Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 46 / 14.11.2005
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Barbara von der Lühe

Die Sicht auf die selben Dinge ist anders und bleibt fremd

Die deutsche Avantgarde entdeckt die Kunst aus China
"Kunst aus China boomt - es ist jetzt "fashionable", zeitgenössische chinesische Künstler in seiner Sammlung zu haben", sagt der führende Berliner Galerist Alexander Ochs. Seit über einem Jahrzehnt setzt er sich für den Kulturtransfer zwischen China und Deutschland ein, hat Höhen und Tiefen erlebt. Vor kurzem hat er auf dem Berliner ART Forum ein Gemälde und mehrere brandneue Skulpturen des in Peking lebenden Malers und Bildhauers Fang Lijun - eines der Shooting-Stars der internationalen Kunstszene - verkauft. In den Räumen der Galerie Ochs in Berlin-Mitte, einem der "Brennpunkte" chinesisch-deutschen Kulturaustauschs auf künstlerischem Gebiet, findet man Werke chinesischer und südkoreanischer Künstler, die in Material und Stil unterschiedlicher kaum sein können: Skulpturen, Ölgemälde, Klang-Installationen, 3D-Computergrafiken und Fotografien - ein Mikrokosmos der künstlerischen Avantgarde Asiens. Aber auch ein schwarz-weißes Mao-Porträt von Gerhard Richter (1968) zählt zu den Exponaten - ein Hinweis auf die Rezeption Chinas im Westen.

Als Alexander Ochs zusammen mit Jaana Prüss 1997 seine Galerie ein paar Häuser weiter in der Sophienstraße eröffnete, bewies er ebenso Mut wie Voraussicht. Zeitgenössische Kunst aus Asien galt als "exotisch". Tatsächlich blickt die chinesische künstlerische Avantgarde auf eine vergleichbar kurze Geschichte zurück. 1979 gilt als das Entstehungsjahr: Drei Jahre nach dem Tod Mao Tse Tungs und dem Ende der Kulturrevolution regten sich in verschiedenen Orten Chinas Künstler, die Werke jenseits des offiziellen Mainstreams schufen. In Peking trat die Künstlergruppe "Sterne" mit zwei Ausstellungen von Öl- und Tuschbildern, Holzschnitten und Holzschnitzerei in Erscheinung. 1980 wurde die "Star Painting Society" offiziell gegründet.

Einer der Begründer ist Zhu Jinshi (der Nachname steht vor dem Vornamen). Er kam Mitte der 80er-Jahre mit seiner Frau, der Künstlerin Qin Yufen, nach Deutschland. Als Sohn nordchinesischer Eltern wurde er 1954 in Peking geboren und zählt zur Generation jener Künstler, deren Ausbildung autodidaktisch verlief, noch bevor das akademische Studium in China wieder möglich wurde. Zhu arbeitet vor allem mit Reispapier, Bambus und Tusche, diese Materialien arrangiert er zu raumbezogenen, architektonisch-skulpturhaften Gebilden. "Wenn ich meine Installationen mit Reispapier mache, dann ist dies ein Bruch mit der Tradition der alten Intellektuellen-Kultur in China, denn traditionell benutzt man Reispapier nur für Tuschmalerei und Kalligraphie", erklärt Zhu: "Unsere künstlerische Entwicklung kommt aus dem Zen-Buddhismus, der eine Protestbewegung gegen den traditionellen Buddhismus ist. Vergleichbar mit DaDa oder Fluxus als Protest gegen die traditionelle oder klassische Kunstauffassung."

Das Künstlerehepaar Qin Yufen und Zhu Jinshi pendelt seit vielen Jahren zwischen Deutschland und China. In Berlin wohnen sie nahe der Neuen Nationalgalerie, quasi im Dialog mit den deutschen und europäischen Künstlern, die sie besonders schätzen: "Die Brücke, der Blaue Reiter oder Emil Nolde, das ist unser Lieblingsmaler, davon hatten wir schon in China viele Kataloge gesehen." Zeitgenössische westliche Kunst drang damals kaum bis nach China durch: "Beuys, das war für uns damals ganz neu, davon waren wir sehr geschockt. Neu waren Installationen, Video-Arbeiten. DaDa war in China schon bekannt, die moderne Kunst seit den 60er-Jahren aber nicht - Minimum Art, Pop Art, oder Fluxus, Konzeptkunst."

