Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 08.08.2005
Zur Druckversion .
Richard Chaim Schneider

Der jüdische Staat sieht sich weiterhin im Abwehrkampf - im Innern und nach außen

Das Kernproblem Palästina - die sicherheitspolitische Sicht

Als diese Zeilen geschrieben wurden, waren es noch wenige Wochen bis zum geplanten Abzug aus Gaza. Es deutete sich an, was viele befürchteten: Gewalttätigkeiten zwischen Juden. Kinder der Siedler legten sich zum Protest auf die Autobahn, um den Verkehr zum Erliegen zu bringen. Ihre Eltern streuten Nägel auf Verkehrsstraßen, ebenso Öl, um Chaos zu verursachen. Soldaten, Polizei und radikale Siedler lieferten sich Prügeleien. Siedler haben auch versucht, einem Palästinenser, der wehrlos am Boden lag, den Schädel einzuschlagen, vor laufenden Kameras. Das israelische Fernsehen allerdings – und das ist ein Unterschied zur anderen Seite, etwa zu Al Dschasira – brachte diese Bilder in den Hauptnachrichten, und die Wut der großen Mehrheit der Israelis auf die Siedler wuchs zunehmend.


War die Zustimmung für den Abriss der Siedlungen in Gaza in den letzten Wochen merklich gesunken, da die israelische Bevölkerung daran zweifelte, dass sich daraus etwas Positives für das Land entwickeln könnte, so drehte sich zuletzt die Stimmung. Man mochte diese Verrückten doch nicht. Die Bevölkerung begann allmählich zu begreifen, dass der Kern dieser fanatischen Siedler das Land in Geiselhaft nahm. Würde es zum Abzug kommen? Wenn ja, was wird dies für den Friedensprozess bedeuten? Bereits in dieser Frage steckt ein grundlegender Irrtum vieler Europäer. Es gibt keinen solchen Prozess, schon lange nicht mehr. Es gibt im besten Falle nur ein Krisenmanagement, das Bemühen, den  Status quo irgendwie zu erhalten. Mehr nicht.

Unnötig an dieser Stelle darauf einzugehen, dass die Besatzung von Westjordanland und Gaza aufhören muss. Ebenso unnötig darauf hinzuweisen, dass beide Seiten – Israelis und Palästinenser – es in der Vergangenheit noch immer geschafft hatten, Chancen für eine echte Annäherung zu verpassen oder, falls diese sich doch entwickelten, sie sogleich wieder zu zerstören. Seit der Zweiten Intifada (September 2000 bis Februar 2005) sitzt das Misstrauen auf israelischer Seite gegenüber den Palästinensern tiefer denn je. Wie könnte es also aus israelischer Sicht weitergehen?

In Europa wirft man Ariel Scharon gerne vor, den Abzug aus Gaza aus opportunistischen Gründen voranzutreiben; er wolle damit lediglich ein demografisches Problem loswerden: Rund 1,5 Millionen Palästinenser, die, wenn sie unter Besatzung blieben, zusammen mit denen in der Westbank dafür sorgen würden, dass in nur wenigen Jahren eine jüdische Minderheit über eine arabische Mehrheit zwischen Jordan und Mittelmeer herrschen würde. Scharon würde, heißt es weiter, Gaza nur aufgeben, damit die Welt glaube, er würde Konzessionen für den Frieden machen. In Wirklichkeit sei dies nur ein Trick, um die Siedlungen in der Westbank zu behalten. All das mag stimmen oder nicht. Selbst wenn dies die wahren Beweggründe von Scharon gewesen sein mögen: Mit seiner Entscheidung hat er einen doppelten Tabubruch vollzogen, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Ausgerechnet der ?Vater der Siedlungen“ ist willens, diese aufzugeben und gibt damit indirekt zu, dass sie ein Hindernis  für einen Staat sind, der seinen jüdischen und demokratischen Charakter bewahren möchte. Damit aber hat Scharon eine Bresche in die politische Rechte eine Bresche geschlagen, die einen Status quo ante nicht mehr zulassen und somit, auf lange Sicht, vielleicht eines Tages ein Umdenken in Sachen Westbank ermöglichen wird.

