Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005
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Douglas H. Johnson

Wo ist der "neue Sudan"?

Ein Land zerrissen von Rassismus und Dogmatismus
Erst 50 Jahre nach der Unabhängigkeit von Ägypten und Großbritannien beginnt im Sudan jetzt erneut der Prozess des Nation-Building. Das am 9. Januar 2005 in Nairobi unterzeichnete "Umfassende Friedensabkommen" beendete den 21 Jahre währenden Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Khartum und der Volksbefreiungsbewegung des Sudan (SPLM/A). Es schuf den Rahmen für die Bildung einer neuen nationalen Regierung sowie neuer und stärkerer Regionalregierungen im Süden, in den Nuba-Bergen und in dem an Äthiopien grenzenden Bundesstaat Blauer Nil. Das umfassende Friedensabkommen vermochte indessen nicht, den Konflikt in Darfur sowie die Unruhen im Osten des Sudan zu beenden und das Problem der Beteiligung anderer Oppositionsbewegungen an der neuen Regierung zu lösen.

Mit mehr als zweieinhalb Millionen Quadratkilometern - etwa die Größe Westeuropas - ist der Sudan das größte Land Afrikas, erstreckt sich von Wüsten im Norden bis zum Regenwald im Süden. Allerdings leben nur etwa 35,5 Millionen Menschen (Stand: 1999) im Sudan, ein Land, das nur auf der Landkarte als Staat existiert. Der Sudan ist multi-ethnisch, multi-kulturell und multi-religiös. Radikaler Islam stößt auf Christentum und animistische Religionen mit aller Schärfe. Obwohl der Sudan als arabisches Land gilt, liegt der Anteil der arabisch-stämmigen Bevölkerung bei lediglich 39 Prozent. Der Anteil der Schwarzafrikaner liegt dagegen bei etwa 49 Prozent, während andere nicht arabisch-stämmige Gruppen - die Beja im Osten und die Nubier im Norden - etwa sechs beziehungsweise drei Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Die Vorherrschaft des Islam im Sudan ist weniger ausgeprägt als es arabische und westliche Medien oft suggerieren. Die Zahl der Christen ist in den letzten Jahrzehnten trotz Zwangsislamisierung ständig gestiegen, und die islamische Gemeinschaft ist alles andere als geeint oder einheitlich. Die Aufgabe der Verknüpfung dieser Vielzahl von Gruppen zu einer Nation erfordert nicht nur eine in hohem Maße einigende nationale Ideologie, sondern auch staatliche Strukturen und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die eine gleichmäßige und gerechte Verteilung von politischer Macht und Wohlstand gewährleisten. Die politische Führung des Sudan ist jedoch seit der Unabhängigkeit 1955 in allen drei Bereichen gescheitert. Die Gründe für dieses Scheitern liegen zum Teil in den Ursprüngen der Unabhängigkeitsbewegung selbst, aber hauptsächlich in der Haltung der herrschenden muslimischen Elite des zentralen Niltals gegenüber anderen Volksgruppen und Religionen.

Das wichtigste nationale Projekt der ersten selbständigen Regierungen des Sudan bestand in der Förderung einer von Arabismus und Islam flankierten nationalen Identität und Fortsetzung der Entwicklungspriorität aus der Kolonialzeit, die die Konzentration von Investitionen im zentralen Niltal vorsah. Diesem einseitigen nationalen Projekt, dessen Ziel nicht die Einigung, sondern die Spaltung der verschiedenen Regionen und Völker des Sudan war, wurde von Anfang an Widerstand entgegen gebracht. Zunächst im nicht muslimischen, afrikanischen Süden, der ein Viertel des gesamten Staatsgebiets umfasst und in dem etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung beheimatet ist, aber auch seitens der afrikanisch-islamischen Bevölkerung im äußersten Westen und Osten des Sudan.

Die Zwangsislamisierung stieß im Süden des Landes auf den größten Widerstand, da dort die Mehrheit der Bevölkerung traditionellen Stammesreligionen anhing und die gebildete Elite sich hauptsächlich zum Christentum bekannte. Dies trug teilweise zum Aufflammen eines Bürgerkriegs in den 1960er-Jahren bei, als eine Reihe von Sezessionsbewegungen gegen die Regierungen in Khartum kämpfte und die Unabhängigkeit des Südens erreichen wollte. Es kam zu zahlreichen regionalen Bürgerkriegen und Staatsstreichen in Khartum, da sich auch die afrikanischen Muslime gegen die arabische Elite im zentralen Niltal auflehnte. Sie lehnten die wesentlich intolerantere und militante Variante des Islam im nördlichen Sudan ab. Ein erneuter Putsch im Jahr 1989 spülte dann den Brigadegeneral Omar Bashir an die Macht und bereitete allen Friedenshoffnungen endgültig ein Ende. Denn Bashir forderte zum Dschihad - zum Heiligen Krieg - gegen seine Feinde auf, darunter auch gegen die gemäßigten schwarzafrikanischen Muslime.

