Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 07 / 14.02.2005
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Ulrike Baureithel

"Ich bekomme so viel zurück"

Bürgerengegement im sozialen Bereich
Ob Freiwilligenarbeit, Bürgerengagement, Selbsthilfe oder Ehrenamt - freiwillige Dienste sind ein unverzichtbarer Bestandteil des zivilen Lebens. Während sich die Kommunen aus dem sozialen Aufgabenfeld vielfach zurückziehen, engagieren sich Menschen zunehmend auch in diesem Bereich. Was bewegt Menschen, freiwillig Verantwortung für andere zu übernehmen? Warum setzen sie sich manchmal schwierigen sozialen Situationen aus und befassen sich bei der Betreuung von Kranken und Alten sogar mit Sterben und Tod? Gespräche mit Ehrenamtlichen zeigen, dass nicht nur Pflichtbewusstsein, sondern auch der Wunsch nach Kommunikation und Anerkennung ist ein Motiv für Bürgerengagement ist.

Man kennt sie selbstverständlich von der Freiwilligen Feuerwehr, vom Sport- oder Gesangsverein, wo sie Brände löschen, als Trainer die Jugend ausbilden oder zum Gelingen des Stadtfestes beitragen. Aber wer interessiert sich schon für die Senioren, die in die Kindergärten gehen, und den "Kurzen" vorlesen? Wer weiß etwas über die ehrenamtliche Arbeit in den 75 deutschen Hospizdiensten? Wer kümmert sich um die Kinder suchtkranker Eltern? Wer sorgt dafür, dass behinderte, betagte oder demente Menschen regelmäßig an die frische Luft kommen und am kulturellen Leben teilhaben können?

In Deutschland sind derzeit 70 Prozent der über 14-Jährigen über ihre beruflichen und privaten Verpflichtungen hinaus in Gruppen, Vereinen, Organisationen und öffentlichen Einrichtungen engagiert. Die Hälfte davon hat ein oder sogar mehrere Ehrenämter inne und übernimmt für längere Zeit konkrete Aufgaben. Noch immer zieht der Sport- und Freizeitbereich den größten Teil der freiwilligen Helfer an, doch die Gewichte verschieben sich: Im Vergleich zur 1. Freiwilligenstudie des Bundesfamilienministeriums von 1999 engagieren sich heute mehr Menschen im Bereich Bildung und für soziale Angelegenheiten.

Ein Grund dafür ist sicher die Tatsache, dass den Kommunen immer weniger Mittel zur Verfügung stehen, um soziale Aufgaben zu finanzieren. Eltern sehen sich plötzlich aufgefordert, gelegentlich für die Kita zu kochen oder selbst die Renovierung eines Klassenzimmers zu übernehmen. Der Impuls, hier zu handeln, ist offensichtlich: Man will, dass die eigenen Kinder möglichst gut versorgt sind. Ob die Engagierten das nun "Freiwilligenarbeit", "Selbsthilfe", "Bürgerengagement" oder gar "Ehrenamt" nennen, ist zweitrangig, wesentlich ist für sie, in ihrem Lebensumfeld Verantwortung zu übernehmen.

Auch für Ulrike Friedel-Franzen war der Hort, den ihre Kinder besuchten, die Brücke zum Nachbarschaftsheim in Berlin-Schöneberg. Sie stammt aus einer Familie, in der es normal ist, sich sozial zu engagieren, schon die Mutter lebte ihren Töchter vor, dass man, über die Familie hinaus, für andere Menschen verantwortlich ist. Die Sozialarbeiterin, die inzwischen selbst drei schulpflichtige Töchter hat, wollte in der Familienphase sinnvoll tätig sein und kümmert sich nun im Rahmen des Besuchsdienstes jede Woche um eine altersverwirrte Dame. Nebenbei hofft sie, dadurch ein bisschen im Beruf zu bleiben und Kontakte für den späteren Wiedereinstieg zu knüpfen.

Die ebenfalls ehrenamtlich im Besuchsdienst tätige Margit Russ verfolgt dagegen keine beruflichen Ziele. Für die Mutter erwachsener Kinder war es die Pflege der eigenen todkranken Mutter, die den Anstoß gab, alten Menschen die Einsamkeit erträglicher zu machen. Russ organisiert nun regelmäßig ein Kaffeekränzchen für drei sehr betagte, aber geistig fitte Damen. "Demente Personen zu besuchen", sagt sie, "würde ich mir nicht zutrauen."

Margit Russ ist kein Einzelfall. Häufig sind es die Erfahrungen bei der Pflege eines nahestehenden Angehörigen, die dazu bewegen, sich auch nach dessen Tod um alte oder kranke Menschen zu kümmern. Mechthild Lewandowski beispielsweise arbeitet als ehrenamtliche Familienbegleiterin im Berliner Kinder-Hospiz "Sonnenhof". Dort betreut und entlastet sie seit zwei Jahren Familien, die durch die Pflege eines todkranken Kindes in einer schwierigen häuslichen Situation leben. Die Entscheidung für Kinder lag für die gelernte Erzieherin nahe; doch seit dem Tod der Mutter weiß Mechthild Lewandowski, dass sie "gut mit Sterbenden umgehen kann".

