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Februar 01/1999
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JUNGE BUNDESTAGS-NEUEINSTEIGER ZIEHEN EINE ERSTE BILANZ

"Man darf den Boden unter den Füßen nicht verlieren"

E. Deligöz
"Ich wollte zeigen, daß wir als Migranten ein wichtiger Teil dieser Gesellschaft sind."
Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen

Sie gehören unterschiedlichen Fraktionen an, kämpfen zum Teil für gegensätzliche Positionen, haben ganz verschiedene Bio graphien. Dirk Niebel, Nina Hauer, Katherina Reiche, Angela Marquardt und Ekin Deligöz haben die ersten 100 Tage als Neuparlamentarier im Bundestag hinter sich. Die Erfahrungen, die sie in dieser kurzen Zeit gesammelt haben, liegen jedoch gar nicht so weit auseinander.

Das Leben als Bundestagsabgeordneter kam dem jungen F.D.P.-Neueinsteiger Dirk Niebel aus Heidelberg manchmal vor wie im Film: "Am Anfang war es merkwürdig. Wenn ich in Bonn ankam, wurde ich förmlich eingesogen, wenn ich später wieder abreiste, wurde ich wieder ausgespuckt - zurück in die Realität. "
In Bonn funktioniert eben vieles anders, die Abgeordneten treffen auf neue Kollegen, müssen sich mit den parlamentarischen Arbeitsabläufen vertraut machen, leben in den Sitzungswochen fern von Familie und Freunden, haben einen 14-Stunden Tag, müssen erste organisatorische Schwierigkeiten über brücken. Auf der anderen Seite steht die Unterstützung durch das eigene Büro mit Mitarbeitern, durch die Fahrbereitschaft des Bundestages, durch hilfreiche Kollegen sowie die Bundestagsverwaltung.

D. Niebel
"Ich habe das Glück, daß ich mein Hobby zum Beruf machen konnte"
DIRK NIEBEL, F.D.P.

Auch wenn der erste Anlauf nicht ganz leicht fiel - nach 100 Tagen haben sich die meisten eingearbeitet und eingelebt, viele bereits ihre "Jungfernrede " im Bundestag gehalten - eine Art Feuerprobe, die jeder bestehen muß. Auch der 35jährige Niebel, bereits zum arbeitsmarktpolitischen Sprecher seiner Fraktion avanciert, zieht eine positive Bilanz: "Es ist eine ganz andere Arbeitszufriedenheit. Denn ich habe das Glück, daß ich mein Hobby zum Beruf machen konnte. "

In den 14. Deutschen Bundestag sind von insgesamt 669 Abgeordneten 178 neu eingezogen: 88 bei der SPD-Fraktion, 46 bei der CDU/CSU-Fraktion, 12 bei Bündnis 90/Die Grünen, 13 bei der F.D.P. und 19 bei der PDS-Fraktion. Von den zehn jüngsten Mitgliedern des Bundestages sind neun Neueinsteiger, der SPD-Abgeordnete Carsten Schneider ist mit 23 Jahren der jüngste Parlamentarier.

Gerade für die jungen Politiker ist die Umstellung vom Leben als Student oder Berufs einsteiger besonders groß und wird als gravierender Einschnitt ins Leben empfunden. Dennoch waren sich die meisten dieser Herausforderung bewußt, wußten durch frühere Kontakte zu Abgeordneten und durch ihr politisches Engagement, worauf sie sich einließen.

Nina Hauer, Jahrgang 1968, frühere stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, arbeitete nur kurz in ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin: "Es ist mir nicht leichtgefallen, den Job aufzugeben. Aber ich habe es nicht bereut ", sagt sie heute. Die SPD-Abgeordnete aus dem Wahlkreis Wetterau, die sich auf Steuerpolitik und Wirtschaft spezialisiert hat, ist Mitglied in ihrem Wunschausschuß Finanzen geworden, ist außerdem eine von zwei Sprechern der Gruppe der jungen SPD-Abgeordneten (alle SPD-MdBs unter 40). Sie hat die erste Zeit im Bundestag als durchweg positiv empfunden: "Ich fand es unheimlich aufregend, daß ich dabei sein konnte, als ein Sozialdemokrat zum Bundeskanzler gewählt wurde. Es war ein großer Moment. " Auch die Einbindung in die Fraktion habe sehr gut funktioniert. "Die Kollegen haben mich toll aufgenommen. " Ihr erster Erfolg? "Meine Jungfernrede zur wirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik. Wenn man im Bundestag spricht, hat man das Gefühl, noch unmittelbarer an der Demokratie beteiligt zu sein. Es war für mich schon etwas Besonderes, bei einer so zentralen Debatte zu reden. "

