Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005
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Antje Mißbach

Friede im Haus des Friedens?

132 Jahre Unabhängigkeitskampf der indonesischen Provinz Aceh
"Kembali ke ibu pertiwi" heißt auf Deutsch so viel wie "Zurück ins Mutterland" und meint eigentlich nichts anderes als die Abkehr von regionalistischem Ungehorsam und die folgsame Wiedereinordnung unter das Zepter des indonesischen Einheitsstaates. Bereits wenige Tage nach dem verheerenden Tsunami Ende 2004 forderte Theo Sambuaga, Kommissionsvorsteher der Abteilung Sicherheit und Verteidigung des indonesischen Parlaments, die unmittelbare Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der "Gerakan Aceh Merdeka" (Bewegung Freies Aceh, GAM).

Während bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige je von Aceh gehört hatten, rückte diese indonesische Provinz im äußersten Norden Sumatras - von der Fläche nicht größer als die Schweiz und mit kaum mehr als 4 Millionen Einwohnern - mit einem Mal ins Interesse der Medien. Neben den verheerenden Folgen der Flutwelle wurde auch ein seit fast 30 Jahren anhaltender Krieg "ent-deckt". Dessen Existenz war bisher weitgehend durch Pressezensur und Zutrittsverbote von der indonesischen Zentralregierung verschwiegen worden. Nur wenige Länder beziehungsweise Medien interessierten sich für diesen Krieg, obwohl er der am längsten andauernde Separationskonflikt der Welt ist.

Der Fall Aceh stellt in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes dar, nicht nur als ein von außen gesteuerter Konflikt, sondern vor allem wegen seiner antagonistischen Einbindung in das multi-ethnische Indonesien. Der Aufbau dieses Staats, der sich zum Ziel setzte, mehrere Dutzend unterschiedliche ethnische Gruppen in einem riesigen, kaum überschaubaren Territorium ohne föderale Strukturen zu integrieren, war und ist keine leichte Aufgabe. Zumal das Erbe des Kolonialismus schwer auf die Psyche der Nation lastet und schon die Unabhängigkeitserklärung für Spannungen sorgte.

In den letzten 132 Jahren - seit dem Zeitpunkt der ersten westlichen Invasion in Aceh (1873), als die Niederländer versuchten, ihre kolonialen Besitztümer in Südostasien territorial zu einigen - gab es in Aceh mehr Krieg als Frieden. Auf den mehr als 30 Jahre andauernden antikolonialen Widerstand folgte nach einer kurzen Zeit der Befriedung 1942 der Einmarsch der Japaner und daraufhin ein Bürgerkrieg zwischen den ehemaligen Widerstandskämpfern und den Kollaborateuren mit den Japanern. Von 1953 bis 1962 schloss sich Aceh der "Darul Islam"-Bewegung (Haus des Islam) an. Grundsätzlich handelte es sich dabei nicht um eine Sezessionsbewegung, sondern um einen bewaffneten Protest gegenüber der Zentralregierung, die nach Meinung der Aufständischen in religiösen Angelegenheiten viel zu halbherzig war. Der den Acehnesen anhaftende Ruf des religiösen Fanatismus wurde damit untermauert, wenngleich sich Acehs Einwohner bis heute gegen diesen Vorwurf wehren. Was Außenstehende als Fanatismus bezeichnen, nennen sie selbst Pietismus. All diese Aufstände hatten ihre spezifischen Ursachen.

Loslösung vom Einheitsstaat

Das jüngste blutige Kapitel setzte 1976 mit der Formierung der GAM ein, die seither sowohl mit militärischen als auch mit diplomatischen Mitteln für die Loslösung aus dem indonesischen Einheitsstaat kämpft. Ursachen dafür finden sich in der wirtschaftlichen Ausbeutung, der infrastrukturellen Vernachlässigung und der kulturellen Bevormundung. Im Laufe der Zeit wirkte die Perpetuierung von Rache als eigenständiger Faktor.

