Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 45 / 07.11.2005
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Martin Gerner

Nach den Wahlen in Afghanistan - ein Endergebnis ohne Ende

Die zaghaften Demokratieversuche haben noch keine klaren Verhältnisse geschaffen

Den Wettlauf gegen die Zeit hat Afghanistans Wahlkommission längst verloren. Fast zwei Monate nach der Parlamentswahl gibt es immer noch kein amtliches Endergebnis. Einer der führenden Oppositionspolitiker, Yunus Kanuni, hat angesichts erwiesener Vorwürfe von Manipulation und Betrug mittlerweile eine Neuauszählung der Stimmen gefordert. Die wird es freilich nicht geben. Stattdessen hat die gemischte Wahlkommission aus UN- und afghanischen Behörden scheibchenweise Unregelmäßigkeiten in vielen Provinzen einräumen müssen und mehr als 50 Mitarbeiter entlassen. In einigen Fällen wurden diese offenbar mit Geld bestochen oder durch Waffengewalt eingeschüchtert. Und es bleibt ein Widerspruch: Nach UN-Angaben sind mehrere Hundert Wahlurnen, die angeblich rund drei Prozent der Stimmen entsprechen sollen, wegen Betrugverdachts seit geraumer Zeit aus der Zählung herausgenommen. Zugleich erklärt die Wahlkommission, diese Stimmen würden keinen entscheidenden Einfluss auf den Wahlausgang haben. In den Augen vieler unterlegener Kandidaten haben die UN und die Regierung Karsai deshalb ihre Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüßt. Fast täglich demonstrieren ihre Anhänger in Kabul und anderen Städten. Der afghanische Präsident Hamid Karsai hat seine Landsleute dagegen aufgefordert, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Afghanistan, so Karsai, habe noch nicht den Verwaltungsapparat, um eine perfekte Auszählung sicherzustellen.

Glaubt man offiziellen und inofiziellen Angaben von Diplomaten und Helferorganisationen, dann sind unter den Gewinnern viele ehemalige Mudschahedin, die zuerst die sowjetischen Invasoren besiegt und später einen Bürgerkrieg ausgelöst haben. Mehr als 80 Prozent der Wahlsieger in den Provinzen und rund 60 Prozent in Kabul sollen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen haben, so die unabhängige afghanische Menschenrechtsorganisation.

Diese ernüchternden Zahlen hätten sich die Organisatoren der Wahl sparen können. Seit Juni lag eine UN-Liste mit den Namen von über 250 Personen vor, die nicht oder nur ungenügend entwaffnet wurden. Statt sie von der Wahl auszuschliessen, drückte man - allen voran Karsai und die US-Berater - im Namen der nationalen Versöhnung das Auge zu.

Auch vier ehemalige Taliban, darunter Maulawi Mohammadi, sind unter den Gewählten. Der frühere Gouverneur der Taliban-Milizen von Bamiyan wird mitverantwortlich gemacht für die Sprengung der weltberühmten Buddha-Statuen. "Ich hatte damals keine Macht", rechtfertigt sich der neue Volksvertreter, der sich mit seiner Wahl wie viele andere strafrechtlich reingewaschen haben dürfte. In der Provinz Kandahar wurden zwei Brüder von Präsident Karsai gewählt, einem davon - Wali Karsai - wird nachgesagt, aus dem Handel mit Drogen sein Geld und Einfluss zu beziehen.

Es gibt aber auch merklich Positives. Neben den konservativen Kandidaten hat eine Reihe von Frauen sehr gut abgeschnitten. Das erscheint paradox, erklärt sich aber durch die vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung von Frauen. So hat in der Provinz Herat Fauzia Gailani rund 100 Männer hinter sich gelassen. Die gebildete Frauenrechtlerin, die aus einer aristokratischen Familie stammt, hat sich erfolgreich für Frauen in neuen Berufen, Pressefreiheit und gegen Zwangsheirat eingesetzt. Nach wie vor verbrennen sich in Herat viele Frauen wegen der Zwangsehe.

