Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005
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Michael Krausz

Die Sache mit der Suchtkultur

Neue gesellschaftliche Perspektiven sind gefragt
Die Sache mit der Sucht ist allgegenwärtig. Dazu hat jeder eine Meinung, sie ist wichtiges Medienfutter und sogar Parlamente diskutieren über die geeignetste Form der Therapie, was man über Rheuma oderDiabetes noch nie gehört hat. Das Fantastische unter Mediengesichtspunkten scheint insbesondere auch zu sein, dass sie sich wellenförmig in neue Lebensbereiche ausbreitet, es gibt immer etwas Neues zu berichten, seien es neue Konsumpräferenzen, neue Substanzen, neue exzessive Verhaltensweisen, bevorzugt in den Bereichen des Aufregenden, Erregenden oder Unverständlichen.

Sex-Sucht, Spiel-Sucht, Internet-Sucht, Arbeitssucht? Immer neue Themen, über die man sich zum Wohle seiner Nachkommen in der Adoleszenz Sorgen machen muss - Alkopops, Kiffen, Crack-en! Oder gar Skandale, die die Glaubhaftigkeit unserer Idole erschüttern sollen, wie das Kokain auf dem Bundestagsklo, den Hoteltischen nebst nackter Frauen und prominenter Talkshowmoderatoren und Künstler oder gar in den Haaren begnadeter Fußballtrainer und Radfahrer. Diese Sache ist einfach nicht zu beschränken auf eine kleine Gruppe gesellschaftlicher Versager und sozial Randständiger.

Sie ist Teil und Resultat unserer Lebensweise und zu einem gewissen Teil Produkt unserer Kultur. Was heißt das für die Frage des Umgangs damit? Warum fällt es uns so schwer, im Zusammenhang mit der Dis-kussion über Sucht nicht zu stigmatisieren, keine Ka-tastrophenszenarien gegen kollektive Ignoranz zu setzen? Wir meinen aus Sicht der Suchtforschung und Suchttherapie, dass sich an dem Umgang mit Sucht etwas verändern muss und wollen das begründen.

Stigmatisierung und Ausgrenzung sind wahrscheinlich noch älter als die Geschichte der institutionalisierten Medizin. Es ist ein fast zu erwartender Reflex, dass psychische Kranke, Behinderte, in anderer Weise deviante und insbesondere Drogenabhängige und Alkoholiker aus der sozialen Gemeinschaft herausgedrängt werden. Gerade wo Phänomene bedrohlich häufig sind und quasi Teil des Alltags, intensiviert sich das Bemühen, die Betroffenen wegzuschieben, wegzusperren, auszugrenzen.

Zusammen mit der vielfach zelebrierten Besorgnis vieler Mitbürger demonstriert genau diese Stigmatisierung die Hilflosigkeit im Umgang mit einem fundamentalen Widerspruch unserer Kultur, in der der Konsum psychotroper Substanzen seit Jahrtausenden tief verwurzelt ist. Ohne wirklich fähig zu sein, diese Tatsache zu akzeptieren und mit den daraus resultierenden Problemen ohne die Schuldfrage umzugehen. Diese Widersprüche sind durchaus bewusstseinsnah und darum hilft manchmal zur Beruhigung nur der stigmatisierende Reflex des Wegschiebens und Ausgrenzens aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Natürlich hängt dieser mit dem Gesamtcharakter von Drogenpolitik im Rahmen der Prohibition zusammen, einer politisch gesteuerten und unsäglichen Tradition, vor allem aus den USA, die seit vielen Jahrzehnten zum Elend der Süchtigen maßgeblich beigetragen hat. Die Personen, die zwischen EU-Förderung des Tabakanbaus einerseits und Nikotin als verbreitetster und sozialmedizinisch relevantester psychotroper Substanz andererseits individuell nicht herausgefunden haben oder die bei der Romantisierung des Oktoberfests Opfer der Kampagne für ein drogenfreies München geworden sind.

Kriminalisierung und Stigmatisierung von Süchtigen macht aber Eingrenzung und Hilfe, Prävention und Risikominderung schwerer, wenn nicht manchmal sogar unmöglich und hält die Tür zur Ausgrenzung immer offen. Wir sollten in der Diskussion für den Umgang mit Sucht diese Realität sehen und reflektieren, um zur Beseitigung des Stigmas beizutragen. Wenn psychotrope Substanzen Teil unserer Gesellschaft sind, dann müssen auch diejenigen, die damit nicht mehr genussvoll umgehen können, auf unsere Unterstützung und unser Verständnis bauen können!

Der Konsum von Drogen, insbesondere der intravenöse, hat sich vor allem in den Ländern, in denen außer brutaler Unterdrückung von Süchtigen und blanker Prohibition nichts an Drogenpolitik betrieben wird, auf dramatische Art und Weise mit der Verbreitung begleitender Infektionserkrankungen, insbesondere von AIDS, verbunden. Die Explosion der Prävalenzzahlen, in Mittel- und Osteuropa, vergleichbar den afrikanischen Zahlen, aber auch in Südostasien, zum Beispiel in den hochgelobten Wirtschaftswunderländern, beleuchtet die dramatischen Schattenseiten des Umgangs mit Heroin.

Gerade die Spirale von Armut und Gewalt einerseits und die Möglichkeit über Opiumhandel wirtschaftliche Prosperität oder ein geregeltes Einkommen zu generieren, zum Beispiel in Afghanistan, verdeutlichen den Zusammenhang von Ökonomie und Drogenproduktion und Drogenhandel. So führt paradoxerweise die Vertreibung der Taliban zu explosionsartigen Zunahmen des Opiumhandels und dem Aufblühen eines der höchst profitabelsten Wirtschaftsbereiche. Wie überall in der Welt gibt es zwar eine massive militärische Antwort darauf, aber kaum ein Entwicklungskonzept, das den afghanischen oder bolivianischen Bauern ein alternatives Auskommen sichern würde.

