Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 38 - 39 / 23.09.2005
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"Ein katastrophales Ergebnis"

Interview mit dem Parteienforscher Eckhard Jesse
Der Wahl- und Parteienforscher Eckhard Jesse lehrt seit 1993 Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz. Auch er kann nach diesem offenen Wahlausgang nur spekulieren, wer Deutschland in Zukunft regieren wird. Eine Option aber lehnt er ab: Neuwahlen.

Das Parlament: Herr Jesse, hat Sie das Wahlergebnis überrascht?

Eckhard Jesse: Es hat mich nicht nur überrascht. Ich halte es für katastrophal. Es hat weder zu einer schwarz-gelben noch zu einer rot-grünen Koalition geführt. Stattdessen ist durch die Linkspartei eine Blockadesituation entstanden, bei der wir nur die Aussicht auf zwei gleichermaßen negative Varianten haben: eine große Koalition und eine schwarze Ampel. Eine große Koalition bringt Deutschland nicht weiter und wird nicht lange halten. Das gleiche gilt für die schwarze Ampel: Sie wäre eine Zerreißprobe, besonders für die Grünen. Kurzum: Ich war selten so ratlos wie jetzt.

Das Parlament: Wird es also wieder Neuwahlen geben?

Eckhard Jesse: Ich halte alle drei Varianten für gleich wahrscheinlich: eine Große Koalition, eine Schwarze Ampel, oder, wenn man sich nicht einigen kann, auch Neuwahlen. Bekommt ein Kandidat im dritten Wahlgang nur eine relative Mehrheit, kann Köhler ihn entweder ernennen oder den Bundestag auflösen, weil er die Regierung nicht für stabil genug hält. Allerdings lehne ich die Schlussfolgerung ab, jetzt Neuwahlen durchzuführen. Wir können nicht so lange wählen, bis uns das Ergebnis passt. Angesichts der Krise, in der wir uns befinden, sollten die demokratischen Parteien ihre machtpolitischen Interessen zurückstellen und sich bald auf eine der genannten Varianten einigen.

Das Parlament: Wie lange kann das dauern?

Eckhard Jesse: Es kann sein, dass es wider Erwarten schneller geht und man die komplizierte Prozedur innerhalb von sechs bis acht Wochen hinkriegt. Vielleicht trägt der Druck der öffentlichen Meinung dazu bei. Gegenwärtig haben alle Parteien noch nicht den Ernst der Lage erkannt. Ich glaube, je länger es dauert, umso weniger wahrscheinlich wird eine Lösung.

Das Parlament: Wie erklären Sie sich, dass die SPD doch nicht so stark verloren hat wie angenommen, ja fast als Wahlsieger da steht?

Eckhard Jesse: Das hängt damit zusammen, dass die Erwartungshaltung ihr gegenüber wesentlich geringer war. Darüber hinaus hat es die SPD verstanden, eine große Geschlossenheit an den Tag zu legen, obwohl sie völlig zerstritten ist. Den Bürgern war im Wahlkampf gar nicht mehr klar, dass Schröder die Neuwahlen wollte, weil es nicht weiterging mit der eigenen Koalition. Das war eine strategische Meisterleistung von ihm. Er hat den Wahlkampf mit vollem Engagement geführt, und manche Bürger haben sich wohl gesagt: Der kann ja kämpfen.

Das Parlament: Die Union hatte eine viel bessere Ausgangssituation: Zu Beginn des Wahlkampfes lag sie in den Umfragen noch bei 47 Prozent, erreicht hat sie nur gut 35 Prozent. Warum?

Eckhard Jesse: Die Union hat ihre positive Ausgangsbasis durch gravierende Fehler selbst verspielt. Die Ursachen dafür sind vielfältig, vor allem aber hat es die Union nicht verstanden, eine Aufbruchstimmung in Deutschland hervorzurufen, den Bürgern plausibel zu machen, warum ein Ruck durch Deutschland gehen wird, wenn Schwarz-Gelb an die Regierung kommt. Als die Union Paul Kirchhof präsentierte, haben sich die Ministerpräsidenten der Länder von ihm distanziert. Ein gefundenes Fressen für den politischen Gegner, Kirchhof zu demontieren! Dann brachte die Union auch noch Friedrich Merz ins Spiel und die Wähler waren verunsichert. Sie mussten den Eindruck bekommen, da gibt es keine Geschlossenheit, auch deshalb, weil viele Ministerpräsidenten Merkel im Wahlkampf nicht so den Rücken gestärkt haben, wie es eigentlich notwendig gewesen wäre. Außerdem ist die CDU nicht ausreichend kampagnenfähig.

Das Parlament: Der Staatsrechtler Hans-Herbert von Arnim hat vorgeschlagen, in Deutschland das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Was halten Sie davon?

Eckhard Jesse: Ein Mehrheitswahlrecht führte zu einer klaren Mehrheit und einer klaren Opposition. Es gäbe keine Blockierungen. So weit, so gut: Nur haben wir mittlerweile drei Parteien mit über acht Prozent im Parlament. Die Einführung der Mehrheitswahl würde in der Öffentlichkeit den Charakter einer Manipulation hervorrufen.

Das Parlament: Auf jeden Fall sorgt Schröders Neuwahl-Coup jetzt für allerhand Diskussionsstoff. Nur: Ist die Situation nicht im Grunde für alle Parteien viel schlechter als vorher?

Eckhard Jesse: Eindeutig. Schröder hat gesagt, wir wollen mit der Neuwahl die Blockadesituation beseitigen, und jetzt hat er erreicht, dass die Blockade noch viel schlimmer ist. Außerdem ist die Linkspartei stärker denn je. Dafür trägt Schröder maßgeblich die Verantwortung.


Das Interview führte Johanna Metz


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.