Der Widerstand der GAM unter Hasan di Tiro - einem Spross aus einer berühmten acehnesischen Gelehrtenfamilie, der lange Zeit in den USA als Geschäftsmann lebte - lässt sich in drei Phasen einteilen: In den ersten Jahren (1976 - 1979) gab es nur wenige Dutzend Anhänger, die den Befehlen Tiros, der 1976 nach Aceh zurückgekehrt war, Folge leisteten. Ihre Aktivitäten beschränkten sich auf das Hissen der Flagge, Dschungelexpeditionen und sporadische Überfälle auf Polizei- und Militärposten. Nach der Niederschlagung durch das indonesische Militär flohen die wichtigsten Anführer ins Ausland. Der Widerstand in Aceh kam zum Erliegen. Vom schwedischen Exil aus koordinierte Tiro jedoch den Widerstand weiter. Mitte der 80er-Jahre rekrutierte die GAM hunderte Acehnesen, die in Libyen paramilitärisch ausgebildet wurden. Ihre Rückkehr nach Aceh 1989 entfachte neue bewaffnete Auseinandersetzungen, Counter-Guerilla-Maßnahmen blieben nicht aus. Aceh wurde zur Sondermilitärzone erklärt. Amnesty international berichtete von schweren Menschenrechtsverletzungen von Seiten des indonesischen Militärs. Einschüchterungen aller Art, willkürliche Erschießungen und Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung riefen tiefe Rachegefühle unter der Bevölkerung hervor, die zuvor nicht unbedingt die GAM unterstützt hatte. Auch nach dem Zurück-drängen der Guerillas Anfang der 90er-Jahre blieben die meisten Soldaten vor Ort. Viele zogen wirtschaftliche Vorteile für sich aus ihrer jahrelangen Anwesenheit.

Enttäuschte Hoffnungen

Nach dem Rücktritt von Präsident Suharto im Mai 1998 hegten viele Acehnesen die Hoffnung, dass die Gewalt ein Ende haben und ihnen nun Wiedergutmachung widerfahren würde. Das Gegenteil trat ein. Es gab keine seriösen Bemühungen um eine rechtliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverstöße. Mitte 1998 kam es erneut zu gewalttätigen Konfrontationen zwischen den Guerillas und dem Militär. Die GAM verzeichnet seither einen beträchtlichen Zulauf, verfügt über bessere Ausstattung und eine funktionstüchtigere Struktur als vorher, was nur aufgrund ausländischer Finanzspritzen möglich ist. Diese dritte Phase, die außerdem von zwei gescheiterten Friedensbemühungen (2000 und 2002) gekennzeichnet ist, dauerte bis vor kurzem an. Am 15. August 2005 wurde in Helsinki eine dritte Friedenserklärung von exilierten GAM-Vertretern und Repräsentanten der indonesischen Regierung unterzeichnet. Inwieweit diese es vermag der Gewalt ein Ende zu bereiten, bleibt indes offen.

Neben den bilateralen Verhandlungen im Ausland zur Beendigung des Konfliktes, der mittlerweile etwa 12.000 Menschenleben gekostet hat, unternahm die indonesische Regierung weitere Schritte. Unter Interimspräsident Bacharuddin Jusuf Habibie, einem in der Adenauer-Ära in Aachen ausgebildeten Zögling Suhartos, wurden 1999 zwei Dezentralisierungsgesetze erlassen. Diese Bestimmungen übertrugen den Regionen mehr Verantwortung in puncto staatliche Dienstleistungen und implementierte einen Finanzausgleich zwischen den Regionen und der Zentralregierung. Obwohl Aceh für die folgenden acht Jahre eine 70-prozentige Gewinnbeteiligung an der Erdgasgewinnung zugesprochen wurde, vermochten diese Gesetze insgesamt wenig an dem sich intensivierenden Konflikt zu ändern. Von den wirtschaftlichen Vorteilen profitierten am ehesten raffgierige Eliten. Das deutlichste Beispiel ist der Fall des Gouverneurs von Aceh, Abdullah Puteh, der mittlerweile wegen Korruption im Gefängnis sitzt.

Anfang 2002 trat ein Sonderautonomiegesetz für Aceh in Kraft. Das beinhaltet neben kulturellen Zugeständnissen wie der offiziellen Umbenennung Acehs in Nanggroe Aceh Darussalam (arabisch: Haus des Friedens) auch die Teileinführung der Scharia, wobei die Einführung islamischer Jurisdiktion nie Teil der acehnesischen Forderungen war.