Die Frage der Volkszugehörigkeit im Sudan bezieht sich nicht auf die Hautfarbe. Sie wird vielmehr durch die Mentalität sowie Ideologie und Abstammung definiert. Nur dadurch ist der Konflikt in der Provinz Darfur zu erklären: Darfurs Bewohner, im naiven Glauben an das Versprechen der Gleichberechtigung aller Muslime seitens Bashir, stellten irgendwann fest, dass dies reine Worthülsen waren. Bereits vor dem "Aufstand" im Februar 2003, der die internationale Aufmerksamkeit erregte, waren einige Dörfer und Städte vor Ort in die Kämpfe verwickelt. Es ging unter anderem um umstrittene Landansprüche und lokale Streitigkeiten, aber in zunehmendem Maße um die Art und Weise, in der die Regierung in Khartum die Konflikte vor Ort deutete und sich einmischte. Sie erklärte die Rebellen einfach zu "Ungläubigen" und ließ in Darfur verbreiten, dass schwarze Menschen keine echten Muslime seien.

Ein islamischer Staat, der gegen seine eigenen muslimischen Bürger Krieg führt, ist ein für allemal kompromittiert. Auch wenn der islamische Staat im Sudan überlebt, wird es wohl keine sudanesische Nation an sich mehr geben können. Rassismus unterminierte das erste nationale Projekt der 50er- und 60er-Jahre. Doppelzüngigkeit und Gier bereiteten dem zweiten nationalen Projekt Nimeiris ein Ende. Dogmatismus und Rassismus zerstörten am Ende des 20. Jahrhunderts das dritte islamisch-nationale Projekt.

Zurzeit gibt es drei nationale Visionen, die im Wettbewerb um die Kontrolle im Sudan stehen: die von der südlichen SPLM und einigen nördlichen Oppositionsgruppen befürwortete säkulare, dezentralisierte Demokratie; das Fortbestehen der bereits vorhandenen aggressiven und eng gefassten islamistischen Autokratie oder die im zentralen Niltal praktizierte gemäßigt islamische Demokratie.

Das Friedensabkommen stellt die Bedeutung der Selbstbestimmung in den Vordergrund: Im Süden wurde darunter lange Zeit die Sezession vom Norden verstanden. Im Sprachgebrauch des einstigen SPLM-Führers John Garang handelt es sich bei Selbstbestimmung jedoch um einen Prozess und nicht um ein Endresultat. Wenn der von ihm angestrebte "Neue Sudan" tatsächlich innerhalb der vorgesehenen Übergangsphase von sechs Jahren Wirklichkeit werden würde, hätte der Süden seine Ziele erreicht, und es gäbe keinen Grund mehr für eine Sezession. Wenn aber die Parteien im Norden sich weigern, diesen "Neuen Sudan" bereitwillig anzunehmen, bleibt dem Süden nichts anderes übrig, als sich vom Norden loszusagen. Insofern hat nicht nur der Süden, sondern auch der Norden jetzt die Wahl, was er lieber hätte: einen geeinten multi-religiösen Sudan oder einen islamischen Nord-Staat.

Zuvor aber wird die neue nationale Regierung zu entscheiden haben, ob sie den derzeit aufständischen beziehungsweise sich am Rande der Rebellion befindlichen Regionen ähnliche politische und wirtschaftliche Befugnisse einräumen will. Wenn sie dies tut, wird die Stärke der nationalen Regierung gegenüber den Regionen weiter geschwächt und der islamische Staat verwässert.

Der Tod John Garangs bei einem Hubschrauberabsturz nur drei Wochen nach dessen Einführung in das Amt des ersten Vizepräsidenten des Sudan gefährdet die Zukunft des Friedensabkommens. Sein Nachfolger, Salva Kiir Mayardit, wird von vielen neutralen Beobachtern als ein weniger charismatischer politischer Führer beschrieben. Allerdings diente Salva dem militärischen Geheimdienst des Sudan, bevor er sich an der Gründung der SPLM/A beteiligte, und er ist mit der Mentalität seiner Gegner/Partner im Norden bestens vertraut. Außerdem genießt er im Süden einen hervorragenden Ruf und ist besser geeignet, die Querelen unter den einzelnen Volksgruppen dort zu überwinden, als Garang dies vermochte. Außerdem zeigt Salva die Fähigkeit, viele unterschiedliche Politiker einzubinden, die Garang vor den Kopf gestoßen hatte. Salva könnte noch alle überraschen.

Das Resultat des Nation-Building aber hängt nicht nur von einem Mann ab. Wenn die SPLM tatsächlich politische Bündnisse mit den unzufriedenen Regionen des Nordens herstellen und bewahren will, wird sie rasch den Wandel von einer Guerillabewegung zu einer politischen Partei vollziehen müssen. Sie wird es nicht schaffen, sich zu wandeln und gleichzeitig den Süden zu regieren.

Die SPLM muss einen Weg finden, die früheren Gegner im Süden und Norden des Landes einzubeziehen. Sie wird mit ihnen zusammenarbeiten und entscheiden müssen, welche Teile ihres Programms sie bereit ist, aufzugeben, um ihre hauptsächlichen Ziele zu sichern. Außerdem wird sie in den kommenden sechs Jahren entscheiden müssen, ob die Einheit des Sudan eine realistische und attraktive Perspektive ist oder ob die Unabhängigkeit des Südens doch der beste Weg wäre, um den Ansprüchen ihrer Hauptanhängerschaft gerecht zu werden.

Übersetzung des Textes aus dem Englischen durch den Sprachendienst des Deutschen Bundestages.


Douglas H. Johnson ist ein international anerkannter Sudan-Experte und lebt in Oxford, England. Er ist Autor des Buches: "The Root Causes of Sudan's Civil Wars", Oxford 2003.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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