Auch Qin Yufen zählt zu den Avantgarde-Künstlern der ersten Stunde. 1954 in Qingdao geboren, kam sie schon als Kind mit ihren Eltern nach Peking. Mehrere Jahre arbeitete sie dort in einer Kesselfabrik, als Autodidaktin fand sie zu ihrer künstlerischen Berufung. Anfang der 80er-Jahre gründete sie mit etwa zehn Künstlern und Künstlerinnen die Gruppe "Abstrakte Malerei". Als Robert Rauschenberg 1985/86 sein ROCI (Rauschenberg's Overseas Culture Interchange)-Projekt in Peking zeigte, veranstaltete er mit der Künstlergruppe ein Seminar und eine Ausstellung. 1986 stellte Qin Yufen auf Einladung des Heidelberger Kunstvereins ihre Werke erstmals in Deutschland aus, im selben Jahr ließ sie sich mit ihrem Mann in Berlin nieder. Seit dieser Zeit befasst sie sich mit Installationen. Ab 1990 wurde der Klang zu einem wichtigen Bestandteil, etwa Alltagsgeräusche und von der Künstlerin selbst rezitierte chinesische Gedichte aus der Song-Zeit, die elektronisch verfremdet werden, aber auch Musik aus Pekingopern und Opern Richard Wagners.

Sie ist die wohl bekannteste chinesische Künstlerin in Deutschland, ihre Arbeiten werden in Peking und in New York, in der Schweiz, Spanien und Italien ausgestellt und befinden sich unter anderem in den Sammlungen der Deutschen Bank Collection in Frankfurt, des Hamburger Bahnhofs in Berlin und der Weltbank in Washington. Gern arbeitet die Tochter einer Schneiderin mit alltäglichen Gegenständen aus Ost und West, mit Reispapier, Strohhüten, Seide und Wäsche. Ihre Vorliebe gilt Wäscheständern, die sie weltweit in unterschiedlichsten Landschaften und Räumen inszeniert, etwa im Frühjahr 2005 vor dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin: "Die Wäscheständer", erläutert die zierliche Frau, "kannte ich in China nicht. Sie sind für mich wie die chinesische Zither. Auch dies ist ein langer Dialog, der im Westen begonnen hat."

Im Rahmen von "Asia: The Place to Be?" in der Galerie Ochs zeigt sie ihre Installation "Legends in Black and Red": Unter der Decke des Raums schweben rote und schwarze Mao-Jacken über weißen Seiden-Gewändern, eine Anspielung auf die tiefen Gräben zwischen den Anhängern der ,roten' Ideen Maos und den ehemals Bürgerlichen, die während der Kulturrevolution verfolgt wurden. Die Kleider sprechen miteinander, rezitieren Texte. Die Installation ist Teil einer größeren Werkgruppe mit Textilien, die sich mit dem historischen und gesellschaftlichen Wandel in China beschäftigt. Gefragt nach den chinesischen und den westlichen Einflüssen in ihrem Werk antworten Qin Yufen und Zhu Jinshi, dass die Kunst letztlich durch die Globalisierung gemischt sei, die Einflüsse könne man kaum trennen.

