Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 08.08.2005
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Peter Heine

Terror - eine moderne Seuche

Islamisten wollen eine globale Scharia durchsetzen - mit allen Mitteln
Unter Islamismus versteht man gemeinhin die geistigen und politischen Strömungen in der islamischen Welt, die alle Phänomene der Säkularisierung ablehnen und die Anwendung des islamischen Rechts - der Scharia - in Gesellschaften mit muslimischer Mehrheit fordern. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Trennung von Religion und Staat wie in der laizistischen Türkei weit fortgeschritten ist oder bestimmte Bereiche des islamischen Rechts (etwa das Personenstandsrecht in Jordanien, Israel/Palästina, Libanon) in Kraft sind. Die Anhänger islamistischer Vorstellungen gehen davon aus, dass die Implementierung der Scharia alle großen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Probleme ihrer Staaten lösen würde.

Als erste islamistische Organisation werden in der Regel die Muslimbrüder (Ikhwân al-Muslimîn) angesehen, 1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna (1906 - 49) in Ägypten gegründet. Sie haben im Lauf ihrer Geschichte eine ausgeprägte Ideologie entwickelt. Der Islam ist für sie vor allem eine rationale Religion. Zugleich sehen sie es als Aufgabe an, durch persönliches und gemeinschaftliches Handeln eine Gesellschaft zu schaffen, in der das islamische Recht sich verwirklicht und allgemeine Gerechtigkeit herrscht. Für die Muslimbrüder stellt der Islam ein vollkommenes System für alle Lebenssituationen dar. Er beruht auf der Offenbarung des Korans und den Weisheiten der Prophetentradition. Er hat Gültigkeit für alle Zeiten und an allen Orten. Die Muslimbrüder sprechen von einer "islamischen Ordnung" (nizâm islâmî). Den Austausch mit gesellschaftlichen, ökonomischen, vor allem religiösen und ideologischen Vorstellungen der modernen westlichen Welt lehnen sie ab. Der Westen ist ein abschreckendes Beispiel für "gewinnsüchtigen Materialismus, militanten Fanatismus, verrottete Moral und Imperialismus" (Sayyid Outb).

Vergleichbare Organisationen entstanden zeitgleich auf dem indischen Subkontinent auf Initiative des Journalisten Abul-Ala al-Maududi. Die Muslimbrüder bemühen sich, ihre Vorstellung der gesellschaftlichen Ordnung in der gesamten islamischen Welt zu verbreiten. Dabei sind sie nicht ohne Erfolg geblieben. Mit verschiedenen Modifikationen sind alle heute zu beobachtenden islamistischen Organisationen von den ideologischen Vorstellungen und praktischen Konzepten der Muslimbrüder abhängig. Zur Durchsetzung ihrer Ziele haben sie vor allem in den 50er-Jahren auch vor gewalttätigen Aktionen nicht zurückgeschreckt. Derzeit verfolgen sie eine gewaltfreie Politik und versuchen ihre Ziele durch einen "Marsch durch die Institutionen" zu erreichen. So haben sie sich etwa in Jordanien an Parlamentswahlen beteiligt und stellen erfolgreich Kandidaten bei Wahlen für berufsständische Einrichtungen auf. Einfluss gewinnen sie vor allem dort, wo der Staat sich als unfähig erweist, seine sozialen und pädagogischen Aufgaben zu erfüllen. Sie betreiben Krankenhäuser, Schulen und andere karitative Einrichtungen. Inzwischen sind ihre Ideen und Methoden in der islamischen Welt wie auch im europäischen und amerikanischen Minderheitenislam bekannt, auch wenn sich auf der Grundlage ihrer Ideologie von ihnen unabhängige Organisationen gebildet haben.

