Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 18 - 19 / 02.05.2005
Zur Druckversion .
Claudia Heine

Berlin als Symbol der Spaltung

Der Mauerbau prägte das deutsch-deutsche Verhältnis
Der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 galt weltweit als Symbol für den Beginn einer neuen Epoche. Ost und West gehörten als Kategorien zur Beschreibung politischer Systeme plötzlich der Vergangenheit an. Dabei hatte der Mauerbau 1961 diese Kategorien keinesfalls begründet, sondern nur bestätigt. Er zementierte einen territorialen Status quo, der Berlin, Deutschland und die Welt in zwei politische Blöcke geteilt hatte. Auch wenn er die Weltpolitik nicht direkt beeinflusste, so veränderte er das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander nachhaltig.

Willy Brandt erreichte die Nachricht im Nachtzug von Nürnberg nach Kiel: "In aller Frühe klopfte ein Bahnbeamter an die Tür meines Abteils. Er überbrachte mir die Nachricht, dass eine radikale Absperrung des Ostsektors begonnen habe; man bitte mich, auf dem schnellsten Weg in meine Stadt zurückzukehren." Also unterbrach der Regierende Bürgermeister seinen Bundestagswahlkampf und kehrte mit dem ersten Flug am Morgen des 13. August 1961 an die Spree zurück.

Dort hatten die Nationale Volksarmee, die Volkspolizei und die Betriebskampfgruppen der DDR schon ganze Arbeit geleistet. Um ein Uhr in der Nacht vom 12. auf den 13. August hatten sie begonnen, den westlichen und östlichen Teil der Stadt mit Stacheldraht voneinander zu trennen. 45 Kilometer innerstädtische Grenze und 160 Kilometer am "Ring" um West-Berlin wurden innerhalb mehrerer Stunden abgeriegelt. Bis sechs Uhr war das "Grenzloch" Berlin im wesentlichen geschlossen. In den folgenden Tagen und Wochen ersetzte man den Stacheldraht mit einer Betonmauer. Die ideologische Spaltung der Welt in Ost und West nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 hatte ihren symbolischen Ausdruck gefunden. Spätestens jetzt war nicht mehr zu leugnen, was auf der politischen Ebene längst Realität, aber in beiden deutschen Staaten mit Wiedervereinigungsfloskeln lange Zeit überdeckt worden war: Die Bundesrepublik und die DDR gingen als Teile verfeindeter politischer Blöcke einen getrennten Weg und bewegten sich auf diesem nicht aufeinander zu, sondern voneinander weg.

Mit der Gründung beider Staaten im Jahr 1949 begann ein direkter Konkurrenzkampf der Länder untereinander. Die Konfrontation der beiden Supermächte USA und Sowjetunion, der Kampf des kapitalistischen gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell machte Nachkriegsdeutschland zur Arena. Wenn der Kalte Krieg einen Ort besaß, dann lag er hier. Hier sollte sich die Auseinandersetzung um die Frage der politischen und wirtschaftlichen Überlegenheit beweisen. Von Anfang an verstanden sich die Bundesrepublik und die DDR deshalb explizit als der gesellschaftliche Gegenentwurf zum jeweils anderen Teil des Landes: Planwirtschaft und Einparteienstaat auf der einen Seite, soziale Marktwirtschaft und ein System der parlamentarischen Demokratie auf der anderen Seite. Unterstützt wurde diese Neugestaltung durch entsprechende Propaganda. Sprach die offizielle DDR vom "imperialistischen Klassenfeind", wenn sie die Bundesrepublik meinte, so wurde der östliche Nachbar in der Sprachregelung der bundesdeutschen Politiker als "kommunistisches Satellitenregime" herabgesetzt.

Doch damit nicht genug. Mit der so genannten Hallstein-Doktrin hielt die Bundesrepublik bis zum Ende der 60er-Jahre an ihrem Anspruch fest, politisch, rechtlich und moralisch allein das gesamte deutsche Volk zu vertreten. Im Kern besagt sie, dass jede Intensivierung der diplomatischen Beziehungen zur DDR als "unfreundlicher Akt" verstanden und mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen beantwortet werden müsse. Ziel war die außenpolitische Isolierung der DDR, die von der Bundesrepublik nicht als souveräner Staat anererkannt und deshalb auch nur als "Ostzone" bezeichnet wurde. Eine aktive Ostpolitik war auf dieser Basis nicht möglich. Dies hätte eine Anerkennung des territorialen Status quo vorausgesetzt.