Für ihren Künstlerkollegen Yang Shaobin steht seine Lebenserfahrung in China im Mittelpunkt: Yang, Jahrgang 1963, zählt zur Generation chinesischer Künstler, die bereits eine akademische Ausbildung an chinesischen Kunsthochschulen abschloss. Er stammt aus Tangshan in der Provinz Hebei, schloss sein Studium am Polytechnikum der Universität Hebei ab und lebt heute in Peking. Der frühere Polizist stellte seine Werke im Westen erstmals 1993 in der Ausstellung "China Avantgarde" aus, auch auf der Biennale in Venedig 1999 war er vertreten. Im Juni kam er nach Berlin, um seine neuesten Werke mit Titel "Vibrations" zu präsentieren. Gegenwärtig ist in der Berliner Sophienstraße seine Arbeit "Vibration 1" (Öl auf Leinwand, 2005) zu sehen, in der er sich mit dem Japanisch-Chinesischen Krieg der 30er- und 40er-Jahre auseinandersetzt. In kaltem Blau des Himmels fliegen japanische Bomber einen Angriff. Die Bezüge zu Gerhard Richters Mustang-Staffel (1964), die den Tieffliegereinsatz über Dresden im Zweiten Weltkrieg ins visuelle Gedächtnis ruft, sind absichtlich. Allerdings fliegen die Flugzeuge der beiden in entgegengesetzte Richtungen. Die Decodierung von Yangs Bild verläuft kulturell verschieden: Ein Chinese assoziiert die Zusammenhänge mit der chinesischen Geschichte, andere Betrachter denken an den Zweiten Weltkrieg - aus dem Bild mögen aber auch aber neue Zusammenhänge mit Afghanistan oder dem Irak entstehen. Es bleibt die Wut, die Yang Shaobin nach eigenen Worten treibt. Yangs Kriegsbilder verkauften sich übrigens gut - aus seiner Ausstellung waren nach drei Tagen schon fünf verkauft.

Letztlich kann die Frage nach den westlichen Einflüssen der heutigen Künstlergeneration also nicht eindeutig beantwortet werden. Denn nach einer ersten Phase der intensiven Rezeption und Reaktion auf westliche Kunst in China in den 80er-Jahren hat sich in China eine Kunstszene mit einer sehr differenzierten Ausdrucksweise entwickelt, die ihre eigenen Wege sucht: In ihrem Werk erkunden die Künstler Politik und Reformen, Geschichte und Kultur, private und kollektive Lebensformen, Reaktionen auf westliche Einflüsse, die Bedeutung östlicher und westlicher Lebensweise, den Gegensatz von Reichtum und Armut.

Im Vordergrund steht bei den meisten die Frage nach der kulturellen Identität. Auch die westliche Rezeption chinesischer Kunst wandelte sich in den letzten 20 Jahren: Bernard Fibicher spricht von vier Topoi: Der chinesische Künstler als Dissident, sowie der chinesische Künstler als Exot, und, seit Mitte der 90er-Jahre, der nicht mehr chinesische, sondern globale Künstler, und seit Beginn des neuen Jahrtausends, der chinesische Künstler als "Bedrohung", der mit seiner Produktion die Kunstszene im Westen provoziert. Hier mischen sich alte und neue Vorurteile gegenüber China. Alexander Ochs warnt denn auch vor voreiligen Festlegungen, in denen sich nur westliche Sichtweise spiegelten.

Ein Schaufenster westlicher und chinesischer zeitgenössischer Kunst eröffnete Alexander Ochs 2004 mit seiner Galerie "White Space Beijing" im neu entstandenen Kunstquartier 798 im nordöstlichen Pekinger Stadtteil Dashanzi. Auf dem Gelände einer mit Hilfe der Sowjetunion und der DDR in den 50er-Jahren erbauten ehemaligen Fabrik haben sich Galerien, eine Kunstbuchhandlung, Designerbüros, Bars und Restaurants angesiedelt. Das Viertel ist "in", häufig lassen sich dort prominente Gäste aus dem Ausland sehen. Auch der scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder bestand während seines Staatsbesuchs im Dezember 2004 darauf, Dashanzi und die Galerie White Space zu besuchen. Bis jetzt konzentriert sich das Interesse an chinesischer Avantgarde-Kunst auf Sammler aus westlichen Ländern: Im ersten Jahr liefen die Verkäufe in Peking noch nicht so gut, erzählt Alexander Ochs, denn die chinesischen Käufer hielten sich zunächst zurück. Aber er ist dennoch optimistisch: Das zunehmende Interesse an zeitgenössischer chinesischer Kunst in China auch von offizieller Seite, die Beteiligung chinesischer Künstler an den Biennalen in Venedig und in anderen Städten, die "Mahjong"-Ausstellung über chinesische Gegenwartskunst in Bern zeigen - die chinesische Avantgarde führt längst kein Nischen-Dasein mehr.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.