N.Hauer
"Es ist mir nicht leichtgefallen, den Job aufzugeben. Aber ich habe es nicht bereut"
NINA HAUER, SPD

Erfahrene Mitarbeiter

Als "zum Teil schwierig " empfand Nina Hauer, alle Feinheiten der parlamentarischen Abläufe zu durchblicken. Bei der täglichen Arbeit wurde ihr klar, wie wichtig es ist, ein funktionierendes Büro und erfahrene Mitarbeiter zu haben. "Ich versuche, mich um die meisten Dinge selbst zu kümmern, alle Briefe auch selbst zu beantworten. Doch bei der Auswahl braucht man Unterstützung. "

Über ihre privilegierte Situation als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ist sie sich im klaren: "In unserem Alter wäre in einem anderen Beruf eine solche Einkommensebene kaum denkbar. Aber der Arbeitsaufwand ist auch ein anderer, und wir zahlen einen hohen Preis, denn private Kontakte und Hobbys bleiben auf ein Minimum beschränkt. " Das nimmt sie aber gern in Kauf: "Mein wichtigstes Hobby war früher nämlich die Politik. "

Ekin Deligöz, Bundestagsneuling von Bündnis 90/Die Grünen, ist studierte Verwaltungswissenschaftlerin. Die 27jährige wurde in der Türkei geboren, kam mit acht Jahren nach Deutschland und ist seit zwei Jahren deutsche Staatsbürgerin. Sie sammelte zuvor politische Erfahrungen bei den Grünen u.a. in der Jugendarbeit. Durch ein Praktikum im Büro des grünen Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir gewann sie Einblicke in die parlamentarischen Abläufe. Ihre Fachgebiete sind die Verwaltungsreform, die Demokratisierung und die Kinderpolitik.

Darüber hinaus engagiert sich die junge Bundestagsabgeordnete in der Migrationspolitik - "ein Thema, das mir am Herzen liegt ". "Mit meiner Kandidatur ", so Deligöz, "wollte ich auch ein Zeichen für andere mit vergleichbarer Biographie setzen und zeigen, daß wir als Migranten ein wichtiger Teil dieser Gesellschaft sind. " Den Wechsel in die Bundespolitik empfindet Ekin Deligöz als große Umstellung: "Abgeordnete tragen eine besondere Verantwortung, haben aber auch die Chance, Themen zu setzen. " Die erste Zeit war nicht immer einfach für die Grüne: "Was anderen, vor allem männlichen Neueinsteigern, nur als Anlaufschwierigkeiten ausgelegt wurde, wurde bei mir von seiten der Opposition oft als Inkompetenz interpretiert. Als junge Frau türkischer Herkunft, noch dazu mit dem Fachgebiet Verwaltungsreform, ist man offenbar für einige Kollegen eine Provokation. " Hierdurch lerne sie jedoch, sich selbst zu behaupten.

Besonders gute Erfahrungen hat Ekin Deligöz mit ihren Mitarbeitern gemacht: "In unserem Büro gibt es eine sehr gute Teamstruktur, wir sehen die Ergebnisse als unser gemeinsames Produkt. " Und noch ein positiver Punkt: "Die Offenheit und Hilfsbereitschaft der Kollegen aus der Fraktion. " Was sie sich an Angeboten des Bundestags in Berlin wünschen würde: "Eine Möglichkeit, in der Mittagspause etwas für die Gesundheit zu tun, ein Schwimmbad oder einen Fitneß-Raum. "

Nach der Uni direkt ins Parlament - so verlief der Weg der 25jährigen CDU-Abgeordneten Katherina Reiche. Die Chemikerin, die in Potsdam, USA und Finnland studierte, engagierte sich in der CDU-Brandenburg vor allem in den Bereichen Hochschule, Wissenschaft und Technologie. Im Ausschuß für Bildung und Forschung ist sie daher stellvertretendes Mitglied. Ein wichtiges Anliegen war ihr auch die Mitgliedschaft im Ausschuß für Angelegenheiten der Neuen Länder.

