Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 18.10.2004
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Leonhard Horowski

"Mein Herr Bruder, Schwiegerenkel und Urgroßneffe"

Ursprünge, Umgangsformen und Untergang der europäischen Monarchengroßfamilie
Was ist ein guter Roman anderes als ein feingeknüpftes Netz aus subtilen, oft kaum sichtbaren und doch wirksamen Zusammenhängen? Was ist folglich das engmaschige Beziehungsnetzwerk der europäischen Herrscherhäuser anderes als ein guter Roman - noch dazu einer von jener Sorte, die keinen Autor brauchen, weil historisch gewachsene Bedingungen ihn selber hervorbrachten? Was schließlich kann derjenige tun, der diesen Roman erklären will, ohne ihn einfach nachzuerzählen? Er greift an einer Stelle in das riesige Knäuel hinein, zieht einen einzelnen Faden heraus und sucht daran aufzuzeigen, was er meint. Eine Momentaufnahme also, ein Brief, eine Anrede.

Der Moment ist der 2. Februar 1722, die Autorin, Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orléans, eine französische Prinzessin deutscher Herkunft mit englischen, holländischen, dänischen und französischen Vorfahren, der Empfänger Spaniens französisch geborener Kronprinz, der damals wie heute Prinz von Asturien hieß, die Anrede schließlich ein fast schon inzestuöses: "Mein Herr Bruder, Schwiegerenkel und (Urgroß-)Neffe". Da hat man in sechs Worten und zwei Personen eigentlich schon alles, was es braucht, um von einer untergegangenen Welt zu erzählen.

"Mein Herr Bruder ..." So schrieben einander Europas Könige, ob sie Neujahrskomplimente verschickten oder Kriegserklärungen. So schrieben einander folgerichtig auch die, die wie die Königsschwägerin Elisabeth-Charlotte und ihr Adressat im Rang unmittelbar nach ihnen kamen, während niederrangigen Fürsten, Herzogen oder Prinzen immerhin noch der Titel "Mein Cousin" gegeben wurde (in Deutschland "Lieber Oheim") - gewiss eine Fiktion, aber doch eine, die auf der ständig durch Heiraten erneuerten Tatsache realer Verwandtschaften beruhte. Auch im zitierten Brief: Neben der fiktiven Bruderschaft stehen sogleich die realen Bande, die den Prinzen von Asturien zum Urgroßneffen der Herzogin sowie zum Ehemann ihrer Enkelin machten.

Eheverbindungen wie diese waren die Grundlagen eines europäischen Netzwerks, dessen Einzigartigkeit sich erst im Vergleich mit der übrigen Welt zeigt. Immerhin war ja bis vor historisch kurzer Zeit die Monarchie weltweit die vorherrschende Staatsform, wiesen etwa die islamische und asiatische Welt eine ganze Serie eindrucksvoller Monarchien auf. Sie brachten jedoch niemals eine vergleichbare Vernetzung ihrer Herrscherhäuser hervor, weil bestimmte ausschlaggebende Faktoren nur in Europa auftraten.

Zu den ersten zählt das Christentum: weniger, indem es eine einheitliche Glaubenswelt vorgab, innerhalb derer jeder jeden heiraten konnte (das tat auch der Islam), als dadurch, dass es selbst die Herrscher zur Monogamie aufrief. Natürlich hielt sich, wie man etwa an den 16 unehelichen Kindern von Elisabeth-Charlottes Schwager Ludwig XIV. ablesen kann, der praktische Erfolg dieser Aufforderung in Grenzen. Immerhin war sie doch aber so erfolgreich, dass spätestens seit dem Hochmittelalter kein unehelicher Königssohn mehr ernsthafte Chancen auf die Thronfolge hatte. Die Zahl der konkurrierenden Thronanwärter war damit von Anfang an viel geringer als in polygamen Kulturen. Wenig überraschend ist es also, wenn sich allein in Europa die unangefochtene Nachfolge des jeweils ältesten Sohnes durchsetzen konnte und damit der Grundstein für jahrhundertelang stabile Dynastien gelegt wurde. Bei Aussterben der männlichen Linie setzten sie sich durch Töchternachkommen fort und schufen so eine fast als heilig angesehene dynastische Kontinuität.