Insgesamt dürften nur rund 50 Abgeordnete das Attribut "unabhängig" verdienen. Pessimisten befürchten deshalb, dass es statt eines Neuanfangs einen Rückfall in alte Zeiten geben wird, wie schon in den 60er-Jahren, als das Parlament keine nennenswerte Rolle spielte. "Ehemalige Kriegsherren und Kommandeure wollen als zivilisiert gelten. Das Parlament bietet ihnen die Chance eines Neuanfangs. Auch vor ihren Wählern müssen sie sich rechtfertigen", widerspricht Safia Siddiqi der pessimistischen These. Die Abgeordnete aus der Opium-Provinz Nangarhar hat im Wahlkampf zwei Anschläge überlebt, die ihr gegolten hatten.

Das afghanische Parlament, die Wolesi Jirga ("Haus des Volkes"), wird sich voraussichtlich im Dezember konstituieren. Erster Akt ist die Wahl eines Parlamentspräsidenten. Dafür interessieren sich der ehemalige Präsident und Ex-Führer der Nordallianz, Burhanuddin Rabani und Yunus Qanuni, Anführer einer 14-Parteien-Allianz. Beobachter rechnen damit, dass Karsais Gegner im Parlament versuchen werden, einigen seiner Minister das Misstrauen auszusprechen. Karsai selbst kann qua Verfassung nicht vom Parlament abgewählt werden. "Trotzdem bedeutet die Wahl für ihn ein Imageverlust", sagt Abed Nadjib, ehemaliger Botschaftsrat Afghanistans in Deutschland. "Viele Menschen sind unzufrieden mit den Verhältnissen im Land. Sie sehen Karsai zwar weiter gerne an der Macht, wollen aber, dass er mehr Druck bekommt und kontrolliert wird."

Ob sich ein konstruktiver Oppositionsblock formiert, ist noch völlig unklar. Ebenso, wie Karsai die Mehrheit für Gesetzesvorhaben finden will. Ehemalige Mudschahedin und Traditionalisten verfügen über rund 100 von 249 Sitzen. Ebensoviele Abgeorndete sind Paschtunen von derselben Ethnie wie Karsai. Vieles könnte auf Fall-zu-Fall-Mehrheiten hinauslaufen. Sollte Karsai ähnlich wie bei der verfassungsgebenden Loya Jirga undurchsichtige Vereinbarungen mit alten Kriegsfürsten aushandeln, werden das Parlament und seine eigene Glaubwürdigkeit leiden. Hier liegt die eigentliche Wette auf die Zukunft.

Ende Januar 2006 wird es in London die vorerst letzte große Afghanistan-Konferenz geben. Najib fordert deshalb: "In jedem Fall müssen Deutschland und die internationale Gemeinschaft das neue Parlament unterstützten. Es muss gegenseitige Parlamentarierbesuche geben und Hilfe beim Entstehen einer professionellen Parlamentsverwaltung."

Unter Zeitdruck steht auch die Renovierung des alten Parlamentsgebäudes. Der Bau war bis vor kurzem nur Fassade. Unter den Sowjets stand er leer, im Bürgerkrieg würde er weitgehend zerschossen und zerbombt. Nur die Außenmauern standen noch. Anfang des Jahres ging man an die Erneuerung. Unermüdliche Bauarbeiter, die täglich die Farbe von Staub annehmen, setzten zurzeit die letzten Steine, damit der Bau auf fünf Stockwerken wieder begehbar ist. Es wird ein Provisorium sein. Am Horizont im Westen Kabuls ragt apokalyptisch der alte Präsidentenpalast Darulaman auf einem Hügel empor. Die Mauern sind voller Einschusskrater, das Dach ein durch Bomben zerfetztes Torso, außerdem Minengefahr. Hier soll in vier Jahren das neue Parlamentsgebäude eines indischen Architekten entsthehen. Bleibt zu hoffen, dass das Haus der Demokratie nicht nur äußerlich stabil sein wird.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.