Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 40 / 04.10.2005
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Karl-Otto Sattler

Jeden Tag zur Arbeit ins Ausland fahren

Grenzgänger in Europa
Der lothringische Kollege im saarländischen Stahlwerk, der Finanzfachmann aus Trier in der luxemburgischen Bank: In der Saar-Lor-Lux-Region sind Grenzgänger aus dem wirtschaftlichen Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. Auch wenn die Verständigung klappt, bereitet eine unterschiedliche Sozialgesetzgebung vielen Probleme. Der Verband der lothringischen "frontaliers" kämpft nicht nur vor Ort, sondern auch in Brüssel und Paris für mehr soziale Rechte der Grenzgänger.

Richtig ins Staunen kommt Eugen Roth, wenn er hinüber ins Lothringische fährt. Dann redet der saarländische DGB-Vorsitzende schon mal im französischen Saargemünd als Gast vor 800 Leuten, die Stimmung im Saal ist kämpferisch, Transparente wettern gegen ein unsoziales Europa und die Demontage von Arbeitnehmerrechten. "Wie schaffst du bloß diese enorme Mobilisierung?", möchte Roth dann vom Präsidenten der lothringischen Grenzgängervereinigung, Arsène Schmitt, wissen.

In Saargemünd erzählt Schmitt im kleinen Büro von den Aktivitäten der 8.000 Mitglieder zählenden Organisation: Demos am Saarbrücker Grenzübergang Goldene Bremm, Flugblattaktionen, Appelle zum Steuerboykott oder Petitionen an französische und deutsche Politiker - "Comité de Défense des Travailleurs Frontaliers de la Moselle" nennt sich der Verband, Komitee zur Verteidigung der Grenzgänger aus dem Mosel-Departement, und sorgt in der Region für eine ganze Menge Wirbel. Daneben richtet die Vereinigung Sprechstunden aus, um Arbeitnehmer in arbeitsrechtlichen, sozialen und fiskalischen Fragen zu beraten, die die Jobs an der Saar oder in der Pfalz so mit sich bringen. "Wir kämpfen auch politisch für die Interessen der Berufspendler", betont Schmitt.

Empörend sei es, so Schmitt, dass lothringische Grenzgänger bei Erwerbsunfähigkeit, längerer Krankheit oder im Alter bei Pflegebedürftigkeit wegen des unterschiedlichen Sozialrechts in Deutschland und Frankreich durch den Rost fallen können. Wird zum Beispiel die Invalidität eines Grenzgängers nur in Frankreich anerkannt, kann es sein, dass der Betroffene nur von dort eine sehr geringe Invalidenrente erhält, weil die Rentenberechnung auf der Basis weniger Berufsjahre des Nachbarlandes erfolgt. Auch bei der Pflegeversicherung können unterschiedliche Berechnungen in beiden Ländern zu finanziellen Einbüßen führen - nur zwei von vielen Beispielen. Diese Probleme müssen zwischenstaatlich geregelt werden, so Schmitt, doch "auch in Brüssel kennt man diese Misere, aber man tut nichts. "Einmal sollten in Frankreich wie alle Arbeitnehmer auch die "frontaliers" einen Zusatzbeitrag zur Sozialversicherung leisten, obwohl sie in Deutschland in die Kranken- und Rentenkasse einzahlen: Schmitts Verband veranstaltete Demonstrationen, rief zum Steuerboykott auf, führte Prozesse - und zuletzt siegte man vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

Arsène Schmitt kennt sich aus: Drei Jahrzehnte arbeitete der jetzige Vorruheständler als Schrift- und Photosetzer bei der "Saarbrücker Zeitung", wo er 30 Jahre im Betriebsrat saß. Längst ist seine Vereinigung zu einem Machtfaktor geworden, an dem beiderseits der Grenze Regionalregierungen, Abgeordnete und Bürgermeister nicht vorbeikommen. Europa wächst auch im Konflikt von unten.

Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet in Saar-Lor-Lux die Grenzgänger zu einer politischen Kraft werden. Diese Gegend nimmt mit 160.000 Berufspendlern in Westeuropa einen Spitzenplatz ein. Nach Schätzungen der Brüsseler Kommission machen sich in den 15 alten Mitgliedsländern plus Schweiz und Monaco rund 600.000 Berufspendler jeden Morgen auf den Weg zur Arbeit, allein ein Viertel im Saar-Lor-Lux Gebiet.

