Mehr Entschlossenheit, mehr Mut, mehr Geduld - das fordern Bundespräsident Horst Köhler und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse von den Deutschen. Ihre Reden zum Tag der Deutschen Einheit und zum Jahrestag der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig hatten die gleiche Botschaft: Nicht nur der Osten, sondern ganz Deuschland müsse sich auf grundlegende Veränderungen einstellen.
In seiner Rede zum zentralen Festakt am 3. Oktober in Erfurt rief Köhler seine Landsleute auf, mehr für das Gemeinwohl zu tun und überzogenes Anspruchsdenken aufzugeben. Der Staat solle nicht alles Mögliche, sondern alles Nötige tun und sich darauf konzentrieren, was wichtig sei: für bestmögliche Rahmenbedingungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen sorgen. Um dies zu erreichen, müsse es einen radikalen Abbau von Bürokratie und Vorschriften geben: "Und wenn wir es nicht schaffen, gleich ganz Deutschland von dem Wust zu befreien, dann sollten wir das mindestens den neuen Ländern erlauben." Die Aufbauarbeit müsse weitergehen. Deshalb dürfe auch niemand den Solidarpakt II in Frage stellen - es müsse jedoch geprüft werden, ob Fördergelder nicht sinnvoller eingesetzt werden könnten. Sie seien für Investitonen da und nicht für Konsum oder Verwaltung. Köhler würdigte den Mut derer, die 1989 an den Montagsdemonstrationen teilgenommen und dabei ihr Leben in Gefahr gebracht hatten. Damit hätten sie demokratisch und mutig die Freiheit erkämpft - und eines der schönsten Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben.
"Man muss den Mund aufmachen"
Auch Wolfgang Thierse erinnerte in seiner Rede am 9. Oktober in der Leipziger Nikolaikirche an den Herbst 1989. Insbesondere der 9. Oktober stehe für den Sieg über die Angst und den Aufbruch der politischen Hoffnung. Aus diesen Erfahrungen solle Mut und Entschlossenheit für anstehende Reformen geschöpft werden - auch wenn die neuen Montagsdemonstrationen nicht mit denen des Wendeherbstes verwechselt werden dürften. Vor deren Hintergrund sei es jedoch eine Frage der Selbstachtung, Demagogen entgegen zu treten: "Man muss den Mund aufmachen, Stellung nehmen und darf den Konflikt mit den Verächtern der Demokratie nicht scheuen." Thierse forderte insbesondere die Ostdeutschen zu mehr Selbstbewusstsein auf. Sie hätten vor 15 Jahren ein Kapital an Mut, Riskiobereitschaft und Aufbruchsgeist erkämpft, während im Westen eine geradezu überwältigende Reformunwilligkeit geherrscht habe. Der Osten sei weder "Jammertal" noch "Milliardengrab", sondern verfüge über ein Potenzial aus Reformerfahrung, Felixibilität und Einfallsreichtum: "Von unserer Transformationserfahrung können Reformunwillige in West und Ost durchaus lernen." Auch wenn bei der Wiedervereinigung ein gemeinsamer Neuanfang von Ost und West versäumt worden sei, müsse man am Ziel gleichwertiger Lebensumstände festhalten. Hartz IV bringe neues Geld nach Ostdeutschland - nun sollten Kommunen, Verbände, Gewerkschaften und Demonstranten gemeinsam überlegen, wie dieses Geld für Arbeitsmarktpolitik sinnvoll für neue Arbeitsplätze verwendet werden könne.
In seiner Rede ging Thierse auch auf den schwelenden Streit um die Solidarität zwischen Ost und West ein. Er kritisierte die Länder, die den Wettbewerbsföderalismus ausriefen. Sie seien selbst viele Jahre Nutznießer des solidarischen Föderalismus gewesen, bis sie zu Geberländern geworden seien. "Ob es Zufall ist, dass die Solidarität in Frage gestellt wird, wo andere noch lange auf die Solidarität der reicheren Ländern angewiesen sein werden?" Bereits zuvor hatte er in einem Radio-Interview Hessen und Bayern mangelnde Solidarität vorgeworfen.