Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 04 / 24.01.2005
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Kristin Kupfer

China im Fluss - Bilder vom Yangtse

Von Staudammproblemen und Touristenschwemmen
Der Yangtse hat der chinesischen Bevölkerung immer wieder Anfänge und Untergänge gebracht. Als Schauplatz für die Geburt der Republik 1911 hat er ebenso gedient wie für Mao Zedongs Machtschwimmen, zweimaliger Auftakt zu Kampagnen der Zerstörung. Heldenstätten und Orangenfelder finden sich an den Ufern des "Langen Flusses", so nennen ihn die Chinesen. Seine Bewohner leben mit dem unberechenbaren Fluss der Veränderungen, der ihr Land überschwemmt und Touristen mitbringt. Ein Mosaik der Umbrüche und Widersprüche zeichnet Chinas "Langer Fluss".

Die magische Grenze ziehen weiße Steintafeln mit der roten Aufschrift "175m" an den Ufern des Yangtse. Oberhalb dieses Höchstwasserstandes, der nach Fertigstellung des Drei-Schluchten-Staudamms 2009 erreicht wird, steht heute schon die Zukunft: Weiße Betonhochhäuser mit Klimaanlagen, das Vier-Sterne-Hotel "Pfirsichgarten" und eine Werbetafel von China Mobile. Unterhalb der Markierung ist Niemandsland. Durchdringt Nebel das hügelige Grün, versinken das Museum für Lokalkultur und die Äpfel erntenden Bauern schon jetzt im Wasser des Stausees. "Wenn das Alte nicht geht, kann das Neue nicht kommen", so lautet ein chinesisches Sprichwort. Es ist immer eine Frage der Zeit.

Das Tempo der chinesischen Modernisierung ist Schwindel erregend: von sieben auf über 30 Millionen Einwohner in nur einem Tag. Durch die Eingliederung von ländlichen Regionen wurde Chongqing 1997 über Nacht vom Millionenmoloch zur Megametropole. Vor Chinas größter regierungsunmittelbaren Stadt trifft sich der Yangste, nachdem er mehr als die Hälfte seines Weges zurückgelegt hat, mit einem seiner rund 700 Nebenflüsse. Chongqing ist die Projektionsbühne für Kosten und Nutzen des Staudammprojekts - Markt der Möglichleiten für umgesiedelte Bauern, Musterbeispiel für Umweltschutz und Transportwesen sowie Motor für unterentwickelte Gebiete. Als größte urbane Region der Welt ist die "Nebelstadt", bekannt für ihre alltägliche Dunstglocke, mit über 82.000 Quadratkilometern nur wenig kleiner als Österreich. In puncto Einwohnerzahl muss man sich allerdings Tokyo knapp geschlagen geben. Auf der Flucht vor den Japanern wählten die Nationalisten Chongqing als Regierungszentrale. Doch statt Chiang Kai-sheks Villa zeigt der Stadtführer He ausländischen Gästen lieber die imposante Volkskongresshalle im Herzen der Stadt und den quirligen Gemüsemarkt, "wo das Herz des Volkes ist", wie der Mittvierziger im braun-karierten Sakko schelmisch hinzufügt.

Um eine Antwort sind Chongqings Bewohner nur selten verlegen. Zwischen den Bauten im Shanghaier oder Beijinger Modernisierungsstil wächst auch ein neues, sympathisches Selbstbewusstsein. Die Chefin des kleinen Lokals im Schatten des Holiday Inn-Hotels tritt der einfallenden europäischen Reisegruppe souverän gegenüber. Frau Duan bittet in die Küche, deutet auf Metallkörbe und Glasablagefächer mit Gemüse und Fleisch: "Sagen Sie, was Sie möchten, den Rest übernehmen wir." Das Erfolgsrezept der staatlichen Zahnklinik lautet "chinesische Essenz, westliche Form". Technik aus Deutschland und chinesisches Knowhow, so hat man die Modernisierungsformel chinesischer Intellektueller im ausgehenden 19. Jahrhundert in die heutige Zeit übersetzt. Seine Verwunderung über das Zahnprovisorium aus Europa kann der junge Chefarzt kam verbergen: "Wir können das hier viel besser und billiger", stellt er nüchtern fest. Ein Trinkgeld lehnt er ab und streicht sich über den weiß gebügelten Kittel, das sei hier nicht üblich, er würde doch bezahlt.

So kompetent und regeltreu sind die lokalen Parteibosse dagegen nicht. In Wanzhou, einer Kreisstadt rund 280 Kilometer stromabwärts von Chongqing, bekamen die lokalen Kader den Zorn des Volkes zu spüren. Obstträger Yu hatte die Frau des Beamten Hu versehentlich mit seinem Bambusgestell gestreift, Hu schlug Yu daraufhin zusammen und antwortete auf Drohungen, dass er alle Probleme mit Geld und Einfluss schon lösen könne. Über 10.000 Demonstranten wüteten am nächsten Tag vor dem Gebäude der Stadtregierung und setzen ein Polizeiauto im Flammen. Zehn Tage später gerieten im Südwesten der Provinz Sichuan mehrere Zehntausend Bauern mit der Polizei aneinander. Die Landarbeiter setzten sich gegen Umsiedlungs- und Entschädigungspläne der Behörde im Zuge des Pubugou-Dammprojekts am Yangtse-Nebenfluss Dadu zur Wehr. Auch nach Intervention aus Beijing und Entlassung zahlreicher lokaler Parteikader bleibt die Lage im Kreis Hanyuan gespannt.