Auch in der DDR war man noch bis Anfang der 50er-Jahre von einem Alleinvertretungsanspruch und der Hoffnung ausgegangen, das sozialistische Gesellschaftsmodell auf die Bundesrepublik übertragen zu können. Ab 1954 setzten sich jedoch jene politischen Kräfte durch, die auf einen eigenständigen Ausbau des Landes drängten. Mit ihm begann der lange Kampf der DDR um internationale Anerkennung.

Diese politisch-ideologischen Fronten konnten jedoch eines nicht verhindern: Das Bewusstsein der Bevölkerung blieb in den 1950er-Jahren noch sehr stark ein gesamtdeutsches, obwohl die Weichen schon längst nicht mehr auf Wiedervereinigung gestellt waren. Die Bundesrepublik trat 1954 der Westeuropäischen Union (WEU) und 1955 der NATO bei. Ihre Integration in das westliche Bündnissystem war damit besiegelt. Als Pendant zur NATO schlossen sich die Länder des Ostblocks, auch die DDR, 1955 im Warschauer Pakt zusammen. Im selben Jahr verkündete der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow seine Zwei-Staaten-Theorie.

Für die Bevölkerung blieb nicht die Teilung, sondern die Einheit des Landes nach wie vor der gewünschte Normalzustand. Persönliche Beziehungen über die innerdeutsche Grenze hinweg unterstützten das Gefühl, eigentlich immer noch in einem Land zu leben. Allein in den Jahren von 1953 bis 1956 fuhren fast neun Millionen DDR-Bürger zu Besuchen in die Bundesrepublik. Zwar war die wirtschaftliche Einheit zerstört, aber dennoch existierte noch so etwas wie ein gemeinsamer Arbeitsmarkt. Zu Beginn der 50er-Jahre arbeiteten noch "relativ" viele Westdeutsche im Osten. Mit zunehmendem Erfolg des Wirtschaftswunders passierten vor allem die Ostdeutschen zum Arbeiten die Grenzen in Berlin gen Westen. Auch die offiziellen innerdeutschen Handelsbeziehungen funktionierten, trotz zeitweiliger Irritationen, problemlos. Denn der Osten war ökonomisch auf sie angewiesen, und die westdeutsche Wirtschaft wollte auf den Absatzmarkt in der DDR nicht verzichten.

Genau das wurde für die DDR jedoch zunehmend problematisch. Für die Anziehungskraft, die der zunehmende Wohlstand im Westen auf viele DDR-Bürger ausübte, gab es umgekehrt keine Entsprechung. Davon, die Bundesrepublik auf wirtschaftlichem Gebiet schnell zu überflügeln und die Überlegenheit des eigenen Systems zu beweisen, konnte schon gar nicht die Rede sein. Der Sieg im deutsch-deutschen Konkurrenzkampf wurde deshalb seit Mitte der 50er-Jare von der politischen Führung zum Langzeitprojekt erklärt. Handeln musste sie jedoch schnell, denn drei Millionen Menschen hatten das Land bis 1961 verlassen, ein Exodus, der die wirtschaftliche Konsolidierung der DDR nicht nur behinderte. Er war existentiell bedrohend für das Land, dem eigentlich die Rolle des "Schaufensters des Ostens" im Kalten Krieg zugedacht war. Vor allem in Berlin kehrte sich das Rollenverständnis um, denn dort entwickelte sich der Westteil der Stadt zum "Schaufenster des Westens".

Die Berlin-Krise, ausgelöst durch eine Rede Chruschtschows im November 1958, ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Denn mit der Krise der DDR konnte sich auch die Westgrenze des sowjetischen Einflussbereichs in Europa nicht stabilisieren. Der sowjetische Parteichef musste handeln und forderte, aus West-Berlin eine freie, entmilitarisierte Stadt zu machen. Das jedoch hätte die Auflösung der alliierten Garnisionen und die Beseitigung der politischen Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik bedeutet. Gleichzeitig sollte die DDR die vollen Hoheitsrechte "zu Lande, zu Wasser und zu Luft" erhalten. Chruschtschow stellte dem Westen ein Ultimatum von sechs Monaten, um die Forderungen zu erfüllen. Andernfalls werde sich die UdSSR im Alleingang aus ihrer Berlin-Verantwortung zurückziehen und einen Friedensvertrag mit der DDR abschließen.

