Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 40 / 04.10.2005
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Martin Gerner

Demokratische Revolution mit Hindernissen

Gekaufte Stimmen, eingeschüchterte Wähler: Parlamentswahlen in Afghanistan
"Weitgehend friedliche und gut organisierte Wahl, ohne Vorkommnisse in 92,7 Prozent der Wahlbüros." So lautete vor einigen Tagen das erste offizielle Statement der rund 100 EU-Wahlbeobachter in Afghanistan nach dem Urnengang am 18. September. Der Selbstmordanschlag in Kabul zehn Tage später mit neun Toten und vielen Verletzten verheißt wie schon im vergangenen Jahr nach der Präsidentschaftswahl ein mögliches Wiederaufflammen der Gewalt, wenngleich NATO- und US-Militärexperten die Lage noch vor Monatsfrist als vergleichsweise stabil dargestellt hatten.

Der Anschlag ereignete sich fast parallel zum Gartenfest in der deutschen Botschaft in Kabul. Dort hatte man den "Tag der deutschen Einheit" wegen des bevorstehenden Ramadan-Festes vorgezogen. Parallel sind erste Teilergebnisse der Parlamentswahl veröffentlicht worden. Möglicherweise im Zusammenhang damit wurde in Mazar-i-Sharif ein Kandidat mit aussichtsreichen Chancen auf einen Sitz ermordet.

Im Übrigen zeichnet sich ab, dass einige der langjährigen Mudschahedin-Führer, die im vergangenen Jahr erfolglos Präsident Hamid Karsai herausgefordert hatten, der Stimmenzahl nach die Opposition in der neuen Nationalversammlung (Wolesi Jirga) bilden werden. Ganz vorne liegt Berichten zufolge zur Zeit Yunus Qanuni, der mit seiner Mehrparteien-Allianz noch am ehesten einer zu erwartenden Karsai-Mehrheit im neuen Parlament Paroli bieten kann. Mit Mohammad Mohaqiq und Abdul Sayaaf haben zwei weitere ehemalige Dschihad-Kämpfer einen Parlamentssitz so gut wie sicher. Sayaaf gilt vielen als Fundamentalist. Allen dreien werden aus den Kriegsjahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die laxe Handhabe gegen so genannte "Warlords" und Milizenführer mit bewaffneter Anhängerschaft war ein Grund, warum am 18. September deutlich weniger Afghanen zur Wahl gegangen waren als ein Jahr zuvor.

"Wir werden weiter von einem Teil der alten Autokraten regiert", erklärt Asef Hosseini, mit 25 Jahren der jüngste Bewerber um einen Abgeordnetensitz. Er hatte seinen Wahlkampf unter dem Motto "Erst Brot, dann Demokratie" geführt. "Das neue Parlament wird schwach sein", prognostiziert er. "Machen wir uns nichts vor. Es darf zwar über das Budget entscheiden und es kann Ministern das Vertrauen entziehen, aber über den Abzug ausländischer Truppen aus dem Land darf es nicht mitentscheiden."

Nach Aussage Hosseinis haben die meisten Bürger das komplizierte Wahlsystem, das Einzelkandidaten statt Parteien in den Vordergrund stellte, nicht angenommen. "Bis vor wenigen Tagen waren in Kabul auf 250 von über 300 Kandidaten keine Stimmen entfallen", sagt Hosseini. Viele Menschen hatten keine klare Antwort auf die Frage, wofür ein Parlament gewählt wird. "Die landesweite Informationskampagne der Vereinten Nationen wies deutliche Mängel auf", kommentiert die internationale Beobachtergruppe ANFREL aus Asien. Dabei war die Wahl mit etwa 160 Millionen US-Dollar eine der teuersten in Entwicklungsländern. Es ist fraglich, ob die Geberländer dieses Geld beim nächsten Mal für ein fragwürdiges Wahlsystem aufbringen werden. Auch an den offiziellen Zahlen der UN, die von einer Wahlbeteiligung von über 50 Prozent spricht, gibt es Zweifel in den afghanischen Medien.

