Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 08.08.2005
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Claus Leggewie

Fatale Dialektik der Vorurteile

Ein neuer Anti-Semitismus und alter Anti-Amerikanismus verschmelzen zum neuen Anti-Okzidentalismus

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden Amerikaner Opfer jener fatalen Schuldzuschreibung, die Juden seit Jahrhunderten erfahren: Sie hätten bekommen, was sie verdienten; eine imperialistische Macht müsse sich nicht wundern, wenn ihr die Quittung ausgestellt werde. Das Opfer sei selbst schuld an seiner Vernichtung, lautete die Kernaussage in der These vom "eliminatorischen Antisemitismus" (Goldhagen), der in islamistischen Kreisen offen vertreten wird. "Treibt die Juden ins Meer" gehört zur Spielart des sekundären Antisemitismus nach Auschwitz - nach Verwirklichung der Ausrottungsfantasien -, der Juden und ihre vermeintliche Schutzmacht im Übrigen wegen Auschwitz ins Visier nimmt, da sie die Welt angeblich zur Solidarität mit Israel erpressen.


Die Amalgamierung beider Feindbilder zum "Anti-Okzidentalismus" ist das Neue am neuen Antisemitismus, den man als Abwehrreaktion auf kulturelle Globalisierung, aber auch als eine Spielart davon verstehen kann. Schon der christlich gespeiste Judenhass besaß eine universale Bezugsgröße – die Konkurrenz der Weltreligionen –, aber Getto isierung und Pogrome blieben im Rahmen lokaler, traditionsgebundener Gemeinschaften. Der moderne, säkular und ethno-nationalistisch ausgerichtete Antisemitismus war pseudowissenschaftlich begründet und stets gegen ein imaginiertes, konspirativ tätiges "Weltjudentum" gerichtet, vor dem die von Modernisierung und Entgrenzung bedrohte "Volksgemeinschaft" geschützt werden sollte. Nach dem Aufstieg zur führenden Industrienation und Militärmacht wurden die USA fast zwangsläufig zum Symbol dieser Globalisierung und der Finanzkapitalismus ("Wall Street") Projektionsfläche antijüdischer Stereotypen.

Neu unter den Spielarten von Judenhass ist mithin nicht die globale Dimension oder die Zuschreibung radikaler Alterität, auch nicht die Tatsache, dass antisemitische Einstellungen sich in Krisenzeiten zyklisch erneuern. Bemerkenswert ist heute vor allem die Symbiose linker und rechter Feindbilder in transnationalen Bewegungen, die sich kritisch mit der Globalisierung auseinandersetzen und zum einen Freihandel und Finanzkapital, zum anderen die Militärpolitik Israels und der USA ins Visier genommen haben. Als Verbindungsglied dient der Tiersmondismus (Dritte-Welt-Solidarität), insbesondere der Bezug auf die islamische Welt, die pauschal als Opfer einer kollektiven westlichen Aggression angesehen wird.

Antisemitische Stereotypen sind unter muslimischen Einwanderern in Europa stark verbreitet: in einer Mischung aus alten, im Koran verankerten Klischees (Juden als Ungeziefer, Raubtiere, Blutsauger, Kindermörder – als Weltenherrscher) mit einer mystifizierten Intifada gegen Israel, dessen Existenzrecht negiert wird. Dabei werden der Holocaust in der Regel verharmlost oder geleugnet, die Israelis mit Nazis gleichgesetzt und eine Wiederholung des Massenmordes oft wörtlich angekündigt. Antisemitische Propaganda wird verbreitet über einschlägige Schriften (die berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion" sind in der arabischen Welt Longseller wie "Mein Kampf") und nationale TV-Sender (etwa Ramadan-Serien in der Türkei und Ägypten), die via Satellit in Europa zu empfangen sind.