Während die Post-Suharto-Regierungen durchaus ein gewisses Interesse an einer friedlichen Konfliktlösung hatten, obgleich ihre Bemühungen nicht frei von erheblichen Defiziten waren, kann das nicht unbedingt von den zwei Hauptakteuren des Krieges behauptet werden.

Die chronische Unterfinanzierung des indonesischen Militärs ist nicht zuletzt dafür verantwortlich, dass ein Teil der für die militärischen Operationen notwendigen Finanzen selbst erwirtschaftet wird. Diese Einkommen schaffenden Maßnahmen umfassen auch illegale Bereiche wie Holzeinschlag in Naturschutzgebieten, Schutzgelderpressungen und Drogenhandel. Umkehrschlüsse, dass etwa das Militär seine lukrativen Geschäfte freiwillig abtreten würde, sofern die Besoldung entsprechend sei, sind nicht unbedingt zulässig.

Wirtschaftliche Interessen sind auch bei der GAM zu finden. Neben Lösegeldern, finanziellen und materiellen Zwangsabgaben der Bevölkerung und Zuwendungen aus dem Ausland finanzieren sich die Guerillas auch durch Drogenhandel und Schmuggel. Eine dritte Gruppe, die bisher analytisch weitestgehend vernachlässigt wurde, sind die vom Militär engagierten Milizen. Obwohl es kaum verlässlich Zahlen über ihre Größe und Stärke gibt, ist anzunehmen, dass auch ihre wirtschaftlichen Interessen am Konflikt nicht zu verkennen sind.

In Folge der gescheiterten Friedensinitiativen wurden die indonesischen Truppenkontingente in Aceh massiv verstärkt. Nachdem im Mai 2003 der Notstand ausgerufen wurde, konnte die GAM erheblich geschwächt werden. Neben diesen militärischen Offensiven bemühte sich die Regierung unter Megawati Sukarnoputri, der Tochter des ehemaligen Staatsgründers Sukarno, in Schweden um die Auslieferung der GAM-Exilregierung.

Im Zuge der Antiterrormaßnahmen wurde Hasan di Tiro und seinen Vertrauten ein Bombenanschlag auf die Börse in Jakarta zur Last gelegt. Aus Mangel an Beweisen wurden die GAM-Anführer nach wenigen Tagen wieder entlassen. Doch die inzwischen neu gewählte Regierung unter Susilo Bambang Yudhoyono war noch längst nicht am Ende ihrer diplomatischen Möglichkeiten angelangt. Im Oktober 2004 nahmen Regierungsangehörige Kontakte zu Muzakkir Manaf, einem wichtigen GAM-Kommandeur, in Kuala Lumpur auf und verfassten einen geheimen Neun-Punkte-Plan. So gesehen kamen die neuen, offiziellen Friedensverhandlungen nach dem Tsunami gar nicht überraschend. Federführend bei den folgenden fünf Runden der Friedensverhandlungen in Helsinki war der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari und die von ihm gegründete Crisis Management Initiative.

Zu den wichtigsten Punkten der Friedensabsichtserklärung gehören: Demobilisierung, was sowohl den Abzug von nicht organisierten Truppen aus Aceh als auch eine vollständige Entwaffnung der GAM vorsieht; Amnestie der GAM und Reintegration ihrer Kämpfer sowie eine mehrmonatige Überwachung des Friedensprozesses durch Beobachter der EU und ASEAN.

Unabhängigkeit durch die Hintertür?

Obwohl die indonesische Verfassung und das Wahlgesetz keine regionalen Parteien vorsehen, wurde der Forderung der GAM nach politischer Partizipation und der Gründung solcher Parteien stattgegeben. Von Kritikern wird bemängelt, dass sich die GAM damit ein Hintertürchen geschaffen hat, eines Tages doch noch - und zwar per Abstimmung - zur Unabhängigkeit gelangen zu können. Ohnehin beinhaltet das neue Vertragswerk viel Raum für unterschiedliche Interpretationen. Solange das Ausland und vor allem die Geber- und Helferorganisationen Interesse für die Region zeigen und das Vorgehen kritisch beobachten, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass sich beide Seiten an die vereinbarten Regeln der Friedenserklärung halten.


Antje Mißbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.