Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005
Zur Druckversion .
Martin Ebbing

Schritt für Schritt in den Bürgerkrieg

Irak: Ernüchternde Bilanz nach zweieinhalb Jahren Wiederaufbau
Die Neo-Konservativen, die im Weißen Haus von George W. Bush wesentlich den außenpolitischen Kurs der USA bestimmen, sind nicht für ihre Vorliebe für eine Politik des Nation-Building bekannt. Aus ihrer Weltsicht sollte sich eine militärische Großmacht darauf beschränken, nationale Interessen zu verfolgen und als globale Ordnungskraft aufzutreten. Der Wiederaufbau eines zerrütteten oder zerstörten Staates ist dagegen in erster Linie Aufgabe der Menschen, die dort leben, oder internationaler Organisationen wie der UNO. Zudem gelten derartige Unternehmungen als langwierig, kostspielig und sind mit dem hohen Risiko behaftet, fehlzuschlagen.

In Afghanistan hatte die US-Regierung sehr schnell Koalitionen gebildet und die Vereinten Nationen mit an den Tisch gebracht, um die eigene Rolle auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Im Irak war dies nicht möglich. Nach den Kontroversen im Vorfeld der Invasion standen nicht nur wichtige westliche Partner wie Frankreich und Deutschland, sondern auch die UNO der Vorstellung ablehnend gegenüber, die Scherben für eine Politik aufkehren zu sollen, die sie von Anfang an abgelehnt haben.

Unterstützt von Großbritannien sowie einer bunt zusammengewürfelten "Koalition der Willigen", die aber nicht besonders zahlungskräftig ist, waren und sind die USA beim Aufbau eines "neuen Iraks" weitgehend auf sich allein gestellt. Fazit: Es ist weit einfacher, einen Krieg zu gewinnen als den Frieden.

Nach zweieinhalb Jahren Besatzung ist die Bilanz des Wiederaufbaus äußerst ernüchternd. Auf der positiven Seite steht, dass der Diktator gestürzt wurde. Der Irak erlebte im Januar dieses Jahres seine ersten freien Wahlen. Eine neue Verfassung wurde erarbeitet. Das Land besitzt halbwegs freie Medien. Eine neue, unabhängige Justiz wird aufgebaut. Ein Reihe von Schulen ist instand gesetzt worden. Universitäten können ihre Lehrpläne selbst bestimmen. Die auf Befehl von Saddam Hussein ausgetrockneten Marschen im Süden wurden wieder geflutet und die Menschen können zu ihrer traditionellen Lebensweise zurückkehren. Das Telefonnetz wurde verbessert und Mobilfunk eingeführt. Die Ernährungssituation und die medizinische Versorgung, beide von den langjährigen Sanktionen gegen den Irak stark in Mitleidenschaft gezogen, ist in vielen Regionen besser geworden. Abwasserkanäle wurden gebaut und neue Stromleitungen gelegt.

All diese Erfolge stehen aber im Schatten der anhaltenden Unsicherheit. Was nützt eine neue Schule, wenn die Eltern Angst haben, ihre Kinder zum Unterricht zu schicken? Der Irak befindet sich auch nach der Niederlage der irakischen Armee weiter im Kriegszustand. Im Monatsdurchschnitt werden 77 US-Soldaten von Aufständischen und Terroristen getötet. Die Zahl hat eine leicht zunehmende Tendenz. Die Gesamtzahl der amerikanischen Verluste wird in diesem Herbst die Marke von 2.000 überschreiten.

Über die Zahl der getöteten irakischen Zivilisten und Sicherheitskräfte liegen keine genauen Angaben vor, aber sie liegt mit Sicherheit weit höher. Im Juli gab das Innenministerium in Bagdad bekannt, dass nach seiner Zählung in den Monaten von August letzten bis Mai diesen Jahres 8.175 Iraker Opfer von Anschlägen und Gewalt wurden. Im Monatsdurchschnitt entspricht dies mehr als 600 Toten. Tendenz gegenüber dem Vorjahr ebenfalls steigend. Nicht mitgezählt wurden dabei die Opfer von Kriminalität, die sprunghaft angestiegen ist.

