Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 - 26 / 20.06.2005
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Udo Scheer

Unterordnung oder Ausgrenzung

Zur psychischen Erblast der DDR
Die psychische Erblast der DDR-Diktatur wurde bislang kaum wahrgenommen. Dabei haben Nachwirkungen des frühen Entzugs der Mutterbindung durch sozialistische Kinderkrippen, der menschenverachtenden Drill in der Nationalen Volksarmee oder willkürlich verhängte politische Zuchthausstrafen zum Teil tiefsitzende seelische Deformationen hinterlassen. Auf der anderen Seite konnten Systemträger nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung - und damit ihrer Karrieren - in akute Angststörungen verfallen. Zum Ausbruch kamen und kommen diese Schädigungen mitunter erst Jahre bis Jahrzehnte später durch familiäre Zerwürfnisse, Verlust des Arbeitsplatzes, durch Entwurzelungs- oder Versagensängste.

Sieben Autoren und praktizierende Psychologen haben aus ihren Therapieerfahrungen heraus seelische Schäden als Folge gesellschaftlicher Deformationen bewusst gemacht. Ihr Credo: "Die anhaltende Diskussion über die... Probleme der Wiedervereinigung ist heute primär eine ökonomische. Über Investitionsvolumen, Arbeitslosenzahlen und Bruttosozialprodukte lässt sich leichter sprechen als über psychische Fixierungen, Ängste, Wünsche und innere Konflikte. Und doch ist dies der entscheidende Bereich, von dem aus alle wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen getroffen werden."

An sieben Fallbeispielen - drei ehemalige SED-Genossen, ein IM der Staatssicherheit, ein Krippenkind und zwei sich dem System Widersetzende - gehen die Autoren Folgewirkungen diktatorischer Macht auf die Psyche Einzelner nach. Auffällig ist: In allen Fällen sind fehlende oder verhinderte Mutterliebe und mehrfach die ersatzweise Fixierung auf autoritäre Vaterfiguren wesentliche Ursachen der Psychosyndrome.

Unbewältigte Konflikte

Wenn die Autoren die Schädigungen dennoch primär auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zurückführen, hat das durchaus seine Berechtigung. Die familiären Situationen waren in allen Fällen entscheidend geprägt vom Absolutheitsanspruch des Regimes: Integration durch Unterordnung oder Ausgrenzung.

Exemplarisch und drastisch steht hier die Geschichte jener schwangeren Frau, die Republikflucht begehen wollte, um ihr Kind nicht der sozialistischen Erziehung auszusetzen. Sie wurde gefasst und nach ihrer Weigerung, mit der Staatssicherheit zu kollaborieren, zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Neugeborene musste sie in ein Heim geben. Psychische Folgen bei der Tochter, dauerhafte Entfremdung und eigene Schuldkomplexe kompensierte diese Frau durch uneigennützige Hilfe für andere. Als sie ihren Sozialberuf gesundheitsbedingt aufgeben musste, brach 30 Jahre nach der Flucht ihr unbewältigter Konflikt auf; sie sah sich zunehmend Konzentrations- und Schlafstörungen ausgesetzt. Wie in mehreren anderen Fällen auch blieb der Versuch einer Therapie ohne Erfolg.

Welche Nachwirkung die als fortschrittlich propagierte sozialistische Kinderverwahrung haben konnte, zeigt eindringlich der Fall einer Frau, deren Mutter sie bereits im Alter von sechs Wochen in die Kinderkrippe gab, um wieder als Verkäuferin zu arbeiten. Das System bot die Rahmenbedingungen. Die gesellschaftliche Anerkennung der Frauen war eng verbunden mit Ganztags- oder Schichtarbeit. Erwünschter Zusatzeffekt waren die staatliche Kindeserziehung und die kollektive Einordnung vom Kleinstkindalter an. Die anerzogene strenge Ordnung und ein auf Funktionieren getrimmtes Leben mit fremdbestimmtem Tagesrhythmus führte nach dem Umbruch 1989 dazu, dass diese Frau sich nicht in der Lage sah, flexibel und in wechselnden Umfeldern zu agieren. Die Folgen waren Essstörungen und depressive Reaktionen.

Der Wunsch nach kollektiver Geborgenheit, nach Angenommen-Werden, aber auch kalkuliertes Karrierestreben erklärten drei der Patienten als Motive ihrer Mitgliedschaft in der SED. Dabei waren die individuellen Beweggründe außerordentlich verschieden. Eine Patientin, die sich als Vierjährige die Schuld an der langwierigen TBC-Erkrankung ihrer Mutter gab, suchte in der SED den Mythos der idealen Gemeinschaft. Selbst als ihr erster Mann, ein Bulgare, aus politischen Gründen verhaftet wurde und verschwand, war sie unfähig, Nachforschungen anzustellen.

IM als Vaterersatz

Einer der Patienten, der offenbar durch frühkindliche Trennung von seiner Mutter ein hohes Identifikations- und Anpassungsverlangen entwickelt hatte, fand in der Staatssicherheit einen väterlichen Freund. Während des Studiums ließ er sich als IM anwerben, glaubte, den Aufbau des Sozialismus so noch besser unterstützen zu können. Als er sich 1991 durch Selbstanzeige, so sein Bericht, geoutet habe und statt der erhofften Anerkennung aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurde, kam seine depressive Veranlagung zum Durchbruch.

Ein anderer, dessen Familie in drei Generationen aktiv den Nationalsozialismus und die SED-Diktatur mit getragen hatte, suchte nach dem Zusammenbruch erfolglos ein neues Schutz- und Versorgungssystem. Nach dem Verlust seiner Karriere und Macht über andere floh er in Krankheit.

Dieser Querschnitt von Fällen berührt einen Wesenskern quasitotalitärer Strukturen. Und doch bleiben sie zufällige Einzelfälle. Das "Leichengift der DDR", das ganze Ausmaß der chronischen, auf der Couch oft nicht heilbaren Erkrankungen, auf die Günter Kunert in seinem Vorwort verweist, ist so kaum zu erahnen. Um die Dimension systembedingter psychischer Erkrankungen ermessen zu können, wäre eine statistische Übersicht und summierende Ursachenanalyse eine so wünschenswerte wie lohnende Ergänzung für diese Studie.


Tomas Plänkers, Ulrich Bahrke, Monika Baltzer, Ludwig Drees, Gerold Hiebsch, Marion Schmidt, Dagmar Tautz

Seele und totalitärer Staat.

Zur psychischen Erbschaft der DDR.

Psychosozial-Verlag, Gießen 2005; 178 S., 19,90 Euro


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