Nur – wann könnte dieser Tag kommen? Das, so sieht es Israel, liegt allein an den Palästinensern. Selbst wenn man vom sicheren europäischen Kontinent aus Israel leicht verurteilen mag, die israelische Rechte hat zumindest in einem Punkt recht behalten: Dem Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat nicht zu trauen.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass er den Terror zugelassen und unterstützt hatte, und damit kein ehrlicher Verhandlungspartner war. Von der Korruption in seinem System ganz zu schweigen, von demokratischen Reformen, wie sie von Seiten vieler Palästinenser gefordert wurden und werden, nicht die Spur.

Israel musste zusehen, wie sich in den Straßen des eigenen Landes Terroristen in die Luft jagten und Zivilisten töteten, und sich eben nicht auf den Kampf gegen Soldaten und Siedler ?beschränkten“, was zumindest als ?normaler Krieg“ verstanden worden wäre. Durch den taktischen Fehler, den Terror auch nach Israel hineinzutragen, erreichten die palästinensischen Fundamentalisten nur, dass selbst friedfertige, linke Israelis sich mit den Siedlern identifizierten. Nicht politisch, sondern im Kampf ums Überleben. Da war schlagartig kein Unterschied mehr, wo man lebte. Für sie ging und geht es immer nur um eines: gegen Juden. Damit aber haben sich die Palästinenser keinen Gefallen getan. Sie haben das Holocaust-Trauma der Nation unterschätzt.

Auch die ?Mauer“, die die Regierung Scharon entlang der Grünen Linie und leider auch tief in die Westbank hineingezogen hat, ist eine Folge, nicht Ursache des palästinensischen Terrors. Die ?Mauer“, die zumeist aus Zäunen besteht und nur an wenigen Stellen wirklich Mauer ist – der Begriff soll, vor allem in Deutschland, entsprechende Assoziationen wecken – ist eine Reaktion auf den Terror gewesen! Das macht den Verlauf dieser Absperrung nicht besser. Israel hat palästinensisches Land konfisziert, mehr als 70.000 Olivenbäume herausgerissen, Dörfer teilweise eingesperrt, den Alltag der Palästinenser um vieles verschlimmert. Das aber interessiert die große Mehrheit der Israelis nicht mehr, denn dort, wo der Sperrzaun bereits steht, gibt es keinen Terror mehr!

Nur ein Beispiel: Waren von der palästinensischen Stadt Kalkilija aus in Zeiten der Zweiten Intifada noch über 70 Anschläge verübt worden, so gab es keinen einzigen mehr, seitdem dort die Mauer steht. Direkt vor Kalkilija verläuft eine israelische Straße. Nicht nur, dass die Bewohner der Stadt direkt auf die Autos geschossen und auch eine neunjährige Israelin getötet hatten. Sie hielten Taxis an, ließen sich in 15 bis 20 Minuten nach Tel Aviv kutschieren, um sich dann dort in die Luft zu sprengen. Für die allermeisten Israelis ist der Sperrzaun somit gerechtfertigt. Er wirkt. Für sie ist zunächst einmal wichtig, nicht im Bus oder im Caféhaus zerfetzt zu werden. Sollte irgendwann einmal Frieden sein, dann kann man den Zaun ja wieder abreißen. Zäune und Mauern können beseitigt, ein Toter aber nicht wieder zum Leben erweckt werden. So trösten sich in Israel auch diejenigen, denen durchaus bewusst ist, dass die Menschenrechte durch den Zaun mit Füßen getreten werden.

