Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 48 / 28.11.2005
Zur Druckversion .
Christoph Seils

Jugend Europas begegnet sich in großer Offenheit

Der Austausch mit Osteuropa nimmt stetig zu - deutsche Teenager fahren dennoch lieber in den Westen
Im September dieses Jahres war Anne Kahn das erste Mal in Polen. Mit acht Schülern des Elisabethen-Gymnasiums in Frankfurt am Main nahm die Lehrerin für Politik und Geschichte in den Städten Posen und Krakau an einem einwöchigen deutsch-polnischen Seminar teil. 40 polnische und 32 deutsche Schüler aus sechs Schulen diskutierten über Krieg und Vernichtung, Umsiedlung und Vertreibung, besuchten gemeinsam das Konzentrationslager Auschwitz. Wenn Anne Kahn nun die Frage beantworten soll, was sie an dieser deutsch-polnischen Begegnung am meisten beeindruckt hat, dann erzählt sie, wie wenig sie sich früher für Polen interessiert habe und wie viel Neues sie und ihre Schüler über den östlichen Nachbarn gelernt hätten.

Es hat sich gelohnt", sagt die Gymnasiallehrerin und fügt hinzu: "Es ist in jedem Fall sinnvoll, die Begegnungen fortzusetzen." Das nächste Treffen der sechs Schulen soll im kommenden Jahr in Potsdam stattfinden.

Gefördert wurde das Seminar vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW). Es war eine von etwa 4.300 geförderten Schüler- und Jugendbegegnungen mit knapp 170.000 Teilnehmern in diesem Jahr. Das Interesse an Polen nimmt seit der Gründung des Jugendwerkes im Jahr 1991 kontinuierlich zu. "Unsere Arbeit trägt Früchte", sagt DPJW-Geschäftsführerin Doris Lemmermeier. Mehr noch. In diesem Jahr erlebt das DPJW einen regelrechten Boom. "Es gibt einen riesigen Ansturm auf unserer Fördertöpfe", sagt die Geschäftsführerin und betrachtet diese Entwicklung trotz alle Freude auch mit gewisser Sorge. "Mit diesem Boom geraten wir an die Grenzen unserer finanziellen Möglichkeiten."

Nicht nur der Jugendaustausch mit Polen nimmt stetig zu. Insgesamt gibt es immer mehr bi-, tri- und multilaterale Austauschprogramme mit den osteuropäischen Staaten. Schwerpunkte sind die Nachbarländer Polen und Tschechien, aber auch die Nachfrage nach Austauschprogrammen mit den neuen EU-Ländern Lettland, Estland Litauen, Ungarn und Slowakei sowie mit der Ukraine und Russland steigt. So hat sich beispielsweise die Zahl der Teilnehmer am Schüleraustausch mit den neuen ost- und südosteuropäischen EU-Ländern zwischen 1999 und 2003 von 29.000 auf 60.000 mehr als verdoppelt. Insgesamt geht die Bundesregierung davon aus, dass im Jahr 2003 etwa 190.000 Schüler, Jugendliche und Studenten aus den dortigen Ländern am staatlich geförderten Jugendaustausch teilgenommen haben. Wie viele Jugendbegegnungen darüber hinaus von zahlreichen nichtstaatlichen Organisationen und Stiftungen gefördert wurden, darüber wird keine Statistik geführt.

Die Trägerlandschaft ist vielfältig. Ihre Zahl geht in die Hunderte. Es gibt viele Fördertöpfe und Ansprechpartner bei den Bundesländern, dem Bund und der Europäischen Union sowie die unterschiedlichsten Programme für Schüler, Jugendgruppen, Auszubildende oder Studenten (siehe Kasten). So fördert zum Beispiel der Pädagogische Austauschdienst der Kultusministerkonferenz (PAD) den Schüleraustausch. Im Rahmen ihres Kinder- und Jugendplans unterstützt die Bundesregierung den Internationalen Jugendaustausch mit Osteuropa. Jugend, Sokrates und Leonardo da Vinci heißen die Austauschprogramme der Europäischen Union. Für Studenten ist der DAAD der wichtigste Ansprechpartner. Nur für den Jugendaustausch mit den unmittelbaren östlichen Nachbarländern Polen und Tschechien gibt es spezielle Einrichtungen, die den Austausch fördern und Kontakte vermitteln. Neben dem DPJW ist dies "Tandem", das Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch.

Die Koordinierung von Jugendbegegnungen ist trotz des Booms nicht immer einfach. In Deutschland gibt es ein umfangreiches Netz von Trägern der Jugendarbeit, in Tschechien beispielsweise befindet sich dieses noch im Aufbau. "Da fehlen 40 Jahre Entwicklung", sagt "Tandem"-Leiter Stephan Kruhl. Darüber hinaus seien die alten Strukturen aus der Zeit des realen Sozialismus teilweise diskreditiert. Vorbild für alle Austauschprogramme nach Osteuropa ist das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW). 1963 wurde dieses vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle gegründet. Bis heute erhält das DFJW mehr als doppelt soviel Geld wie das DPJW. Kein Wunder also, dass auch die Teilnehmerzahlen doppelt so hoch sind.