Präsident Bush formulierte es als Kriegsziel, dem islamistischen Terrorismus einen Schlag zu versetzen. Stattdessen ist der Irak heute zu einem neuen Rekrutierungsfeld für eben diese Terroristen geworden. Ein ständiger Strom von moslemischen Freiwilligen aus allen Ländern kommt in den Irak, wird ausgebildet und sammelt seine ersten praktischen Erfahrungen. Wer bei den Kämpfen nicht umkommt oder nicht als Selbstmordattentäter endet, kann als Veteran des Terrors später auch an anderen Orten der Welt eingesetzt werden.

Viele der neu gebauten Anlagen werden durch Sabotageakte gleich wieder zerstört. Immer noch wird im Land weniger Elektrizität produziert als vor dem Krieg. In diesem Sommer, in dem die Temperaturen über 50 Grad stiegen, litt Bagdad unter mehr Stromausfällen als in den Jahren zuvor. Da die Wasserversorgung ebenfalls von der Elektrizität abhängt, kommt es auch hier zu empfindlichen Ausfällen.

Das Benzin ist in einem Land, dass über die drittgrößten Rohölvorkommen der Welt verfügt, knapp geworden und muss rationiert werden. Der Irak exportiert heute weniger Öl als vor dem Krieg.

Die Arbeitslosigkeit ist immer noch exorbitant hoch. Auch hier fehlen genaue Zahlen, aber die Industriebetriebe liegen seit Kriegsbeginn im März 2003 brach. Plünderer sind über sie hergefallen, so dass sie oft nur noch als Ruinen stehen.

Die überwiegende Mehrheit der Iraker sagt, ihre Lebensumstände waren trotz Sanktionen zu Saddams Zeiten besser als heute nach der Befreiung durch die Amerikaner.

Die Geschichte der Fehlschläge und Missgeschicke beim Wiederaufbau ist weitgehend bekannt. Der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hat sich seit seinem Amtsantritt im Jahr 2001 darauf konzentriert, seine Vorstellung von einer modernen, hoch effektiven Armee umzusetzen. Seine Soldaten sollen mit der neusten Technik ausgestattet, hoch flexibel und in kürzester Zeit an jedem Ort der Welt einsatzbereit sein. Vor allem sollen sie eins tun: Kämpfen. Die Versorgung der Truppen, Nachschub und Logistik wurden deshalb an private Firmen ausgelagert. Auf Nation-Building ist eine solche "schlanke Armee" nicht vorbereitet.

Dennoch übernahm das Pentagon die Federführung beim Wiederaufbau des Iraks und stellte das amerikanische Außenministerium beim hausinternen Kräftegerangel ins Abseits. Die Pläne, die im State Department für die Zeit nach dem Krieg entwickelt wurden, wurden von den Militärs beiseite geschoben. Man begann lieber bei Null und versuchte zu improvisieren.

Die Mängel traten bereits wenige Tage nach dem Fall von Bagdad zu Tage, als Plünderer die Gunst der Stunde nutzten. Das US-Militär schritt nicht ein. Die "schlanke Armee" war personell zu dünn ausgestattet und betrachtet "policing" allemal nicht als seine Aufgabe.

Hunderte von Helfern für die Planung des Wiederaufbaus wurden nach Bagdad eingeflogen. Kaum einer der neuen Planer hat irgendwelche tieferen Kenntnisse von der irakischen Geschichte, Wirtschaft oder Kultur. College-Absolventen wurden durch Organisationen, die den Republikanern nahe standen, rekrutiert und fanden sich plötzlich als Verantwortliche für die Verwaltung des Haushaltes eines Landes mit 26 Millionen Einwohnern wieder. Prioritäten für den Aufbau wurden wöchentlich neu definiert, ohne dass es ein sinnvolles System der Erfolgskontrolle gab. Milliarden an US-Dollar versickerten irgendwo zwischen der Green Zone, dem ehemaligen Präsidentenpalast, in dem die Amerikaner ihr Heerlager aufgeschlagen haben, und der Umsetzung des Projektes. Die Abwassergrube wurde zwar bezahlt, aber nie gebaut. Niemand weiß, wo das Geld geblieben ist. Windige Geschäftsleute und viele Mitglieder der neuen, von den neuen Machthabern eingesetzten Regierung fanden schnell heraus, wie sie diese Situation zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen konnten.