Während sie ihre "ganz hervorragende" Ausbildung zur ehrenamtlichen Hospizhelferin beim Roten Kreuz absolvierte, fuhr der Diplom-Kaufmann Bert Schulz jeden Morgen - noch vor Beginn seiner Tätigkeit als Projekt-Koordinator eines großen Telekommunikationsunternehmens - vom Berliner Stadtteil Steglitz ins weit entfernte Niederschönhausen, um sich im "Sonnenhof" als ehrenamtlicher Familienbegleiter zu qualifizieren. Er war durch eine Fernsehsendung auf die Björn-Schulz-Stiftung, die neben dem Hospiz-Dienst auch ambulante Familienbetreuung anbietet, aufmerksam geworden. Weil ihn der Beruf allein nicht ausfüllte und seine Lebensplanung, wie er sagt, "keine Kinder vorsieht", beschloss er, den Kontakt zum "Sonnenhof" aufzunehmen.

Momentan betreut er einen siebenjährigen leukämiekranken Jungen, organisiert Freizeitaktivitäten für ihn und schenkt der betroffenen Familie auf diese Weise ein paar Stunden zum Durchatmen. Bert Schulz ist im "Sonnenhof" eher ein Exot: Von den rund 150 Familienbegleitern finden sich gerade mal 20 Männer; auch im Besuchsdienst des Schöneberger Nachbarschaftsheims engagieren sich vor allem Frauen, obwohl Frauen, bezogen auf alle Freiwilligendienste, unterrepräsentiert sind und auch seltener Leitungsfunktionen wahrnehmen: "Die Männer", konstatiert Margit Russ trocken, "sind eben bei der Feuerwehr oder im Sportverein."

Was bringt Menschen über die persönliche Betroffenheit hinaus dazu, sich ausgerechnet um Alte, Demente, Behinderte und Todkranke zu kümmern, zumal dies im nicht-engagierten Freundeskreis eher distanziert und oft mit Befremden registriert wird und das Engagement die eigene Familien oft auch belastet: "Die muss viel auffangen, sagt Mechthild Lewandowski, "das war auch für die Familie ein Lernprozess." Er ziehe für sich dabei viel mehr heraus, als er gebe, bilanziert derweil Bert Schulz seinen Einsatz. "Man bekommt viel zurück", bestätigen auch die Frauen vom Nachbarschaftsheim. Die alten Frauen freuten sich so, wenn man käme, und als Freiwillige würden sie auch anders wahrgenommen als professionelle Kräfte, die zur täglichen Hauspflege kämen: "Die Damen", meint Ulrike Friedel-Franzen, "wissen ja, dass wir unsere Freizeit opfern, um sie zu besuchen." Bei den Betroffenen, die oft ein "Sozialarbeitersyndrom" (Lewandowski) haben, kommt die ehrenamtliche "Arbeit mit dem Herzen" gut an. Insbesondere alte Menschen nehmen lieber von Laien, die mehr Verständnis und Zeit für ihre Alltagsprobleme zeigen, Hilfe in Anspruch.

Der zeitliche Aufwand der Ehrenamtlichen ist sehr unterschiedlich: 15 Stunden, so die Untersuchung von 1999 (die Studie von 2004 wird komplett erst im Sommer 2005 veröffentlicht), werden durchschnittlich im Monat investiert. Mit fünf bis sechs Stunden pro Woche liegt Mechthild Lewandowski weit über diesem Schnitt, Bert Schulz und Ulrike Friedel-Franzen sind zwei Stunden wöchentlich mit ihren Schützlingen unterwegs, und Margit Russ hat schnell festgestellt, dass der ursprünglich geplante monatliche Besuch bei ihrem "Kränzchen" nicht ausreicht. Sie plagt "ein schlechtes Gewissen", weil sie öfters das Gefühl hat, ihnen zu wenig Zeit zu widmen. Professionelle Abgrenzung, bestätigt Franziska Lichtenstein, die die Besuchsdienste in Schöneberg koordiniert, sei ein häufiges Problem der freiwilligen Helfer.