Antisemitismus ist Topos einer Kulturkritik, die eine tiefe Krise der islamischen Zivilisation signalisiert: Israel gilt als Sinnbild westlicher Werte und Agent der Erniedrigung des Islams, wie Sayyid Qutb, Ideologe der Bruderschaften ("Unser Kampf mit den Juden") schon in den 50er-Jahren darlegte, parallel zu einer radikal antiwestlichen Einstellung, die er bei einem USA-Aufenthalt gewann. Dazu passte ein frühes Einverständnis zwischen Nationalsozialismus und Islamismus, personifiziert im Großmufti von Jerusalem, Amin El-Husseini, auch die Gründer von Baath-Partei und PLO waren davon beeinflusst. Der Antisemitismus ist eine, wenn nicht die zentrale Identitätsfigur der muslimischen Welt geblieben, wie man an der weithin unwidersprochenen Rede des malaysischen Premiers Mohamad Mahathir auf dem Gipfel der islamischen Staaten im Oktober 2003 ablesen konnte.

Antijüdische und antiamerikanische Hetze verbreiten sich global über Al Dschasira und Al Manar und greifen über auf muslimische Einwanderergemeinschaften. Diese messen eigene Diskriminierungserfahrungen am Schicksal der Juden in Europa oder die eigene Opferrolle an der vermeintlichen Übermacht der Israelis und Amerikaner. Aus dieser Sicht gelten die Juden als "Tätervolk", was über populäre Webseiten und Sender sowie über Hasspredigten in europäischen Moscheen verkündet wird. Mittlerweile hat sich stellenweise ein antisemitisches Milieu in Vorstädten herausgebildet, das auch Verbindungen zur rechtsradikalen Szene unterhält. Nationalpopulistische Bewegungen agieren an dieser Schnittfläche, indem sie als Opfer einer angeblich von einem ?Meinungskartell“ verordneten, politisch korrekten "Schweigepflicht" auftreten (der Fall Möllemann oder Hohmann) und sich dagegen als mutige Tabubrecher aufspielen – eine gerissene Spekulation auf Meinungskontrolle und Zensur, die angeblich durch große (das heißt in jüdisch-amerikanischer Hand befindliche) Medienkonzerne ausgeübt wird. Das Medium des Antisemitismus ist die unveröffentlichte Meinung, die über Meinungsführer im privaten Kreis transportiert wird.

Antisemitismus im islamischen Einwanderer-Milieu wird in xenophilen und antizionistischen Kreisen oft bagatellisiert. Beispielhaft war die hinausgezögerte Veröffentlichung der Studie der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeitvon 2002/2003, die den Anstieg antijüdischer Diskriminierungen, Hassreden und Gewaltakte insbesondere bei Angehörigen der zweiten und dritten Einwanderergeneration nachweisen konnte.

Die Eskalation des Nahostkonflikts hat die Gewaltbereitschaft erheblich gesteigert, wobei die jungen Muslime in Notwehr zu handeln behaupten. Die Anerkennung solcher Strömungen gilt vielen als inopportun, da sie angeblich die Integrationsbemühungen der Einwanderer hintertreibe und deren eigene Diskriminierungserfahrungen relativiere – solche Schutzbehauptungen kommen auch von Personen, die sich an geschichtspolitischer Korrektheit in Sachen Holocaust nicht übertreffen lassen. Die Grenze zum Antisemitismus ist klar überschritten, wenn noch so strittige israelische Militäraktionen im Gaza-Streifen oder auf der Westbank mit dem Völkermord an den Juden gleichgesetzt werden. Neu ist also ein sich ausbreitender Israel-bezogener Antisemitismus, der auf bekannte Stereotypen zurückgreift.

Wenn Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus agiert, wird damit eine respektable geistige Haltung, die auch unter Juden vor wie nach Gründung Israels vorhanden ist, ebenso kontaminiert wie seinerzeit der Antifaschismus, der zur Herrschaftsideologie sozialistischer Repressionsregime verkam. Wenn Teile der globalisierungskritischen Bewegung – stellvertretend kann man Attac in Frankreich und Deutschland anführen, insbesondere der Einfluss linksradikaler Splittergruppen – Sympathie mit der Intifada erkennen lassen, kann man dies auf einen älteren "Paradigmenwechsel" zurückführen: Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 erwies sich die europäische Linke, für die Solidarität mit den Überlebenden der NS-Verfolgung selbstverständlich war, zunehmend Israel-kritisch, antizionistisch und PLO-freundlich. Diese Haltung wurde durch das Vordringen eines radikalen Islamismus seit Ende der 70er-Jahre nicht revidiert, sie aktualisierte sich vielmehr im Vorfeld des Irak-Krieges, etwa in Demonstrationen für Palästina.

