich Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Preußen zu.
Und wie steht es mit den heutigen "Erkenntnisinteressen", die der Autor benennt? Das, was Kunisch über Krieg und Frieden schreibt, überzeugt nicht nur durch seine Kompetenz, sondern auch durch die kritische Betrachtungsweise. Meinem "Erkenntnisinteresse" entspricht er damit wiederum in hohem Maße. Gleiches kann ich nicht sagen, wenn es um die Wirtschaft geht. Hat der König mit seinen halbherzigen Maßnahmen den Boden für eine Entwicklung bereitet, welche die Niederlande, England und Amerika bereits beschritten hatten und die sich in Kürze auch in Frankreich Bahn brach? Darauf nämlich bezieht sich mein "Erkenntnisinteresse". Doch wird es wohl kaum eine Zeit geben, in der die Menschen gleiche Interessen an geschichtlichen Abläufen entwickeln.
Johannes Kunisch
Friedrich der Große. Der König und seine Zeit.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 624 S., 29,90 Euro
Die Autorin ist Historikerin; sie hat viele Jahre an der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet. Ihr Buch "Friedrich II." von 1979 hat seinerzeit die politische und wissenschaftliche Diskussion in Ost und West über Politik und Wertung des Preußenkönigs maßgeblich beeinflusst.