Sie sieht die Arbeit im Bundestag vor allem als Herausforderung, sich in neue, komplexe Themen einzuarbeiten und Prozesse mitzugestalten. "Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Arbeit der Fraktion sehr professionell organisiert ist. Die Unterstützung für einen Neuling wie mich läßt nicht zu wünschen übrig. Dies ist für meine politische Arbeit in Bonn eine sehr wichtige Grundlage. "

K. Reiche
"Mit der neuen Aufgabe ging schon eine große Umstellung einher"
KATHERINA REICHE, CDU/CSU

Große Umstellung

Die junge CDU-Politikerin lebt in den Sitzungswochen in einer kleinen Pension in Bonn. "Mit der neuen Aufgabe ging schon eine große Umstellung einher. Kontakte zu Familie und Freunden leiden natürlich, Hobbys werden vernachlässigt. " Der Privilegien als Parlamentarierin ist sie sich durchaus bewußt. "Man darf dabei nie vergessen, wem man die Position auch zu verdanken hat, nämlich den Menschen im Wahlkreis. "
Gravierende Veränderungen seiner Lebensumstände hat auch der Einzug des F.D.P.-Mannes Dirk Niebel in den Bundestag mit sich gebracht. Der 35jährige, der als Arbeitsvermittler beim Arbeitsamt Heidelberg beschäftigt war, hatte sich mit seiner Frau die Betreuung der beiden Söhne geteilt. Das erlaubt sein neuer, besonders arbeitsintensiver Job nicht. Die größte Überraschung für den Abgeordneten: wieviel Papier auf seinem Schreibtisch landet, das gelesen, bearbeitet, gefiltert werden muß.
Als besonderes Erlebnis empfand er seine "Jungfernrede " zum Thema 630-Mark-Jobs: "Ich mußte mich kurzfristig inhaltlich etwas umstellen, habe dann frei gesprochen, und das hat sehr gut geklappt. Hier habe ich mich das erste Mal tatsächlich als Abgeordneter gefühlt. Die gelungene Rede war mein erster Erfolg. "
Durch sein früheres Engagement bei der F.D.P. und den Jungen Liberalen kannte er bereits viele Abgeordnete, hatte dann im Bundestag in den ersten Wochen der Orientierung auch viele Ansprechpartner, die ihn unterstützen konnten. Der Vorteil einer kleineren Fraktion: "Man kennt sich schnell, kann sich besser einbringen. "
A. Marquardt
"Man darf den Boden unter den Füßen nicht verlieren."
ANGELA MARQUARDT, PDS
Daß sie mit ihrem unkonventionellen Aussehen so mancher Abgeordnete als "Kulturschock " empfindet, daran hat sich die PDS-Politikerin Angela Marquardt, 1971 geboren in Ludwigslust, schon gewöhnt, nicht aber an die "ins Persönliche gehenden Anfeindungen ", die sie schon habe spüren müssen. Eine Anpassung an den Stil der meisten Abgeordneten will sie dennoch nicht: "Ich will ich selbst bleiben."

Prioritäten setzen

Einem Spagat kommt zur Zeit das Leben der früheren stellvertretenden PDS-Vorsitzenden gleich: Neben der Tätigkeit als Abgeordnete studiert sie in Berlin Politikwissenschaften. Dafür sind dann die Nächte, der Sonntag und, wenn möglich, der Montag reserviert. Dienstags geht es dann um 6.30 Uhr nach Bonn, ein Zeitplan, der der jungen Abgeordneten nicht leichtfällt.

Ihr Fachgebiet ist Technologie und Medienpolitik, im entsprechenden Ausschuß ist sie stellvertretendes, im Ausschuß für Umwelt und Kernenergie ordentliches Mitglied. Ihre Erfahrung nach den ersten Monaten: "Man muß lernen, Prioritäten zu setzen, versuchen, nicht im Parlamentarismus zu versinken. " Die Abgeordnetendiäten empfindet sie als "viel Geld, aber ich gerate nicht in einen Kaufrausch ". Über die herausgehobene Position als Abgeordnete ist sie sich im klaren. Außerparlamentarische Aktivitäten und Kontakte bleiben daher für sie sehr wichtig. "Man darf den Boden unter den Füßen nicht verlieren. "

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9901/9901070
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