Mitte 2003 wurde zum Boykott israelischer Waren aufgerufen, und der Tonfall der Aufrufe bewirkte eine Debatte in der globalisierungskritischen Bewegung. Ein Beispiel dafür entnehme ich der erwähnten Webseite (muslim-markt.de), die eine Mischung aus virtuellem Halal-Shopping und religiös-politischer Indoktrination betreibt. Dort wird unter dem aus den Anfängen der NS-Judenverfolgung bekannten Motto "Kauft nicht bei Juden" zur Ablehnung israelischer Produkte aufgerufen mit der Begründung: "'Israel'" ist ein Pseudostaat, der auf geraubtem und enteignetem Boden aufgebaut ist. Die Flüchtlinge dürfen auch 50 Jahre nach ihrer brutalen Vertreibung nicht in ihre Heimat zurück. Gleichzeitig übersät 'Israel' die gesamte Region mit Terror und Schrecken. Die Palästinenser dürfen bis heute nur ein minderwertiges Dasein von zionistischen Gnaden fristen. Die Heiligen Stätten der Muslime werden immer wieder geschändet …" Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich dieser Boykott nicht gegen die Religion des Judentums und ihrer Anhänger richtet, sondern "gegen das Apartheidregime von 'Israel' und dessen Unterstützer, die mitverantwortlich an der Unterdrückung sind". Verbraucherboykott, ein effizientes Mittel der globalisierungskritischen Bewegung (siehe Brent Spar-Kampagne gegen Shell) wird antizionistisch aufgeladen und missbraucht. Noch stärker auf antisemitische Stereotypen rekurriert die für Aufmärsche dieser Kritiker typische Inszenierung von Feindbildern, die als Puppen oder Transparente mitgeführt werden und den Charakter von politischem Karneval haben sollen.

Im Oktober 2003 verabschiedete Attac Deutschland eine Erklärung zu Antisemitismus und Nahostkonflikt und wies alle Vorwürfe zurück, aber in Aufrufen der Globalisierungskritiker wird die begründete Kritik an Wirkungen des Freihandels und transnationaler Finanzunternehmen häufig so stark emotionalisiert und personalisiert, dass sie an die nationalpopulistische Schelte der "Plutokratie" heranreicht und Anklänge an die eindeutig antisemitisch kontaminierte Unterscheidung zwischen "raffendem" und "schaffendem Kapital" nicht verbergen kann. In die Kapitalismuskritik der Linken sind immer wieder dubiose Affekte gegen freien Güterverkehr, westliche Zivilisation, universale Rechte und Demokratie eingeflossen. Ihre Imperialismuskritik reduziert sich oft auf einen platten, von Vorurteilen durchzogenen Affekt gegen Amerika als Fast-Food-Nation mit Cowboy-Mentalität bzw. eine Dämonisierung westlicher Führer wie Bush, Blair oder Scharon. Hier blüht, wie die Reaktion auf den 11. September gezeigt hat, der "paranoide Stil der Politik" (Richard Hofstaedter). Ein rationales Konzept für die Befriedung ist hier ebenso wenig zu erwarten wie die Anerkennung der Leitidee der Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens mit friedlichen Mitteln.