Wichtige Zeit ging so verloren. Auch wenn viele Iraker den Sturz von Saddam Hussein begrüßten, waren sie von der Aussicht nicht begeistert, dass ihr Land nun zu einer amerikanischen Kolonie werden würde - es sei denn, die USA würden ihre Technologie und ihre Wirtschaftskraft zur Verbesserung der Lebensbedingungen im Lande nutzen. Diese Verbesserung trat nicht ein und so wurde die Forderung nach einem Abzug der Amerikaner lauter.

Bevor der Aufbau richtig in Schwung geraten konnte, geriet er in einem fatalen Kreislauf. Mit dem Erstarken des gewalttätigen Widerstandes und des Terrorismus wurde es immer schwieriger, zivile Projekte umzusetzen. Hilfsorganisationen und private Unternehmen zogen sich aufgrund der gefährlichen Lage zurück. Nach einem Anschlag auf ihr Hauptquartier in Bagdad verließ die UN das Land. Die Ausgaben für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen fressen inzwischen 20 Prozent und mehr des geplanten Budgets. Der Aufbau geriet ins Stocken. Die wirtschaftliche Misere, die oft der Nährboden ist, aus dem sich der Widerstand rekrutiert, setzt sich fort. Fehleinschätzungen und Unkenntniss des Landes kamen hinzu.

Die Auflösung der Saddam treuen Armee sowie die Reinigung des Staatsapparates von allen Unterstützern des alten Regimes mag zwar politisch konsequent gewesen sein, erwies sich aber als eine verhängnisvolle Entscheidung, weil damit ein Heer an Arbeitslosen geschaffen wurde, denen keine Alternative angeboten werden konnte. Frustriert und erzürnt schlossen sich viele der Gefeuerten dem Widerstand an.

Bei ihren Verhaftungsaktionen und Hausdurchsuchungen gingen die US-Militärs auf eine Weise vor, dass sie mehr Sympathisanten des Widerstandes schufen als sie dingfest machen konnten. Die Misshandlungen im Gefängnis Abu Ghraib, von den Tätern selbst fotografiert, waren nur die Spitze des Eisberges.

Der Plan, durch ein unüberschaubar kompliziertes System eine erste, US-gefällige Regierung wählen zu lassen, scheiterte am Einspruch eines einzigen Mannes. Ayatollah Ali Sistani, geistlicher Führer der Schiiten, die wiederum die Mehrheit der Bevölkerung im Lande ausmachen, verlangte Direktwahlen. Seine Worte markierten, was im Lande politisch durchsetzbar ist oder nicht. Die USA lenkten ein.

Neben Planlosigkeit und Unkenntnis kommt ein dritter Faktor hinzu, der den Aufbau des Iraks negativ beeinflusst. Die Zielsetzungen orientieren sich oft mehr an den Erfordernissen der amerikanischen Innenpolitik als an den wirklichen Bedürfnissen des Landes. Beispiel: die jüngste Ausarbeitung einer Verfassung.

Gedacht war die verfassungsgebende Versammlung als ein Forum, in dem Schiiten, Sunniten und Kurden eine Plattform finden sollten, wie sie gemeinsam ihr zukünftiges Leben im Irak gestalten wollen. In den vergangenen Monaten zeichnete sich bereits ab, dass die Spannungen zwischen diesen drei Gruppen über die Verteilung der Macht und der Bodenschätze immer mehr ans Tageslicht traten. Das Schreiben einer Verfassung hätte ein Katalysator sein können, eine Verständigung über diese Differenzen zu finden und sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen.