Grenzen zu setzen ist aber nur eine der Schwierigkeiten, die im Umfeld freiwilliger sozialer Tätigkeit auftauchen können. Für Außenstehende erstaunlich, ist es für die Ehrenamtlichen selbstverständlich, dass sie eine qualifizierte und normalerweise bezahlte Arbeit unentgeltlich oder gegen eine geringe Aufwandsentschädigung verrichten. Auch das berufliche und private Zeitregime scheint relativ gut zu funktionieren, Bert Schulz beispielsweise fühlt sich von seiner Abteilungsleiterin unterstützt, und auch für Margit Russ ist das Doppelengagement in beruflicher Hinsicht kein Problem. Dagegen beobachtet Mechthild Lewandowski, die von den Befragten am längsten dabei ist, dass sich ehrenamtliche Familienhelfer gelegentlich überfordert fühlen. Das deckt sich auch mit den Erhebungen der Freiwilligenstudie: Dort erklären 40 Prozent der im Gesundheitsbereich Engagierten, sie seien "gelegentlich überfordert". Kompetenzstreitigkeiten, beispielsweise mit Ärzten oder anderen Professionellen, kommen offenbar nicht so häufig vor. Eher gibt es Konflikte mit den Angehörigen der Betreuten, die - so erging es Margit Russ - nicht in der Lage sind, zwischen bezahlten Kräften und Freiwilligen zu differenzieren und über die eigentliche Aufgabe hinausgehende Leistungen erwarten.

Übereinstimmend berichten die für die Freiwilligenarbeit Verantwortlichen bei den Trägern, dass die Bereitschaft, sich zu engagieren, sehr viel höher ist, als bislang realisiert, und Angebote gar nicht wahrgenommen werden können, nicht nur im Sozial- sondern vielfach auch im handwerklichen Bereich. Liest man Erfahrungsberichte von Ehrenamtlichen, dann überwiegen bei weitem die positiven Aspekte, die vom Wunsch, etwas fürs Gemeinwohl tun und Menschen helfen zu wollen bis hin zur Erwartung reichen, dass mit der Tätigkeit - zumindest intern - soziale Anerkennung verbunden ist und dass sie Spaß machen soll. An dieser Motivationsstruktur, so ein Projektleiter des 2. Freiwilligensurveys, habe sich nichts grundlegend geändert, obwohl der "Spaßfaktor" im Vergleich zu 1999 im Rückgang begriffen sei.

Sind die heutigen Freiwilligen also pflichtbewusster, eher bereit, sich zeitlich reglementieren und in ein Dienstsystem einspannen zu lassen? Und wäre dieser Befund ein Ansatz, die von der Bundesregierung avisierten "generationenübergreifenden Freiwilligendienste" verbindlicher zu strukturieren und damit die absehbaren Löcher in den sozialen Diensten - zum Beispiel durch einen Wegfall des Zivildienstes - zu stopfen? Und wo liegen die verborgenen Ressourcen: bei der Jugend, den Senioren oder doch eher im Kreis der Arbeitslosen? Die bislang bekannten Daten lassen nur eine vorläufige Trendbestimmung zu. Eindeutig ist, dass sich immer mehr ältere Menschen engagieren und Ostdeutschland gegenüber den westdeutschen Bundesländern aufholt. Fest steht außerdem, dass türkische Migranten und Migrantinnen zwar in vergleichbarer Weise wie ihre deutschen Landsleute in Vereinen, Verbänden und Gruppen aktiv sind, aber nur jeder zehnte ehrenamtliche Dienste übernimmt.

Die Menschen seien motivierbar, behauptet Gretel Wildt, Leiterin der Abteilung Frauen, Jugend und Familie des Diakonischen Werkes, man dürfe aber nicht zulassen, dass sie Tätigkeiten übernehmen, die in die Zuständigkeit von Professionellen gehörten. Dass die Hauptberuflichen wiederum unter "Verdrängungsangst" litten, weil das Ehrenamt als kostengünstige Alternative die unterfinanzierten Gemeinden zu entlasten scheint, sei nachvollziehbar. Paradox, dass die Anwerbung von Freiwilligen von den professionellen Kräften wiederum als Strategie eingesetzt wird, um den eigenen Arbeitsplatz zu sichern. Die Einbeziehung insbesondere von Langzeitarbeitslosen beurteilt Wildt skeptisch: Nur wer aus eigener Kraft etwas tun wolle, könnte sich unter Umständen über die Freiwilligendienste weiter qualifizieren. Die Tatsache, dass Erwerbslose unter den Ehrenamtlichen unterrepräsentiert sind, mag zum einen daran liegen, dass sie sich offiziell für den Arbeitsmarkt bereit halten müssen, zum anderen könnte es ein Indiz dafür sein, dass langfristig Erwerbslose auch aus diesem Bereich des sozialen Lebens ausgeschlossen sind.

Sinnsuche, Identitäts- und Kontaktpflege, Gestaltungswille und der Wille zu helfen, ja, aber Dienstgedanke nein. Im Unterschied zu zwangsrekrutierten Zivildienstleistenden steht und fällt das ehrenamtliche Engagement mit der Freiwilligkeit und der Attraktivität des Tätigkeitsangebots. Mit dem sozialen und kulturellen Engagement werden nicht nur altruistische Ziele verfolgt, es soll auch Kommunikationsbedürfnisse befriedigen und die Lebenserfahrung derer bereichern, denen die Berufsarbeit nicht genug ist und die bereit sind, ihr lokales Umfeld mitzugestalten. In dem Maße, wie die individualisierte Gesellschaft begreift, dass alle aufeinander angewiesen sind, müssen auch die Möglichkeiten auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sein.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.