Gibt es dennoch Chancen für einen neuen Friedensprozess? Kaum, solange Imame in Moscheen gegen ?die Juden“ (nicht nur gegen Israelis) zum Heiligen Krieg aufrufen; solange die palästinensische Regierung nicht willens ist, ernsthaft dem Terror der Fundamentalisten Einhalt zu gebieten. Sind sie dazu überhaupt in der Lage? Israel ist überzeugt, dass Mahmoud Abbas die Mittel dazu hätte. Ob er auch den politischen Willen hat, wird angezweifelt. Und vielleicht ist es wirklich so, dass er nicht die Macht hat, Hamas und Islamischem Dschihad Einhalt zu gebieten. Dann aber – auch dies ist israelische Überzeugung – dürfe sich das palästinensische Volk nicht wundern, wenn Israel auf Terror mit Gegengewalt reagiert. Solange die Paläs-tinenser nicht echten Willen zum Frieden zeigen, solange wird politisch nichts geschehen, was Israel gefährden könnte. Das europäische Argument, der Stärkere – also Israel – müsse auf den Schwächeren zugehen, größere Zugeständnisse machen, ist aus dieser israelischen Sicht gefährlicher Unsinn. Umgeben von 250 Millionen feindlich gesinnten Arabern, empfindet man sich nicht als ?stärker“, höchstens militärisch. Und diese Stärke muss für das Überleben unbedingt erhalten bleiben. So einfach ist das. Sämtliche Friedenspläne, vom Tenet-Plan bis zur Roadmap, sind unsinnig, solange sie nicht die Konfliktparteien dort abholen, wo sie stehen: In totalem Misstrauen, in Angst und Hass und im mangelnden Willen, auf ihre jeweiligen Totalansprüche zu verzichten.

Was aber könnten die Palästinenser tun, um Israel zu Konzessionen zu zwingen? Sie könnten, sollten und müssten dafür sorgen, dass nach dem Abzug aus Gaza keine einzige Kassam-Rakete mehr auf israelisches Territorium abgeschossen wird. Wenn Israel sähe, dass an der neuen Grenze tatsächlich Ruhe herrscht, dass aus Gaza keine Gefahr mehr hinüberschwappt, dann könnte, ja, müsste eine israelische Regierung, egal welche, langfristig auch in der Westbank reagieren. Mit dem Abzug aus Gaza ist der Tabubruch vollzogen. Eine Aufgabe weiterer Siedlungen in Judäa und Samaria, wie die Siedler die Westbank nennen, ist schon jetzt nicht mehr undenkbar.

Inzwischen wird sich Israel zunächst um ein innenpolitisches Problem, ein sehr ernsthaftes, kümmern müssen. Die Bilder, die man zuletzt jeden Tag von den Siedlern sehen konnte, die Gewaltbereitschaft gegenüber dem eigenen Staat, gegenüber Militär und Polizei, hat der Bevölkerung klar gemacht, dass man sich in den vergangenen 30 Jahren ein Ungeheuer im eigenen Haus herangezüchtet hat, unterstützt von rechten wie auch linken Regierungen! Denn die ideologische Besiedlung der besetzten Gebiete wurde von allen Seiten gutgeheißen. Nun aber richten sich diese wie ein Krebsgeschwür gegen den Staat selbst. Begriffe wie ?Bruder-“ oder ?Bürgerkrieg“ machen längst die Runde, und der jüdische Staat wird sich entscheiden und seine demokratischen Strukturen verteidigen müssen.

Nur wenn das Land in der Lage ist, seine politischen, gesellschaftlichen und religiösen Fehler zu korrigieren, nur dann hat Israel eine Chance zu überleben. Der innere Kampf ist für die Zukunft des jüdischen Staates längerfristig vielleicht noch entscheidender als die Jahrzehnte andauernden Kämpfe mit arabischen Nachbarn. Dies ändert freilich nichts daran: Die über Generationen vom Trauma der Vernichtung verfolgten Juden/Israelis brauchen unmittelbar Sicherheit. Und das heißt ein Ende des palästinensischen Terrors und die Anerkennung seiner Existenzberechtigung durch sämtliche orientalischen Nachbarn.


Richard Chaim Schneider arbeitet als Filmemacher für die ARD, Journalist und Autor in München.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.