Die Gewalt eines Teiles des Widerstandes wie der Terroristen hat sich in der letzten Zeit sehr gezielt gegen die Schiiten gerichtet. Schiitische Gruppen reagierten mit Vergeltung, auf die erneut Vergeltungsaktionen der anderen Seite folgten. Das Land bewegt sich Schritt für Schritt auf einen Bürgerkrieg zu.

Die Verständigung hätte Zeit gebraucht. Es hätte beispielsweise nach Wegen gesucht werden müssen, um auch den Sunniten, bei denen der Widerstand seinen Rückhalt hat, eine angemessene Zukunft zu garantieren. Diese Zeit hat das Weiße Haus nicht. Der Krieg im Irak wird in den USA immer unpopulärer. Erste Ansätze einer Friedensbewegung formieren sich. Erinnerungen an Vietnam werden wach. Präsident Bush drängt deshalb auf vorzeigbare Ergebnisse, die die Richtigkeit seiner Politik bestätigen.

Die USA übten deshalb enormen Druck auf die verfassungsgebende Versammlung aus, unter allen Umständen bis Ende August zu einem Ergebnis zu kommen. Nicht einmal eine mögliche Verlängerung der Beratungen um sechs Monate wurde gewährt, um den Zeitplan mit einem Referendum zur Verfassung am 15. Oktober und Neuwahlen im Januar einhalten zu können. Entstanden ist so ein Dokument, das von den Sunniten kategorisch abgelehnt wird und das die bestehenden Differenzen über so wichtige Fragen wie die Rolle des Islams oder die föderative Struktur späterer Klärung überlässt. Im gegenwärtigen Klima im Irak kann das nur bedeuten, dass sich die politischen Gruppen ermuntert fühlen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Der Abstand zum Bürgerkrieg ist noch geringer geworden.

Mittlerweile ist auch in Washington Ernüchterung eingetreten. Die Neo-Konservativen sind angesichts des Desasters stiller geworden. Von dem "demokratischen Irak, der auf den ganzen Mittleren Osten ausstrahlen wird", von dem Präsident Bush nach den erfolgreichen Wahlen im Irak immer wieder sprach, ist kaum noch die Rede. Die Vorstellung einer Demokratie nach westlichem Muster wird langsam zu den Akten gelegt. Realistischer ist eine schiitisch dominierte Regierung, die im benachbarten Iran ihren engsten Partner sieht. Wundern kann sich über dieses Ergebnis nur, wer die Demografie des Landes und seine kulturellen Wurzeln nicht kennt.

Diskutiert wird in Washington nun, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommen kann. Die Verantwortung für die Sicherheit des Landes soll so schnell wie möglich in irakische Hände übergeben werden. Mit Eile wird an dem Aufbau einer irakischen Polizei und einer irakischen Armee gearbeitet. Auch hier ist der Fortschritt weit langsamer, als es sich die Verantwortlichen in Unkenntnis der Verhältnisse vorgestellt haben. Zudem gleicht die neue irakische Polizei in ihren Methoden fatal der Polizei von Saddam Hussein. Folter und Misshandlungen von Gefangenen gelten nach wie vor als probate Methoden.

Mit dem Aufbau einer irakischen Ordnungsmacht werden - auch wenn es noch eine Weile dauern wird - die Voraussetzungen für einen Abzug der Amerikaner geschaffen. Nicht beantwortet ist damit die Frage, wie der Irak aussehen soll, damit der Krieg als ein Erfolg gewertet werden kann. Trotz Drängens der Demokraten im Kongress ist Präsident Bush einer Antwort auf diese Frage bislang ausgewichen. Seine Reden gleichen immer mehr Durchhalteparolen. Er fordert seine Landsleute auf, "nicht das Herz, nicht die Nerven in Zeiten der Prüfung" zu verlieren. Der US-Präsident scheint zu den Wenigen zu gehören, die sich noch gegen die Einsicht sträuben, dass die Invasion im Irak ein Fehlschlag war.


Martin Ebbing arbeitet als freier Journalist in Teheran und berichtet regelmäßig aus dem Iran, seit 2003 auch aus dem Irak.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.