Dazu trug auch ein zweiter Faktor bei, den mit Ausnahme des mittelalterlichen Japan, keine außereuropäische Gesellschaft kannte: Durch die Dominanz eines erblichen Geburtsadels in Europa blieb der Aufstieg nicht hochadeliger Rebellenführer, Söldnerkommandanten oder Minister zum auch nominellen Herrscher undenkbar. Wo einmal etwas ansatzweise Ähnliches vorkam, musste der schwach qualifizierte neue Herrscher sich legitimieren, indem er in eine der etablierten Dynastien einheiratete. Die ständische Gliederung ließ auch Heiratsverbindungen mit einheimischen Familien unattraktiv erscheinen: Da es pro Land nur ein Königshaus gab, konnte eine einheimische Ehe nur mit einer rangniedrigeren Person oder engen Verwandten geschlossen werden.

Ehebündnisse mit auswärtigen Herrscherhäusern waren demgegenüber sowohl standesgemäß als auch machtpolitisch wertvoller. Der Wert solcher "Investitionen" war zudem höher als anderswo. Erstens konnte man sich auf die Dauerhaftigkeit der anderen Dynastie besser verlassen. Zweitens war garantiert, dass der Sohn der auswärtig verheirateten Tochter auch wirklich der nächste Herrscher seines Landes werden würde - ihr Mann konnte ja mit keiner anderen Frau erbfähige Kinder zeugen. Unter diesen Umständen wurden schon im Mittelalter Ehen von Königshaus zu Königshaus die Regel und führten zur regelmäßigen Auffrischung veraltender Beziehungen. Dies geschah um so unbekümmerter, als die Heirat zwischen Blutsverwandten nur als - vom Papst lösbares - religiöses Problem, bis ins 19. Jahrhundert aber nie aber als biologisches Risiko angesehen wurde und nur in sehr wenigen Fällen ernsthafte Folgen nach sich zog.

Ein solcher Fall ist der des spanischen Königs Karl II. (1661 bis 1700); er führt sogleich zum Ausgangspunkt zurück. Als Sohn von Eltern, die nicht nur mehrfach Cousin und Cousine, sondern auch Onkel und Nichte waren, körperlich wie geistig schwerbehindert, wurde er zuerst unter französischem Einfluss mit einer Nichte Ludwigs XIV., nach deren Tod auf Betreiben der österreichischen Habsburger mit einer Schwester der römisch-deutschen Kaiserin verheiratet. Beide Reiche wollten den kinderlosen Herrscher auf ihre Seite ziehen.

Die in Jahrhunderten nie aufgelöste Schattenseite dieser an sich kriegsersetzenden Heiratsdiplomatie zeigte sich freilich sofort nach Karls Tod. Die 1660 zur Friedensstiftung geschlossene Ehe Ludwigs XIV. mit einer spanischen Prinzessin gab nämlich dem Hause Frankreich einen Anspruch auf den spanischen Thron, den der habsburgische Kaiser als zweitnächster Verwandter nicht anerkennen wollte. Es war also nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer engen Blutsverwandtschaft, dass Ludwig XIV. und Leopold I. (deren Mütter ebenso Schwestern waren wie ihre Ehefrauen) in einen 13-jährigen Erbfolgekrieg gerieten, der bald halb Europa erfasst hatte und die Welt unserer Briefeschreiberin erschütterte.