Gut zwei Wochen nach der Wahl nehmen zudem Meldungen über Unkorrektheiten und Wahlbetrug täglich zu. "Diese Wahl hatte mehr Mängel als die Präsidentschaftswahl im letzten Jahr", befindet ein unabhängiger afghanischer Wahlbeobachter: "In der Provinz Paktia haben wir Beweisfotos von Wählern, die mit bis zu einem Dutzend Stimmkarten teilnahmen. In zwei Fällen wurden Minderjährige an die Urne gelassen. Statt geheimer Wahl in geschützten Kabinen wurde mancherorts an offen einsehbaren Tischen abgestimmt. Männer und Dorfälteste brachten die Wahlkarten ihrer Frauen und Töchter mit und stimmten für diese mit ab." In Provinzen wie Paktia darf deshalb auch die hohe Wahlbeteiligung von Frauen in Zweifel gezogen werden.

In mehreren Provinzen sind zudem afghanische Wahlleiter in Diensten der UNO entlassen worden. In Mazar-i-Sharif wurde eine afghanische UN-Mitarbeiterin suspendiert, weil sie mit ihrem Make-up-Stift Wahlzettel zugunsten eines bestimmten Kandidaten gefälscht hatte. In anderen Fällen ließen sich Leiter von Wahlbüros von der lokalen Polizei und Kommandeuren einschüchtern.

So in Jawzjan, im Nordwesten, der Hochburg von Usbeken-General Dostum. Jegliche Opposition hat es dort schwer, Drohung und Einschüchterung sind an der Tagesordnung. General Dostum, dem vielfache Kriegsverbrechen zur Last gelegt werden und der - ähnlich einem militärischen Wendehals - in den Auseinandersetzungen der letzten 20 Jahre auf jeder Seite gekämpft hatte, hat sein Amt in der Regierung behalten und nicht kandidiert. Über seine Motive ist vielfach gerätselt worden.

"Im neuen Parlament gibt es keine neue Partei, die auch nur annähernd über ein Netzwerk wie die alten Islamisten-Parteien verfügt", sagt der Journalist Shafiq Hakimi. "Die meisten bestehen aus vier bis zehn Leuten ohne wirkliche Struktur und Mittel." Es ist zu hoffen, dass die internationale Staatengemeinschaft den wirklich unabhängigen unter den neugewählten Parlamentariern mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn diese nach dem Ramadan-Fest zu ihrer ersten Sitzung zusammenkommen. "Einige sind wie ihre Wähler Analphabeten, viele haben keine Ahnung, wie ein Gesetzgebungsverfahren funktioniert. Woher auch", sagt ein Beobachter und fügt hinzu: "Andere haben Flausen im Kopf. Mancher träumt von Ruhm und einem Dienstwagen in Kabul, sobald er gewählt ist."

Tatsächlich fördert das Wahlsystem, mit dem Karsai die alten Parteien soweit als möglich atomisieren will, Egoismus statt Altruismus. Wer viel Geld hatte, war im Vorteil. "In Kandahar haben Kandidaten Handys und Uhren an Wähler verteilt", berichtet Qamar Wakili, selbst Kandidatin dort. "Ich kaufe Stimmen mit Geld", gestand ein Kandidat in Kabul offreimütig ein, sichtbar stolz auf seinen neuen Reichtum aus dem Baugewerbe.

Das alles sind Beobachtungen eines Landes im Umbruch, das qua Verfassung die schwierige Balance zwischen westlicher Rechtsstaatlichkeit und islamischem Recht herstellen soll. Dabei braucht Afghanistan Zeit. Andererseits ist das Land schon ein ganzes Stück weit gekommen. "Ich sehe hier wesentlich mehr politische Freiheit als in meiner Heimat", meint Amir, Journalist aus dem Iran. Eine Aussage, die auch andere Nachbarn Afghanistans vier Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes machen. Nach den bisher ausgezählten Stimmen befindet sich in vielen Provinzen eine Frau unter den drei führenden Kandidaten. Im neuen Parlament sind 68 von 249 Abgeordneten - 27 Prozent - Frauen. Für ein Land wie Afghanistan ist das eine kleine Revolution.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.