Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 34 - 35 / 22.08.2005
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Jens Mattern

Ein Jubiläum mit Wermutstropfen

Vor 25 Jahren: In Polen wird die Solidarnosc als Gewerkschaft zugelassen
Aus dem Danziger Werfttor 1 rollt ein Werkbus mit Arbeitern auf dem Weg zum Feierabend; es sind nicht sehr viele und fast alle haben weisse Haare. Das Danziger Werfttor 2 ist geschlossen, es ist Geschichte. Die polnische Fahne und das Weiß-Gelb des Vatikans hängen hier, sowie der polnische Papst und die Maria mit Jesus im Arm. Mehr Touristen als Werftarbeiter laufen dort an diesem August durch die jeweils getrennten Durchgänge. Hauptziel der Besucher ist ein niedriger Backsteinbau, der ehemalige Speisesaal der Werft.

Hier unterschrieben am 31. August 1980 der Arbeiterführer Lech Walesa und Vizepremier Mieczyslaw Jagielski das berühmte Abkommen, dessen wichtigster Punkt die Zulassung einer selbstverwalteten Gewerkschaft war. Über neun Millionen Berufstätige traten im Laufe des Herbstes der am 17. September gegründeten Gewerkschaft Solidarnosc bei.

Die staatlich verordnete Theorie, dass die kommunistische Partei die Arbeiter vertrete, erwies sich als nicht mehr haltbar - "wir, die arbeitende Gesellschaft" - stand einem "sie, die Machthaber" gegenüber. Vorausgegangen waren ein entscheidender 18 Tage dauernder Streik und eine lang vorangehende Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Galt Polen Anfang der 70er-Jahre mit seiner Ermutigung zum Konsum als ein Unikum im Ostblock, so musste der anfangs charismatische Parteichef Edward Gierek 1975 wieder den Verzicht preisen: das Land hatte sich mit westlichen Großkrediten übernommen.

Als 1976 Proteste gegen die Erhöhung von Lebensmittelpreisen brutal niedergeschlagen wurden, gründete sich das Komitee zur Verteidigung der Arbeiterrechte (KOR), in der sich Oppositionelle verschiedenster politischer Richtung fanden. Trotz Repressalien liess sich die Bewegung nicht zerschlagen - zu groß war die Zustimmung in der Bevölkerung. Auch die katholische Kirche des Landes erfuhr nach der Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Woytila zum Papst neues Selbstbewusstsein. Den Besuch von Johannes Paul II. und den begeisterten Massenauflauf dazu konnte die polnische Regierung nicht verhindern.

Ebensowenig wie die weitere Anhebung der Lebensmittelpreise. Die Verteurung von Fleisch führte im Juli 1980 im ganzen Land zu Streiks, der vor allem in der ostpolnischen Stadt Lublin das öffentliche Leben lähmte. Diesmal regierte der Staat jedoch nicht mit Gewalt, sondern mit Gesprächen und innerbetrieblichen Lohnerhöhungen. Die Entlassung der beliebten Kranführerin Anna Walentynowicz, die sich in der Danziger Werft für Arbeiterrechte einsetzte, bot für die Aktivisten der illegalen "Freien Küstengewerkschaft" den willkommenen Anlass für einen Streik. Werftarbeiter galten im Sozialismus als "Elite". Gerade diese Hervorhebung durch die Partei führte zu einer bewußteren Einstellung der Arbeiter und paradoxerweise zu einer größeren Bereitschaft, sich oppositionellen Gruppen anzusschließen, so die Analyse der polnischen Zeitschrift "Polityka". Schließlich wussten die Arbeiter, dass die meisten Schiffe an die Sowjetunion verkauft wurden, zu einem recht ungünstigem Kurs, was neben den Lebensmittelteuerungen zusätzlich für Unmut sorgte.