Über 50.000 solcher Proteste sollen China laut dem Magazin "Liaowang Zhoukan" im vergangenen Jahr erschüttert haben. Die Yangtse-Region in und um Chongqing gilt traditionell als besonders aufsässig. Im Gebiet des Reichs Shu, im dritten Jahrhundert eines von drei Königtümern in China, brodelt es zuerst und beruhigt es sich zuletzt, so soll Zhu Geliang, Chefstratege des Shu-Königs gesagt haben. Die Macht der Überlieferung in Verbindung mit Wasser kennt die Beijinger Regierung sehr gut. Die Bewohner am Yangtse verehren den legendären Kaiser Yu, der sich als Flussbändiger zum Herrscher qualifiziert hat. Flutkatastrophen werden so schnell als Missfallen des Himmels, moralische Instanz und Richter über Befähigung der Staatslenker gedeutet. Auch Bauer Wu, der einen Krimskrams-Stand am Fuße des Tempels Shibaozhai, rund 160 Flusskilometer von den berühmten Drei-Schluchten entfernt, besitzt, redet lieber über Legenden als über die heutige Politik. "Das waren noch Helden mit Moral und Kampfgeist", sagt er und deutet auf zwei gelb eingezeichnete Tempel in der Yangtse-Panoramakarte. Gemeint sind Zhang Fei und Liu Bei, beherzter Fleischer und weiser Kaisersprössling im 3. Jahrhundert n. Chr., von deren Kämpfen für Recht und Gerechtigkeit in ganz China gerne erzählt und gelesen wird. Der 50-jährige Wu Yuquan verkauft Touristen Bambusflöten, Seidenschals und Mao-Uhren mit zwei englischen Phrasen und viel Elan. In spätestens fünf Jahren wird dort, wo er und andere fliegende Händler den steinigen Weg zum Tempelaufstieg säumen, nur noch Wasser sein. Allein das neunstöckige, von innen begehbare Pagodendach des Tempels, in dem auch Zhang Fei verehrt wird, ragt dann noch in den Himmel. Wu, der seine Souveniers übereinander kombiniert am eigenen Körper anpreist, bekommt vielleicht einen neuen Platz weiter oben auf den Stufen oder versucht es anderswo. Ersatz und Entschädigung für sein untergehendes Land hat er schon bekommen, "ich werde kämpfen", sagte er, "wie Zhang Fei".

Mindestens 1,13 Millionen Menschen müssen nach offiziellen Angaben durch den höheren Wasserstand des Stausees ihre Heimat verlassen. Die Umsiedlungspläne sind, neben der Zerstörung von Umwelt und Kulturgütern, die Zielscheibe der Staudamm-Kritiker. Für rund 28.000 Hektar untergehendes Ackerland kann kaum vergleichbarer Ersatz in Menge und Qualität bereitgestellt werden, schreiben mittlerweile chinesische wie ausländische Wissenschaftler. Pläne für eine forcierte Industrialisierung und Urbanisierung seien utopisch. Wahnwitzig ist auch die Summe von veruntreuten Kompensationszahlungen. Durchschnittlich 3.000 Euro soll jeder Haushalt als Entschädigung erhalten. Nach einem Bereicht der Volkszeitung, Propagandablatt der kommunistischen Partei, sollen von 1993 bis 2000 mehr als 47 Millionen Euro in die Taschen von lokalen Beamten geflossen sein. Die Zentralregierung in Beijing erließ daraufhin im März 2001 neue Bestimmungen, welche verschärfte Strafen und nachhaltigeren Wiederaufbau verordnen. Missmanagement und Bereicherung lokaler Kader wird dies allerdings kaum stoppen.

Nicht nach Plan Beijings verläuft auch der Verkehr auf dem Yangtse. Effektivere Schiffbarkeit von Shanghai bis Chongqing für Frachter bis zu 10.000 Tonnen ist neben Hochwasserregulierung das Hauptargument für den Bau des Staudamms. Seit Juni 2003 ist die Schiffsschleuse in Betrieb, bis dato schaffen es 222 Boote pro Tag durch ihre Tore - nur 57 Prozent der geplanten Kapazität, so das Wochenmagazin Liaowang Dongfang. Denn mit rund zwei Stunden dauert die Überwindung von aktuell vier Kammern à 25 Höhenmetern doppelt so lange wie geplant.

In einem China der Ungleichheit ist dies kostbare Zeit. Denn in der Schleuse sind alle gleich - ob Luxusdampfer Katharina, Transportschiff Dong Han Nr. 7 oder der namenlose, hoffungslos überladene Kohlefrachter. Die Prozedur beginnt für alle erst, wenn jeder Platz gefunden hat, dicht nebeneinander schwimmend und festgetaut an der grauen Schleusenwand. Schiffspassagiere drängen sich auf die Decks und verfolgen, wie sich rot nummerierten Tore schließen und öffnen. Flussabwärts des Drei-Schluchten-Damms soll der Yangtse nun keine Flut mehr bringen, sondern Strom erzeugen. Ob sich der Fluss, auch "Urvater" Chinas genannt, dem Willen der Beijinger Führung unterordnet, wird sich zeigen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.