Problematisch ist also nicht allein der in die globale Anti-Kriegsbewegung eingesickerte Antisemitismus, sondern auch der ebenso aus dem Lot geratene Anti-Antisemitismus, der jede Kritik israelischer bzw. amerikanischer Politik oder der kapitalistischen Globalisierung mit dem Totschlagargument "antisemitisch" im Keim ersticken will. Dass Antisemitismus und Anti-amerikanismus sich überlagern und zu einem Syndrom des Antiokzidentalismus verwachsen sind, liegt nicht nur an der identischen und volatilen Struktur des zugrunde liegenden Vorurteils, sondern auch an der seit Ende der 60er-Jahren enger gewordenen politisch-militärischen Allianz beider Staaten und – seit dem 11. September – in ihrer engen Übereinstimmung bei der Terrorbekämpfung, gegen deren Effektivität und Legitimität man vieles einwenden kann. Mit anderen Worten: Dass Israel und die USA an Sympathien und "soft power" eingebüßt haben, liegt jenseits aller hier dargelegter Ressentiments auch an einer verfehlten Politik, die aus fadenscheinigen Gründen ignoriert und beschönigt wird. Anders gesagt: Zum neuen Antisemitismus trägt erstmals auch die Politik der Stärke des Staates Israel selbst bei.

Beispiele für die fatale Dialektik von Antisemitismus und Anti-Antisemitismus kann man bei der Gruppe der so genannten "Antideutschen" feststellen, die im Sinne Goldhagens von einer prinzipiell judenfeindlichen Haltung der Bevölkerung ausgehen und ihr eine Wiederholung des Holocaust zutrauen. "Antideutsch" war bereits die kategorische Antwort auf die Wiedervereinigung 1990, da man davon eine Freisetzung deutscher Großmachtambitionen ("Viertes Reich") erwartete; um dem vorzubeugen, überwand sich der kleinere Teil der deutschen Linken zur Anerkennung der westlichen (sprich: amerikanischen) Hegemonie im politisch-militärischen, aber auch kulturellen Sinne, und zu einer bedingungslosen Verteidigung Israels, egal, welche Regierung dort Politik macht.

In dieser Perspektive geht es allein um die Abwehr eines deutschen Nationalismus, der in der Manier eines negativen Nationalismus beantwortet wird und in dieser Fixierung weder für die Lösung des Nahostkonfliktes noch für die Bekämpfung des Terrorismus einen Gedanken übrig hat. Schon immer hatte der Antisemitismus einen Bruder namens Philosemitismus, und ähnlich spiegelbildlich verhalten sich Antiamerikanismus und Amerikaphilie. Anzutreffen ist diese Haltung nicht nur in dissidentischen und marginalen Zirkeln der linken Szene, sondern auch bei einflussreichen Publizisten liberaler Blätter, die sich allein deswegen für Israel und die USA einsetzen und alles, was an "Amerikanismus" nach Europa importiert wird, bekräftigten, weil andere gegen Amerika und Israel sind. Pikanterweise ist dies in nicht wenigen Fällen nur die Fortsetzung eines alten Flügelstreits in der radikalen Linken, aus der nicht wenige "gewendete" Pro-Amerikaner und Philosemiten stammen. In trotziger Revision ihrer Positionen bekräftigen sie nun alles, was mit den USA angeblich wesensmäßig verbunden ist: consumerism, ungezügelter Kapitalismus, imperiale Republik – ein ähnlich stereotypes Bild wie der Antiamerikanismus.

Wie zu Zeiten des Kalten Krieges werden im globalen Antisemitismusstreit Argumente danach gewichtet, ob sie "dem Feind" dienen könnten. Dabei hat man es heute mit einem neuen Arrangement antisemitischer Weltbilder im "Antizionismus" und mit einer Solidaritätserpressung für eine verfehlte Politik im Namen des Anti-Antisemitismus zu tun. Wenn es bei Attac antisemitische Ausfälle gab, ist das ernster zu nehmen, als es die Stellungnahmen der Organisation für gewöhnlich konzedieren; es darf aber nicht Anlass für eine maßlose Beschönigung der kapitalistischen Globalisierung werden. Man kann nur der Forderung Dan Diners zustimmen, "zum einen den Antisemitismus zu bekämpfen, als ob es den arabisch-jüdischen, israelisch-palästinensischen Konflikt nicht gäbe; zum anderen alles zu unternehmen, um eben jenen Konflikt einer beiden Seiten zuträglichen Lösung zuzuführen – so, als gäbe es den Antisemitismus nicht".


Professor Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität, Universität Gießen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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