Die Werft war aber schon damals politisch "aufgeladen": hier waren 1970 mehrere streikende Werftarbeiter durch die Miliz ums Leben gekommen. Zu den Forderung der Streikenden am 14. August 1980 gehört darum auch ein Denkmal für die Opfer. Lohnerhöhungen und Wiedereinstellung vermochte die Werftleitung eingestehen, das Denkmal nicht. Dennoch schien der Streik am 16. August beinahe zu Ende, hätte er sich nicht auf weitere Betriebe in Danzig und Gdynia ausgeweitet. Der Arbeiterfüherer Lech Walesa liess sich darum zu einem "Solidaritätsstreik" überreden. Am gleichen Tag wurde das "überbetriebliche Streikkomitee" (MKS) gegründet. Unterstützt wurde der Protest durch den damaligen Probst der Brigittenkirche Henryk Jankowski, der eine Messe in der Werft abhält, die auch außerhalb des Werftors für einen Menschenauflauf sorgt. Die polnischen Bischöfe richten zwar mahnende Worte an die Streikenden, doch alle 21 Postulate des Streikkomitees wurden vom polnischen Episkopat unterstützt. Ende August hatten sich dem MKS schon 700 Betriebe angeschlossen, eine Art Staat hatte sich in der Volksrepublik Polen gebildet - mit der Danziger Werft als Hauptstadt. So musste die polnische Regierung die größte Kröte der 21 Postulate schlucken; die Erlaubnis zur Gründung einer selbstverwalteten Gewerkschaft. Unter anderem gestand sie das Recht auf Streik zu und versprach eine Einschränkung der Zensur.

Lech Walesa wird Präsident

Auch das ausgerufene Kriegsrecht im Dezember 1981 konnte die Opposition in der Bevölkerung nicht brechen: Ende 1988 wurde die Solidarnosc wieder offiziell zugelassen, 1989 waren halbfreie Wahlen möglich, Lech Walesa wird 1990 der erste Präsident der "Dritten polnischen Republik".

Mit vielen Veranstaltungen erinnert sich Polen an das 25-jährige Jubiläum des Abkommens, wie mit einem bombastischen Auftritt des französischen Elektromusikers Jean Michel Jarre am 26. August. Zu den Hauptfeierlichkeiten am 29. bis 31. August in Danzig wird Lech Walesa Gäste aus aller Welt treffen, darunter auch Bundespräsident Horst Köhler .

Das offizielle Plakat dazu hängt schon seit Juni in ganz Polen aus: es zeigt ein Foto des Arbeiterführers, wie er die Arme reckt. Das Bild ist auf einer Art Dominostein montiert, das andere Foto-Dominosteine umwirft: zu sehen sind der erste frei gewählte Ministerpräsident Tadeuz Mazowiecki, die Berliner Mauer, Vaclav Havel, Viktor Juschtschenko und ein weiterer, verdeckter Stein, der gleich umfallen wird. Die Botschaft ist klar: der Streik (Walesa allein?) hat den Kommunismus zu Fall gebracht und seine Auswirkungen schreiben auch in Zukunft noch Geschichte. "Es begann in Danzig" lautet der Titel des Plakats. Doch wie ging es weiter in Danzig? Wie ein ironischer Fingerzeig hängt ein großes Billboard des französischen Verbrauchermarkts Geant in Nähe des ersten Werkstors: "Schweinerücken, Preissenkung von 20 Zloty auf 14 Zloty das Kilo". Überteuertes Fleisch gehört also eindeutig der Vergangenheit an. Um die Werft selber ist es jedoch nicht so gut bestellt. Etwa 17.000 Menschen arbeiteten dort mal zu besten Zeiten, heute sind es gerade um die 2.500. Schiffe werden keine mehr gebaut, nur noch Schiffsteile. Das noch betriebene Gelände gehört nun der Werft der Nachbarstadt Gdynia. "Unser eigenes Ding wollten wir machen und auch weg vom Einfluss des "Ruski". Wir wollten, dass es damals anders wird und es ist anders geworden", meint Dariusz Flasinski, sehr vielsagend. Flasinski, Anfang 50, ist gelernter Mechaniker und hat 20 Jahre auf der Werft Motoren, Aggregate und Pumpen repariert. Dann verlor er dort 1995 seine Arbeit, kurz bevor die Werft 1996 Bankrott ging. Dass immer noch die "Roten" regieren, gemeint ist der seit 1995 amtierende Präsident Aleksander Kwasniewski und die linke Minderheitsregierung, das sei Grund für die Misere. "Heute sagen sie - Hilf Dir selbst, wir haben freien Markt." Ihm helfe aber kein feier Markt, wenn es Korruption und für ehrliche Arbeit kaum Geld gebe. Nach seiner Entlassung fand Flasinki in Zulieferbetrieben der Werft Jobs. Doch auch dort gingen die Aufträge zurück. Auf der Stettiner Werft schufteten er und andere Arbeiter ohne Entlohnung. Da sich im Werftbereich viele Firmen wieder auflösten und neugründeten, konnte der ehemalige Arbeitgeber nicht zur Lohnausgabe gezwungen werden.