Erwartungsgemäß erklärten sich die weder die USA noch England und Frankreich zu einer Aufgabe ihrer alliierten Hoheitsrechte bereit. Ein zähes, zweieinhalbjähriges diplomatisches Tauziehen begann, führte aber zu keiner Annäherung zwischen Ost und West in der Berlin-Frage. Im Juni 1961 formulierte der amerikanische Präsident Kennedy jene drei "essentials", die das westliche Bündnis entschlossen war zu verteidigen: erstens die Präsenz amerikanischer Truppen in West-Berlin; zweitens den freien Zugang von der Bundesrepublik zu Berlin und drittens die Sicherung der Überlebensfähigkeit der Stadt. Die Freizügigkeit zwischen beiden Teilens Berlins nannte er ausdrücklich nicht.

Wann der Beschluss zum Bau der Mauer letztlich fiel, ist in der Forschung noch nicht geklärt. Fest steht, dass der Staats- und Parteichef der DDR Walter Ulbricht bei der sowjetischen Führung schon seit einigen Monaten auf einen solchen Schritt drängte, um dem Flüchtlingsproblem zu begegnen. Chruschtschow favorisierte jedoch lange "seine" Berlin-Regelung zur Lösung des Problems. In der offiziellen Begründung des Mauerbaus durch den Ministerrat der DDR hieß es: "Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und Westberlins wird eine solche Kontrolle an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist."

Keine Eskalation

Die USA interpretierten diesen Schritt zu Recht als defensive Maßnahme, die vor allem darauf abzielte, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, ohne aber in die alliierten Rechte in West-Berlin einzugreifen. Entsprechend reagierte der Westen, nämlich zunächst gar nicht: Erst nach 72 Stunden protestierten die westlichen Stadtkommandanten auf wiederholtes Drängen Willy Brandts formell bei ihrem sowjetischen Kollegen. Die Verstärkung der amerikanischen Garnison um 1.500 Mann hatte jedoch mehr symbolischen Charakter. Mit ihr sollte vor allem die Bevölkerung West-Berlins beruhigt werden, denn in der Öffentlichkeit wurde das lange Schweigen des westlichen Alliierten als Verrat gewertet. Die West-Berliner fühlten sich im Stich gelassen. An einer militärischen Eskalation konnte jedoch weder der USA noch der Sowjetunion gelegen sein. Nicht zuletzt deshalb blieben die sowjetischen Streitkräfte im Hintergrund, auch wenn sie die strategischen Fäden der Planung und Durchführung des Mauerbaus in der Hand hielten.

Der DDR gelang es tatsächlich, mit dem Mauerbau die Auswanderungsbewegung zu stoppen. Eine Phase wirtschaftlicher und damit allgemeiner gesellschaftlicher Stabilisierung begann - jedoch zu einem hohen Preis. Und dem Westen blieb nichts anderes übrig, als sich damit zu arrangieren. Im Rückblick mutet es paradox an, dass es ausgerechnet die Abschottung der DDR durch eine Mauer war, die in der Bundesrepublik eine Umorientierung in der Deutschlandpolitik bewirkte. Durch die Zementierung der Teilung wurde offenkundig, was schon lange Realität gewesen war: die Trennung des Landes und die Aussichtslosigkeit einer Wiedervereinigung, an der die Politiker jedoch aus Rücksicht auf ein weit verbreitetes Bewusstsein in der Bevölkerung verbal noch lange festgehalten hatten.

Mitte der 60er-Jahre begann in der Bundesrepublik die Diskussion darüber, ob man nicht im Interesse der Menschen genötigt sei, die DDR als zweiten deutschen Staat formell anzuerkennen. Eine solche Debatte bedeutete einen Paradigmenwechsel, denn vor dem Mauerbau war die Frage einer völkerrechtlich oder anders gearteten Anerkennung der DDR völlig tabu. Danach setzte sich jedoch die Einsicht durch, um eine Anerkennung nicht herum zu kommen, wenn man die harte Trennung zwischen Ost und West wenigstens etwas lindern wollte. Letztlich endete dieser Prozess in der Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt, die der Bundesrepublik die Anerkennung des territorialen Status quo abverlangte. Die DDR hatte dem Mauerbau zwar nicht die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung durch die Bundesrepublik, aber doch das Zugeständnis zu verdanken, normale Beziehungen auf der Basis der Gleichberechtigung zu entwickeln.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.