Vor allem in den 70er-Jahren erschienen die Muslimbrüder insbesondere jungen Leuten der unteren Mittelschicht, häufig mit einer akademischen Ausbildung in Natur- oder Ingenieurwissenschaft, als zu etabliert, zu quietistisch. Sie wollten den islamischen Staat nicht evolutionär durch eine langsame Veränderung der Gesellschaft erreichen, sondern durch einen revolutionären Akt. Der Umsturz sollte durch den Glaubenskampf erfolgen. Muslimische Gelehrte hatten in den vergangenen 100 Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich beim Dschihad um einen Kampf jedes einzelnen gegen die eigenen religiösen und ethischen Unzulänglichkeiten handele. Der gewalttätige Dschihad andererseits sei ein rein defensiver Vorgang. Die Besetzung islamischen Landes durch fremde, nichtislamische Mächte, wird als Aggression verstanden, gegen die ein defensiver Dschihad geboten ist. Dabei sind nach Ansicht zumindest einiger islamischer Gelehrter auch terroristische Methoden gestattet.

Anders verhält es sich mit der Bekämpfung von Muslimen. Diese dürfen nach den Vorschriften des islamischen Rechts gegen Glaubensbrüder grundsätzlich keinen Dschihad führen. Die radikalen Muslime lösten diese rechtliche und religiöse Frage auf eine Weise, wie sie heute von Mitgliedern islamistischer Terrororganisationen angewandt wird. Man erklärt die islamischen Staaten zu heidnischen Staaten. Diese Zuordnung wird begründet mit der Tatsache, dass das islamische Recht dort keine Gültigkeit habe, der Staat mit nicht-islamischen Staaten kooperiere, dass im staatlichen Fernsehen unmoralische westliche Programme gezeigt würden oder in Maschinen staatlicher Fluggesellschaften Alkohol ausgeschenkt werde. Dabei spielt auch keine Rolle, dass die politische Führung des Landes aus Muslimen besteht oder diese die überwiegende Bevölkerung ausmachen. Da sie dieser Definition folgend in einem nichtislamischen Staat leben, sind sie keine Muslime, auch wenn sie sich selbst für solche halten. Gegen diese Staaten muss aus radikal-islamischer Sicht der Dschihad geführt werden. Dieser wird mit politischen, vor allem gewalttätigen Mitteln wie Attentaten, Selbstmordanschlägen sowie quasi-militärische Operationen geführt.

Entsprechend der Lehre des islamischen Rechts, dass Kämpfer, die im Dschihad fallen, ohne die "Schrecken des Grabes" ins Paradies gelangen, wurden Selbstmordaktionen zu einer häufig praktizierten Kampfform. Die Aktionen waren aber in der Regel auf das Herkunftsland der Täter beschränkt, hatten also keinen internationalen Charakter. Dies gilt auch für die Konfrontation von islamis-tischen Gruppen in Palästina gegen die israelische Besatzung oder von islamistischen Aufständischen gegen die amerikanischen Truppen im Irak. Gleiches gilt für tschetschenischen Gruppen in ihrem Kampf gegen die russische Armee. Nach anfänglichen Erfolgen konnten die Sicherheitsbehörden verschiedener arabischer Staaten die islamistischen Organisationen weitgehend ausschalten. Grund dafür war auch, dass diese kaum Rückhalt in der Bevölkerung fanden. Zu dieser Entwicklung trug auch bei, dass sie keine konkreten Vorstellungen für die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in einem von ihnen geführten islamischen Staat entwickelten. Sie erwarteten, dass Gott für einen ihm wohlgefälligen Staat sorgen werde.

Durch einen politisch-militärischen Vorgang von internationalem Ausmaß veränderte sich das Ansehen radikal-islamischer Gruppen allerdings erheblich, als 1979 die Rote Armee in Afghanistan einmarschierte, um das kommunistische Regime gegen muslimische Aufständische zu unterstützen. Die Invasion wurde als Angriff auf die islamische Welt verstanden, gegen den sich mit einem Dschihad zur Wehr zu setzen muslimische Pflicht wurde. Mudschahedin aller islamischen Länder und aus der Diaspora strömten nach Afghanis-tan, wurden dort ausgebildet und mit radikal-islamischen Ideologien vertraut gemacht. Finanziert wurden diese Organisationen vor allem durch Spenden von Einzelpersonen, aber auch halbstaatlichen und staatlichen Einrichtungen aus verschiedenen islamischen Ländern, vor allem aus der Golfregion. Militärische, logistische und diplomatische Unterstützung erhielten die Organisationen aber auch durch westliche staatliche Agenturen. So gelang es den Glaubenskämpfern, die sowjetischen Truppen zum Rückzug zu zwingen.