Elisabeth Charlotte - in Deutschland als Liselotte von der Pfalz bekannt -, kannte all das bereits: 1671 wurde sie zur Sicherung des französisch-pfälzischen Friedens nach Versailles verheiratet und hatte mittels ihrer Erbrechte ab 1688 dem Schwager Ludwig XIV. als Vorwand für die Eroberung und Zerstörung ihrer pfälzischen Heimat gedient. Nun musste sie erleben, wie ihr Sohn gegen den Mann seiner eigenen Halbschwester in die Schlacht zog und ihre mit französischen Prinzen verheirateten Stiefenkelinnen gezwungenen wurden, im Interesse ihrer Männer und Kinder die politische Vernichtung des eigenen Vaters zu erhoffen. Der preußische Ehemann ihrer Patennichte war plötzlich ebenso ein Feind ihres Landes wie nahezu alle übrigen deutschen, englischen und holländischen Verwandten. Selbst der Erschöpfungssieg Frankreichs (1713), der Liselottes Großneffen und Stiefschwiegerenkel Philipp V. die spanische Krone sicherte, brachte nur neue Probleme, weil eine Serie von Todesfällen und Erbansprüchen diesen innerhalb zweier Jahre zum ärgsten Feind ihres Sohnes Orléans machten. Bereits 1718 kam es zum Krieg Frankreichs gegen Spanien, bevor eine erneute Wendung 1721 in der obligatorischen Heiratsallianz kulminierte. Liselottes zwölfjährige Enkelin heiratete nun den spanischen Thronerben, dem der zitierte Brief galt, während dessen gerade dreijährige Schwester ihrem elfjährigen Cousin Ludwig XV. versprochen wurde, nur um infolge weiterer abrupter Wendungen schließlich siebenjährig in einer mit Spielzeug gefüllten Kutsche an die Eltern zurückgeschickt zu werden.

Die Praxis der europäischen Monarchenendogamie trug also dazu bei, durch ständigen Austausch von Töchtern Dynastien und ihre Länder aneinanderzubinden. Obwohl sie, indem sie Erbrechte vermittelte, regelmäßig Kriege auslöste, wurde sie nie aufgegeben und trug auch innerhalb dieser Kriege dazu bei, ein Minimum an Respekt zwischen den Häuptern der Kriegsparteien aufrechtzuerhalten. Noch im Ersten Weltkrieg nahm die deutsche Kronprinzessin ihren Kindern ein Kartenspiel weg, das die feindlichen Monarchen als Tiere darstellte, und erklärte ihnen, dass das allesamt engste Verwandte seien. Das weltweit einzigartige System dieser Heiratspolitik schuf nicht nur eine europäische Monarchienfamilie. Es erwies sich auch als fähig, konfessionelle Hindernisse zu überwinden und neue Länder in die europäische Staatengemeinschaft zu integrieren - sei es im 18. Jahrhundert durch den Anschluss des orthodoxen Russlands an den protestantischen Familienblock oder im 19. Jahrhundert durch die Besetzung neu geschaffener Nationalthrone in West-, Nord- und Südosteuropa mit importiertem "Prinzenmaterial".

Der Erste Weltkrieg zerschlug die machtpolitische Relevanz der monarchischen Staatsform ebenso, wie er der Vorstellung von unwandelbarer geburtsständischer Gliederung einen letzten Todesstoß versetzte. So mag es aus der innenpolitisch verengten Perspektive der letzten verbleibenden Monarchien durchaus logisch sein, sich die zukünftigen Ehepartner nur noch nach Medienwirksamkeit sowie Vereinbarkeit mit dem bürgerlichen Ideal echter oder glaubhaft gemachter Liebesehe auszusuchen. Von der europäischen Großfamilie der Monarchen aber, die von der ständigen Erneuerung und Exklusivität ihrer Verwandtschaftsbeziehungen lebte, wird so bald nichts mehr bleiben als bestenfalls jene Art von Berufsgenossenschaft, die den Inhabern seltener und seltsamer Professionen nun einmal zu eigen ist.

Dr. Leonhard Horowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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