Heimatlosigkeit? Eva Habel wurde in Bayern geboren, Jahre nach den dramatischen Ereignissen der Nachkriegszeit. Sie wuchs in Waldkraiburg auf, einer Stadt, die von Vertriebenen, hauptsächlich solchen aus der Tschechoslowakei, aus dem Boden gestampft worden war. In Waldkraiburg zu leben hieß zwangsläufig, unter Menschen groß zu werden, denen in ihrer ehemaligen Heimat tiefe, lebenslang spürbare Verletzungen zugefügt wurden. Bisweilen hat sie auch Geschichten von "guten" Tschechen gehört, die 1945 ihren gedemütigten deutschen Landsleuten halfen, doch meist waren es Erzählungen von der Vertreibung; Geschichten, die nur hinter vorgehaltener Hand berichtet oder aus Rücksicht auf die Kinder oder die eigenen Wunden sogar ganz verschwiegen wurden. Auch Eva Habel fand zu ihrer eigenen Geschichte erst nach einem längeren Umweg. Sie studierte vergleichende Volkskunde, promovierte, und beschäftigte sich erst einmal mit wissenschaftlichen Fragen bayerischer kultureller Überlieferungen. Das Nachdenken über die eigene Herkunft begann erst später, als ihr immer klarer wurde, wie sehr ihre Fremdheitsgefühle, die sie seit der Kindheit spürte, Folge der unfreiwilligen Verpflanzung ihrer Familie waren. Um mehr zu verstehen, begann sie, sich die Erinnerungskultur der Vertriebenen zu erschließen.
Aber es gab auch die Erzählungen aus der neuen Heimat. Geschichten von schwierigen Anfängen in Deutschland, von dem Gefühl der Fremdheit. Auch wenn die Familien noch so anpassungswillig waren, blieben sie lange Zeit kleine Enklaven der verlorenen und doch mitgeschleppten Heimat. Sie waren anders als die Einheimischen. Den Kaffee haben ihre Eltern nicht aus Tassen, sondern aus Tipfln getrunken, sie aßen Ribisel, Buchteln, Kollatschen und Paradeiser.
Als es der Großmutter von Eva Habel gelang, in der neuen Zwangsheimat im bayerischen Schwaben eine kleine Parzelle zu ergattern, legte sie ein Extrabeet für Knoblauch an. Der war nicht nur für den Eigenbedarf bestimmt, sondern wurde postalisch an die verstreut lebende Verwandtschaft verschickt, da das Fehlen dieses Gewächses in deutschen Gemüsegeschäften als Einschränkung mitgebrachter Kochkünste beklagt wurde. Gerne zitiert Habel aus dem Brief eines Onkels, der nach seiner Vertreibung aus der barocken Geborgenheit seiner böhmischen Heimat aus dem flachen Norddeutschland überschwänglich schrieb, wie sehr er den ihm zugesandten Knoblauch der Großmutter genossen habe. Der Konsum dieser Pflanze habe ihm in der Straßenbahn jedoch böse Blicke und die Beschimpfung "Balkanese!" eingebracht.
Und auch Bernd Posselt, Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft, erzählt: "Heute ist es anders als früher. Man geht zum Griechen und isst etwas mit Knoblauch. Das hat man uns damals aber vorgeworfen. Ein so genannter anständiger Deutscher, hat so etwas nicht in den Mund genommen, bei uns aber wurde fast alles mit Knoblauch gegessen. Mit Begeisterung! Auch unsere Würste waren würziger. Die Würste, die die Badener uns aufhalsen wollten, waren langweilig. Wir hatten andere Klänge, Gerüche, Bilder, einen anderen Humor und Musikalität", erinnert er sich. Posselt kann nur lachen, wenn er hört, dass ein Kind türkischer Eltern, das in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, kein Türke mehr sein soll. "Wir leben als Deutsche in Deutschland und trotzdem sind wir anders. So etwas dauert zwei, drei Generationen." Das findet er in Ordnung, auch für die Türken.
Dass ihm gutes Essen schmeckt, das verrät seine barocke Figur, dass er aber seine Herkunft nicht allein auf die Besonderheiten der Speisen oder der Sprache beschränkt wissen möchte, macht Posselt - ganz der Homo Politikus - sogleich klar. Als Abgeordneter des Europaparlaments arbeitet er seit elf Jahren in Ausschüssen für Menschenrechte und Minderheitenfragen mit. Das habe viel mit seiner Herkunft zu tun, sagt er. "Manchmal werde ich gefragt, warum ich mich nicht lieber um Wirtschaftsfragen kümmere, das würde doch mehr einbringen. Nein, wenn mir das Thema der Ausrottung der Karen in Burma am Herzen liegt, hat es damit zu tun, dass meine Familie vertrieben wurde."
Nach unterschiedlichen Schätzungen leben in Deutschland heute mindestens fünf Millionen Nachkommen der aus der Nachkriegstschechoslowakei vertriebenen Deutschen. Wie viele von ihnen sich auf diese Herkunft wirklich beziehen, ist kaum zu ermitteln. So stellt sich die Frage, ob sich unter den fünf Millionen genügend Menschen finden werden, die die jahrhundertealte Kultur der einst zweisprachigen böhmischen Länder weiter pflegen werden, oder ob sie dem Untergang, bestenfalls der Musealisierung anheimfallen wird?