Dies wurde in der gesamten islamischen Welt als der erste Militärerfolg gegen den seit zwei Jahrhunderten überlegenen Westen angesehen. Afghanistankämpfer gewannen in ihren Heimatländern enormes Prestige. Die von ihnen vertretenen Vorstellungen wurden vor allem für junge Männer attraktiv. Kämpfer, die in ihren Herkunftsländern staatliche Repressionen fürchten mussten, nahmen danach teilweise als Legionäre an Konflikten teil, in die Muslime verwickelt waren, so bei den Kämpfen in Bosnien, Kaschmir, Tschetschenien oder den südlichen Philippinen.

Afghanistan blieb, vor allem unter den Taliban, ein Land, in das es zahlreiche junge Muslime zog, die sich als Glaubenskämpfer ausbilden lassen wollten.

Es gab verschiedene Organisationen, die hier Ausbildungs-Camps unterhalten. Die bekannteste ist Al Qaida (Basis) des saudi-arabischen Millionärs Osama bin Laden. Unter militärischen oder sicherheitspolitischen Gesichtspunkten operiert seine Organisation mit modernen und schwer zu bekämpfenden Methoden. Spezialisten beschreiben die Gruppe als Netzwerk. Dies ist insofern richtig, als Al Qaida seit der Niederlage der Taliban offenbar keine strengen Hierarchien mehr kennt. Man kann vielmehr von mehr oder weniger spontan zusammengesetzten Aktionsgruppen sprechen, wie sie die verzweigten Clans oder Stämme der arabischen Halbinsel kennen. Diese finden sich zusammen für Operationen, auf die sie sich nach zum Teil langer Diskussion geeinigt haben. Danach lösen sie sich wieder auf. Vergleichbar gehen die Gruppen von Al Qaida vor.

Andere Beobachter sind der Meinung, dass bin Laden moderne westliche Management-Techniken für Aufbau und Führung seiner Organisation nutzt. Zu diesen gehört ein hohes Maß an Verantwortungsübertragung und Übereinstimmung in den Zielen. Von Bedeutung für diese Gruppen ist ein funktionierendes und abgeschirmtes Kommunikationssystem. Al Qaida benutzt dafür einerseits modernste Kommunikationstechnologien, andererseits traditionelle Methoden wie die Hawala, eine alte Art, finanzielle Mittel ohne länger aufzubewahrende schriftliche Unterlagen zu transferieren. Ideologisch sind bin Ladens Äußerungen wenig originell. Als politisches Nahziel hat er die Vertreibung amerikanischer Truppen aus Saudi-Arabien ausgerufen. Insofern hat seine Politik einen regionalen Charakter. Im Gegensatz zu anderen Organisationen versucht er seine Ziele aber durch Aktionen außerhalb der Region zu erreichen.

Inzwischen haben sich seine Ziele erweitert. Nicht zuletzt durch die positiven Reaktionen bei vielen Muslimen, die den Regimen ihrer Länder kritisch gegenüber stehen, fühlt er sich berufen, für die gesamte islamische Welt zu handeln. Zweifellos erhebt er den Anspruch, der unbestrittene Führer dieser Welt, ein neuer Kalif, zu sein. Dennoch machen die islamistischen Radikalen und ihre Anhänger nur einen minimalen Anteil der gesamten muslimischen Bevölkerung aus.


Professor Peter Heine ist Islamwissenschaftler an der Humboldt-Universität und Gründungsdirektor des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Moderner Orient zu Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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