Die Erfahrungen in Brasilien machen deutlich, dass ein politisches Umsteuern und die Entwicklung eines gesellschaftlich akzeptierten Gesamtkonzeptes zur Risikominimierung und Substitution die Prävalenzraten deutlich senken könnten. An den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Schnittpunkten verdeutlicht die AIDS-Epidemie in den letzten 15 bis 20 Jahren Schwachpunkte und Widersprüche der Kulturen einerseits, aber auch die Tatsache, dass durch eine entsprechende Politik und die Berücksichtigung von Forschungsergebnissen und -erfahrungen das Problem zu beherrschen ist.

Schließlich ist nach der Veränderung der Drogenpolitik und der entsprechenden Erweiterung des Angebotes in den 80er- und 90er-Jahren unseres Landes bei uns die HIV-Rate erfreulich gesunken! Die europäische Landkarte der Drogenpolitik ist auch eine Landkarte des Zusammenhangs von gesundheitspolitischer Ignoranz beziehungsweise Lernfähigkeit und unterstreicht die Bedeutung der politischen Rahmenbedingungen.

Im Zusammenhang mit der Stigmatisierung von Süchtigen lassen sich an der Erfahrung der zum Beispiel deutschen Drogenabhängigen und ihrer Integration in das medizinische System, unter anderem am Beispiel der Therapie der Hepatitis C, gut die Auswirkung von Stigmatisierung aufzeigen. Dieses Themenfeld markiert mehr oder weniger alle Grundsatzfragen der Medizin, im ethischen, klinischen und wissenschaftlichen Bereich!

Als ein Teil beziehungsweise eine Folge des Stigmas Süchtiger hat sich in großen Teilen der Bevölkerung der Irrglaube festgesetzt, dass diesen sowieso nicht erfolgreich zu helfen sei, Suchttherapie im Kampf gegen den Rückfall kaum Erfolg hätte. Gleichzeitig wurden und werden die Erfolgskriterien von Suchthilfe getreu dem Abstinenzparadigma in schwindelnde Höhen gesetzt, wie dauerhafte oder lebenslange Abstinenz als anzustrebender Therapieerfolg. Es wird gar über Programme zum kontrollierten Trinken verächtlich die Nase gerümpft. Der über 35 Jahre währende Kampf um die Substitution und deren Einführung in Europa verdeutlicht andererseits, dass offensichtliche Evidenz durchaus die Chance zum Umdenken mit sich bringt. Wenn man auch davon ausgehen muss, dass es ohne die AIDS-Epidemie wahrscheinlich in Europa noch kaum Substitution geben würde.

Die andere Seite der Suchttherapie ist ihre nur mäßig vorhandene Verfügbarkeit. Insbesondere für den Kampf gegen die Nikotin- und Alkoholabhängigkeit stehen kaum Ressourcen zur Verfügung. Im Verhältnis zu ihren sozialmedizinischen und gesellschaftlichen Auswirkungen ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nikotinabhängigkeit wird immer noch nicht als Krankheit von den Kassen akzeptiert und Entwöhnung beziehungsweise Programme zur Selbstkontrolle und Konsumreduktion werden nicht von den Kostenträgern übernommen. Von den enormen Steuermitteln, die aus der Tabakwerbung unter dem Vorwand der Prävention gezapft werden, fließt kaum ein Euro in entsprechende Präventionsaktivitäten oder gar in die Suchtforschung.

Im Vergleich zu anderen chronischen, mit vielen Rückfällen verbundenen Erkrankungen, wie Diabetes und Bluthochdruck, Asthma und Rheuma, allesamt verbunden auch mit Lebensweise und Lebenskultur, können sich die Erfolge von einer differenzierten und zielgerichteten Suchttherapie sehen lassen. Die Chancen, mit ihrer Hilfe die Lebensqualität und das Überleben signifikant zu verbessern, sind nachgewiesen. Die Möglichkeiten, Verhaltensänderungen zu fördern oder zu induzieren, nicht mehr zu bezweifeln.

Es ist erfreulich festzustellen, dass in den letzten Jahren die größere Aufmerksamkeit aus diesen Erfahrungen heraus in Richtung einer differenzierten Therapieentwicklung gegangen ist und mit der Motivierenden Gesprächsführung, der Psychoedukation oder auch der heroingestützten Behandlung neue Interventionsansätze vorgelegt worden sind, die in verschiedenen Bereichen der Suchttherapie das Spektrum und die Erfolgsaussichten erweitern.

Die Sache mit der Sucht ist ein guter Beleg dafür, dass es nützlich ist, nicht nur über Ursachen und Wirkungen zu spekulieren und sie zum Gegenstand ideologischer Borniertheit zu machen, die eigenen Ängsten hochzurechnen und das eigene Verhalten als Maßstab zu nehmen, sondern einerseits geprüfte Evidenz im Rahmen internationaler Suchtforschung und andererseits die europäischen Erfahrungen der letzten Jahre zum Ausgangspunkt eines Prozesses des Umdenkens zu machen. Der Kampf gegen die Stigmatisierung Süchtiger einerseits und das Verfügbarmachen von Hilfe andererseits wären zwei wichtige Schritte in dieser Angelegenheit.

Professor Michael Krausz gründete das Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg und war dessen langjähriger Direktor.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.