Selbst als Statist in dem Brecht-Stück "Happy End" spielte und sang er in einer alten Lagerhalle auf der Werft - zusammen mit anderen arbeitslosen Werftarbeitern. Heute arbeitet Falsinski wieder in seinem Beruf - auf einer Werft in Dubai, weit weg von seiner Familie in Danzig. Mit dem Geld kann er das Studium seiner zwei Töchter finanziern. Auf die Casting-Offerte einer Filmgesellschaft, die neben dem Werfttor hängt muss er nun nicht mehr zurückgreifen: Dort werden ehemalige Werftarbeiter als Statisten für die historischen Streikszenen gesucht. Zu bloßen Statisten sehen sich auch viele alte Streik-Aktivisten degradiert. So zum Beispiel Andrzej Gwiazda und die ehemalige Kranführerin Anna Walentynowicz, die von Walesa nach dem Abkommen im August bald ins Abseits geschoben wurden. Als Walesa Anfang der 90er als Präsident amtierte, arbeitete Walentynowicz nach Internierung und Berufsverbot wieder als Kranführerin auf der Werft. Viele von ihnen leben von einer kargen Rente. Sie organisieren nun Gegenveranstaltungen, in denen weniger die internationale Auswirkung des Streiks, sondern die Bedeutung für die polnische Arbeiter besprochen werden soll. Walesa gilt als "Verräter" und "Agent" des polnischen Geheimdienstes, der es ermöglicht hat, das die Kommunisten in anderer Form weiter regieren. Walesa kommentierte die Gruppe in einem Zeitungs-Interview: "Am Anfang brauchte man Leute zum kämpfen, dann zum Organisieren." Idealisten also. Aber auch die Praktiker, die Mitglieder der jetzigen Gewerkschaft Solidarnosc, die heute noch in der Werft arbeiten, verweigern sich den Feierlichkeiten Ende August. Schon die Erinnerung an den Jahrestag des Streikbeginns verlief disharmonisch: "Totengräber der Solidarnosc", riefen Gewerkschaftsmitglieder am Werfttor den Liberalen Tadeusz Mazowiecki und Bronislaw Gieremek zu. Die "Freiheit des Wortes", die nach jüngsten Umfragen wichtigste Errungenschaft der Solidarnosc-Revolution, wird von den heutigen Aktivisten ausgiebig genutzt. Auf den Ruinen der Werft würde sich das pompöse Jubiläum gründen. Sie verlangen die Unabhängigkeit der Werft von der Gdynia Aktiengesellschaft einen Rückkauf der Werftaktien und mehr Mitbestimmung. Die Protestform Streik fällt bei der maroden Auftragslage jedoch als Druckinstrument weg. Entfremdet haben sich zudem die Gewerkschaft und ihr damaliger Gründer. Der heutige Weltbürger Lech Walesa will aus der Solidarnosc, wie schon mehrfach angekündigt, nach der Jubiläumsfeier austreten.

Auch das stillgelegte Gelände der Werft, in der Industrieruinen herumstehen, wird sich bald verändern. Die Firma "Synergia 99", deren Inhaber Janusz Lipnski selbst Solidarnosc-Aktivist war, besitzt einen Teil des Grundstücks. Dort soll "die junge Stadt" entstehen, ein modernes Wohn- und Geschäftsviertel nach dem Vorbild der Hafenstadt Rotterdam. Einen Teil der Fläche hat die Stadt Danzig jedoch für ein Museumsprojekt wieder zurückgekauft.

Im Gegensatz zu vielen seiner verbitterten ehemaligen Arbeitskollegen würde Driusz Flasinski ganz gerne das Jean Michel Jarre Konzert und die Gedenkfeierlichkeiten besuchen. Doch Flasinksi wird dann schon als Mechaniker gebraucht. Wenn auch in Dubai und nicht in Danzig.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.