Wer sich auf dem Sudetendeutschen Tag umschaut, der jedes Jahr zu Pfingsten stattfindet, dem fällt sofort das Übergewicht der älteren oder ganz alten Menschen auf, die von Insidern manchmal als "Erlebnisgeneration" bezeichnet werden, da sie noch selbst die Vertreibung durchgemacht haben und über die Heimat zu berichten wissen.
Als das "Bärner Ländchen", das Heimatblatt der aus einer Region in Böhmisch-Schlesien vertriebenen Deutschen, einen neuen "Ortsbetreuer" suchte, da der bisherige altersbedingt seine Arbeit nicht mehr bewältigen konnte, war Thomas Köpnick, 28 Jahre alt, Angestellter aus Berlin, zur Stelle. Seine Aufgabe ist es, die Seelenliste der ehemaligen Bewohner von Bärn zu führen. "Es ist doch berichtenswert, dass jemand 90 Jahre alt geworden ist." Und die Todesdaten? Er ist sich sicher, dass er der letzte "Ortsbetreuer" sein wird. "Nach mir wird es keinen mehr geben."
So düster sieht Bernd Posselt die Lage keineswegs: "Was glauben Sie, wie viele Leute aus meiner Generation sich jetzt bei uns melden und sagen, dass sie zwar früher von der "Sache" nichts wissen wollten, damals ,als noch ihre Eltern und Großeltern lebten. Jetzt kommen sie zu uns, weil sie etwas über ihre Wurzeln erfahren wollen." Er weist auch auf Harald Schmidt hin, der ein Kind deutsch-böhmischer Eltern ist. In einer seiner Shows soll sich der Star dagegen verwahrt haben, dass sein Humor schwäbisch sei. "Das hat er schnell richtig gestellt", sagt Posselt nicht ganz ohne Stolz, "und darauf hingewiesen, dass sein Humor böhmisch ist."
Bernd Posselt ist 49 Jahre alt. Das Wort Erlebnisgeneration mag er nicht, es schaffe eine unnötige Ausgrenzung. Er habe Dinge erlebt, die ihn auf eine besondere Art mit seiner Herkunft verbinden. "Als Kind habe ich erfahren, was es heißt, nicht dazuzugehören." In Karlsruhe war er ein Fremder, obwohl er dort aufgewachsen ist. Die Alt-Badener seien eine Gesellschaft für sich gewesen. Sie hätten sich gegenseitig geholfen, er dagegen musste sich selber helfen.
Kein Gedenken fürs Museum
Auch Eva Habel sieht ihre Arbeit nicht als Beitrag zur Musealisierung, auch wenn zu ihrem Repertoire Ausstellungen wie "Kulinarische Erinnerungen an Böhmen, Mähren und Böhmisch - Schlesien" gehören, in denen als Erinnerung für die Kinder von den Eltern handgeschriebene Kochbücher gezeigt werden. Sie gerät ins Schwärmen, wenn sie von den unzähligen Dorf- und Stadtchroniken der zurückgelassenen Orte und über andere schriftliche, biografische und familienbezogene Aufzeichnungen "für wen auch immer" spricht, die erst nach der Vertreibung entstanden. So, als wollten sie das Verlorene noch einmal festhalten, es sogar verewigen, richteten die Vertriebenen in den Nachkriegsjahrzehnten viele kleine Heimatmuseen und Archive ein, in denen die schriftlichen, künstlerischen und volkskundlichen Zeugnisse aus der alten Heimat zusammengetragen wurden. Oft sind die Bestände immer noch nicht gesichtet oder bearbeitet, da es an Geld und oft auch an Fachkräften fehlt.
Als Heimatpflegerin begibt sich Eva Habel häufig auf Spurensuche in das Land ihrer Eltern. Wenn sie nach Tschechien fährt, sucht sie dort auch das, was durch die gewaltsame Trennung beider Völker verloren ging, ihren Eltern und damit auch ihr. Sie lernt tschechisch, so wie manche andere böhmisch. Diese Anziehungskraft, die beide Gruppen auch früher füreinander spürten, als sie noch unter einem Dach lebten, ist eine Fährte, der Eva Habel nachgeht. Und auch der Frage, wieso diese Nähe in einem alles entscheidenden Moment genau in das Gegenteil umschlug, obwohl "es doch auch ganz anders hätte kommen können".
Diese Faszination scheint fortzudauern, auch bei den ganz Jungen auf beiden Seiten. Lenka Brázdilová, eine 20 Jahre junge Tschechin, die eine beachtete Arbeit über die Wischauer deutsche Sprachinsel in Südmähren schrieb, formulierte ihr Bild von "unseren Deutschen" so: "Es steckt auch etwas Tschechisches in ihnen. Indem sie in Deutschland Traditionen bewahren, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, zeigen sie, dass sie in ihrem Herzen ein Plätzchen für ihre Heimat haben, die jetzt unsere Heimat ist. Sie pflegen sie weiterhin als ihre Heimat, obwohl wir ihnen nicht erlaubt haben, in ihr zu bleiben. Sie werden für mich niemals `reine? Deutsche sein, sondern immer etwas von ihren tschechischen Nachbarn in sich tragen."