Doch das ist nicht der einzige Grund: Auch wenn der Austausch mit Osteuropa stark zunimmt, geht der große Trend beim Jugendaustausch in Deutschland immer noch eindeutig in Richtung Westen. Das mag daran liegen, dass deutsche Schüler wesentlich häufiger Englisch und Französisch als Polnisch, Tschechisch oder Russisch lernen. Es hat wohl aber auch damit zu tun, dass diese Länder angesagter sind. So nahmen im Jahr 2003 beispielsweise 35.000 Schüler am Austausch mit Frankreich teil, 10.000 am Austausch mit Großbritannien. Lediglich 16.000 fuhren nach Polen.

In Osteuropa selbst liegt das Reiseziel Deutschland, in dem man sein Schüleraustauschjahr oder sein Studium verbringen kann, ganz vorn: Schon heute besuchen mehr Schüler aus osteuropäischen EU-Staaten Deutschland als junge Menschen aus Frankreich und England. 26.000 Schüler kamen 2003 von dort nach Deutschland, aus Frankreich und England waren es 20.000 beziehungsweise 4.000. Dass hat nicht nur seine Ursache darin, dass sich die osteuropäische Länder am westeuropäischen Wohlstand orientieren, sondern wiederum auch an der Sprachkompetenz. Zwar hat Englisch in den osteuropäischen Ländern Deutsch als erste Fremdsprache abgelöst, aber noch immer ist Deutsch in Polen, Tschechien, Ungarn oder Russland sehr populär.

So ist denn auch die fehlende Sprachkenntnis der deutschen Teilnehmer wohl insgesamt eines der größten Hemmnisse beim Schüler- und Jugendaustausch mit Osteuropa. Viele geplante Begegnungen reduzieren sich auf eine touristische Reise, wenn sich die Teilnehmer nicht verständigen können. Auch dort, wo Übersetzer eingesetzt werden, kommt es nur mühsam zu persönlichen und unmittelbaren Kontakten. Doch für das DPJW gilt, dass auch jeder teilnehmen kann, der lediglich seine Muttersprache beherrscht, erklärt Doris Lemmermeier. Die fehlenden Sprachkenntnisse seien für sie "kein Problem sondern eine Herausforderung". Aber auch das deutsch-tschechische Koordinierungszentrum "Tandem" läßt die Jugendlichen mit dem Problem mangelnder Sprachkompetenz nicht allein: Das Zentrum hat ein Sprachanimationsprogramm entwickelt. Mit diesem sollen Jugendliche in einem relativ kurzen Zeitraum zumindest Ansätze einer Sprachfähigkeit erwerben.

Wenn heute das Erlernen der Fremdsprache ein wichtiger Punkt ist, stand nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderes Ziel der Jugendbegegnungen im Mittelpunkt: Die Versöhnung zwischen den so genannten Erzfeinden Deutschland und Frankreich. Beide Länder sind heute europäische Partner wie auch Polen und Tschechien.

In der Folge haben sich die Ziele des Jugendaustausches längst verändert. "Versöhnung steht heute nicht mehr im Mittelpunkt", sagt "Tandem"-Leiter Stephan Kruhl, selbst über heikle Themen wie Völkermord und Vertreibung würden die Jugendlichen inzwischen mit großer Offenheit sprechen. Wichtiger seien die interkulturelle Kompetenz und die dadurch entstehende internationale Verständigung. Ähnlich sieht es auch DPJW-Geschäftsführerin Doris Lemmermeier: "Unsere Motivation kommt nicht mehr nur aus der Vergangenheit, sondern es geht heute genauso darum, gemeinsam die europäische Gegenwart und Zukunft zu gestalten."

Das DPJW würde gerne mehr trinationale Begegnungen zwischen Deutschland, Polen sowie den östlichen Nachbarländern Russland, Weißrussland und Ukraine, die nicht der EU angehören, fördern. Die östliche EU-Außengrenze soll für Jugendbegegnungen durchlässig sein.

Natürlich hätte auch "Tandem" nichts gegen mehr Geld und flexiblere Fördertöpfe einzuwenden. Aber die Frage, ob mehr deutsche Jugendliche ihren Blick nach Tschechien richten, ist für Stephan Kruhl vor allem auch eine Imagefrage: "Wir müssen mehr Interesse wecken", sagt er. "Wir müssen darauf hinarbeiten, dass immer mehr Jugendliche sagen: ,Tschechien ist cool.'"


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.