Heinz Bierbaum spricht von "erfahrbarer Interregionalität". Er leitet die in Saarbrücken ansässige Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle (IBA), die von den fünf Regierungen der Grenzregion ins Leben gerufen wurde. Die IBA-Statistiken über Saar-Lor-Lux liefern die EU-weit gründlichsten Daten aus der Welt der "frontaliers".

Am sichtbarsten wird das in Luxemburg, wenn die Blechkolonnen auf den Autobahnen die Richtung der Pendlerströme anzeigen. Wegen des üppigen Jobangebots und der höheren Einkommen zieht es täglich 55.000 Lothringer, 28.000 Wallonen, 17.000 Rheinland-Pfälzer und 4.000 Saarländer ins Großherzogtum. Grenzgänger besetzen rund 40 Prozent aller Arbeitsplätze in Luxemburg und entlasten damit die heimischen Arbeitsmärkte. Einheimische stellen in Luxemburg nur noch ein Drittel der Beschäftigten, 27 Prozent sind Ausländer mit Wohnsitz in Luxemburg.

Im Gegensatz dazu hat das lothringische Mosel-Departement mit über 80.000 die meisten "Auspendler": Neben den 55.000, die in Luxemburg ihr Geld verdienen, pilgern 21.000 ins Saarland und 5.000 in die Pfalz.

Erleichtert wird die Mobilität, weil es kaum Verständigungsprobleme gibt. Luxemburg ist mit der Nationalsprache "Letzeburgerisch" sowie mit Französisch und Deutsch im Prinzip trilingual. An der Saar kommen die Lothringer leicht zurecht, da ihr "Platt" mit dem saarländischen Dialekt weitgehend identisch ist.

Die Franzosen aus anderen Regionen jobben meist im Dienstleistungsgewerbe, aber auch als Arbeiter in der Industrie. Indes bekleiden die Lothringer in der Regel einfachere Tätigkeiten: Je ranghöher eine Aufgabe ist, desto mehr ist Hochdeutsch gefordert - und das beherrschen nur wenige.

Aber ist auch nach Feierabend etwas von dem zu spüren, was IBA-Chef Bierbaum als "erfahrbare Interregionalität" beschreibt? Eher nicht. Für die meisten Grenzgänger, hat Charles Margue vom Luxemburger Meinungsforschungsinstitut Ilres beobachtet, bleibe der Arbeitsplatz selbst nach vielen Jahren "eine Enklave in einem fremden Land". Wohnung, Familie, Schulbesuch der Kinder, Vereine: Die persönliche Lebenswelt der Pendler sei überwiegend "lokal verwurzelt", sagt Margue. Arsène Schmitt formuliert es so: Natürlich gewinne man am Arbeitsplatz Freunde, man lade sich auch mal zur Grillparty ein, "aber in der Regel fährt man morgens über die Grenze und kehrt abends wieder zurück".

Es wird immer schwieriger, den "frontalier" überhaupt zu definieren. Denn da sind noch jene, die von der IBA als "atypische Grenzgänger" klassifiziert werden: Deutsche besonders aus dem Großraum Saarbrücken, die wegen günstigerer Immobilienpreise nebenan in Frankreich ihren Wohnsitz genommen haben und in die Heimat zum Jobben pendeln. Unter den 21.000 aus Lothringen stammenden Beschäftigten an der Saar stellt diese Gruppe mit knapp 7.000 fast ein Drittel der Pendler.

Bei Schmitts Assoziation machen inzwischen 200 der "atypischen frontaliers" mit. Umgekehrt hat die Hälfte der 8.000 lothringischen Angehörigen der Vereinigung an der Saar und in der Pfalz das Mitgliedsbuch einer DGB-Gewerkschaft in der Tasche.

Das "Comitée des Frontaliers" klinkt sich auch in die "große" Politik ein. 2002 lancierte die Organisation im französischen Präsidentschaftswahlkampf einen flammenden Appell gegen den Rechtsextremisten Jean Marie Le Pen und dessen nationalistische Abschottungspolitik. Und zum Schrecken der Parteizentralen in Paris landete Schmitts Truppe im Mai beim Abstimmungskampf um die EU-Verfassung mit einem spektakulären Aufruf zum Non einen Paukenschlag.

Wie das, müssen Grenzgänger nicht von Natur für eine solche Konvention sein? "Wir sind nicht antieuropäisch, wir sind geradezu Pioniere von Europa", erläutert Schmitt in seinem Saargemünder Büro kämpferisch seine Position, "aber wir wollen ein soziales Europa, wir lehnen eine EU ab, die das soziale Netz zerstört". Gerade die "frontaliers", fügt er an, "wissen aus Erfahrung, was das bedeutet".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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