Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 43 / 24.10.2005
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Drohpotenzial für den Bundestag

Interview mit Christian Pestalozza
Der Berliner Staatsrechtler Professor Christian Pestalozza hat die Verfassungen der Bundesländer untersucht und sieht bei einem Selbstauflösungsrecht des Bundestages positive Aspekte.

Das Parlament: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Kanzler einen weiten Spielraum eröffnet, um das Parlament durch eine Vertrauensfrage gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes aufzulösen. Wozu wird denn noch ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages benötigt?

Pestalozza: Ein Selbstauflösungsrecht bedeutet für jedes Parlament einen doppelten Zugewinn: Erstens hängt es nicht von der Initiative oder Billigung irgendeines anderen Verfassungsorgans ab; das Parlament allein entscheidet und wird damit unabhängiger. Zweitens erhält das Parlament so ein Drohpotenzial gegenüber der Regierung, deren Amt mit der Wahlperiode steht und fällt. Im Moment kann sich der Bundestag von der Regierung nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum trennen; ein Selbstauflösungsrecht würde bedeuten, dass der Bundestag die Regierung stürzen kann, ohne sofortigen Ersatz bereitzustellen - allerdings um den Preis des eigenen Freitodes. Artikel 68 des Grundgesetzes bedarf im Übrigen - nach seiner Verzerrung und Aufweichung durch das Bundesverfassungsgericht - dringend der Reform. Der Bundestag sollte noch ein zweites Mal eingeschaltet werden müssen - so wie ja auch der Bundeskanzler schon jetzt zweimal mit Vertrauensantrag und Auflösungsantrag beteiligt ist. Zur zweiten Beteiligung des Bundestages sollte es kommen, wenn der Bundeskanzler aus der Versagung des Vertrauens die Konsequenz gezogen hat, den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestages zu bitten. Da dies der Zeitpunkt ist, wo es ernst wird, sollte der Bundestag die Möglichkeit erhalten, mit qualifizierter Mehrheit von zwei Dritteln oder drei Vierteln die Auflösungsbitte zu unterstützen oder eben auch nicht. Eine Auflösung des Parlamentes durch den Bundespräsidenten dürfte dann nur erfolgen, wenn außer dem Antrag des Kanzlers auch eine qualifizierte Mehrheit des Bundestages bei der zweiten Abstimmung vorliegt.

Das Parlament: Entstünde durch ein Selbstauflösungsrecht nicht die Gefahr politischer Instabilität? Schließlich hätten die Abgeordneten dann die Möglichkeit, sich bei großen politischen Problemen ihrer Verantwortung zu entziehen?

Pestalozza: Diese Gefahr sehe ich nicht; die bisherige Praxis in den Bundesländern, die ja alle ein Selbstauflösungsrecht kennen, gibt auch keinerlei Anhaltspunkte in diese Richtung. Alles andere wäre auch verwunderlich. Warum sollten Abgeordnete ihr Mandat vorzeitig aufgeben und sich dem Risiko der Nichtwiederaufstellung oder Nichtwiederwahl aussetzen? Ich kenne niemanden, der dies getan hätte oder tun wollte, um sich "seiner Verantwortung zu entziehen". Mit dem Mandat übernimmt der Abgeordnete ohnehin eine außerordentliche Verantwortung, freiwillig und wissentlich.

Das Parlament: Schon jetzt wird argumentiert, dass politisches Handeln zu kurzfristig sei. Würde dieser Effekt durch ein Selbstauflösungsrecht nicht noch verstärkt?

Pestalozza: Zehn unserer Bundesländer kennen deswegen eine fünfjährige Wahlperiode; die vierjährige erscheint ihnen angesichts der Größe und Langfristigkeit der vom Parlament in Angriff zu nehmenden Aufgaben nicht mehr ausreichend. Jede Verkürzung durch vorzeitige Selbstauflösung läuft solchen Überlegungen natürlich zuwider. Das gilt aber für die Fremdauflösung genauso und ist kein wirkliches Argument, weil man darauf vertrauen kann, dass jedes Parlament nur in größter Not zur vorzeitigen Auflösung greifen wird; also zum Beispiel dann, wenn langfristige Politik wegen der aktuellen politischen Lage gerade nicht mehr möglich ist.

Das Parlament: Die Fraktionen im Bundestag werden immer mehr, aber auch immer kleiner. Wie kann der Schutz von Minderheiten oder auch von einzelnen Abgeordneten bei einem Selbstauflösungsrecht gewahrt werden?

Pestalozza: Unabhängig von der Größe und Zahl der Fraktionen muss gewährleistet sein, dass nicht zu viele Abgeordnete durch auflösungsbereite Parlamentarier gegen ihren Willen ihr Mandat verlieren können. Bereits der Antrag auf Selbstauflösung sollte deswegen nur von einer Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gestellt werden können, und die Entscheidung zugunsten eines solchen Antrages sollten nur drei Viertel oder mindestens doch zwei Drittel der Abgeordneten treffen können.

Das Parlament: Welchen weiteren Voraussetzungen sollte ein Selbstauflösungsrecht unterliegen?

Pestalozza: Abgesehen von den beiden genannten Quoren sollte die Selbstauflösung an keinerlei inhaltliche Voraussetzungen geknüpft werden. So sehen es zu Recht auch alle Landesverfassungen. Ein parlamentarisches Votum ist ein Votum, das für sich steht und nicht auf Motive hinterfragt oder an Bedingungen geknüpft werden sollte.

Das Parlament: Herr Pestalozza, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Das Interview führte Kai Nitschke


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.