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August 07/1999
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Bilanz Parlamentarischer Tätigkeiten

Lehrjahre im "Provisorium"

50 JAHRE AUSSENPOLITIK/EUROPAPOLITIK DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND VON SABINE ROSENBLADT

Reichstagsgebäude

Die beste auswärtige Politik", befand ein deutscher Sozialdemokrat, Karl Liebknechts Vater Wilhelm, im Jahr 1882 vor dem Deutschen Reichstag, "ist gar keine." Nicht "mit dem Auslande" solle die deutsche Regierung sich beschäftigen, forderte die SPD damals, sondern mit den "inneren Angelegenheiten", um "Frieden und Wohlfahrt im Lande selbst herzustellen".

Nach zwei Weltkriegen, im Mai 1949, entstand auf den Trümmern des Landes jenes "Provisorium", das 40 Jahre lang unter alliiertem Vorbehalt keine vollständig souveräne "auswärtige Politik" betreiben konnte: die Bundesrepublik Deutschland. Ihr erster Außenminister hieß – hätten Sie's gewusst? – Konrad Adenauer. Von 1951 bis 1955 nämlich hatte der Kanzler in Personalunion auch dieses Amt inne. Und er begründete damit eine Tradition, die seine Nachfolger fortführten: Über Jahrzehnte – von der Westbindung über die Ostverträge bis zur Wiedervereinigung – wurde bundesdeutsche Außenpolitik in nicht unbedeutendem Umfang auch im Kanzleramt gemacht.

Konrad Adenauer
Bundeskanzler und Außenminister in Personalunion: Von 1951 bis 1955 hatte Konrad Adenauer (vorne im Bild) beide Ämter inne.

Das "Auswärtige Amt", im März 1951 wieder eingerichtet, litt unter dem Paradoxon, dass gerade das Kernstück der bundesrepublikanischen Außenpolitik, das Streben nach Wiedervereinigung, nicht in seine Zuständigkeit fiel: Nach dem grundgesetzlich verankerten Auftrag, in "freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", war der Umgang mit der DDR "Innenpolitik" und wurde von einem eigens gegründeten "Ministerium für innerdeutsche Angelegenheiten" betreut. Die "Hallstein­Doktrin" – keine Beziehungen zu Staaten, die die DDR anerkannt und damit den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik ignoriert hatten – erschwerte zusätzlich jahrelang die Arbeit der bundesdeutschen Diplomaten in aller Welt.

Doch blickt man jetzt im Zeitraffer auf die vier Jahrzehnte vor der Vereinigung zurück, dann entpuppen sich diese Zeiträume als glänzende Lehrjahre für die junge Republik: Im Zentrum des Kalten Krieges an der Schnittstelle der Systeme balancierend, vorsichtig bestrebt, ein zuverlässiger Bündnispartner für den Westen und bald auch ein vertrauenswürdiger Gesprächspartner für den Osten zu werden, mühte sich die bundesdeutsche Politik intensiv um neue Respektabilität für das über die Maßen schuldbeladene Land des Holocaust. "Die Republik von Bonn brauchte, um den Fortgang der Historie zu erfahren, keine Superlative", meint der Publizist Klaus Happrecht heute. "Sie beharrte in einer Bescheidung, die uns Deutschen wohl anstand. Wir hatten ins Maß gefunden."

Freilich ging das intern nicht so reibungslos ab, wie es heute im milden Licht der Rückschau erscheint. Im Bundestag tobten oft leidenschaftliche Redeschlachten um den richtigen Kurs der Regierung. Ob Wiederbewaffnung oder Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Nato­Mitgliedschaft oder Anerkennung der Oder­Neiße­Grenze – die jeweilige Opposition nahm ihren Auftrag, zu warnen und Widerspruch einzulegen, bitter ernst. Deshalb bekämpfte die SPD in den frühen Jahren mit flammender Rhetorik Adenauers konsequente Westausrichtung der Republik, ebenso ließ Anfang der siebziger Jahre die CDU/CSU an Willy Brandts Ostpolitik kaum ein gutes Haar.

Beide Parteien allerdings scheuten auch vor spektakulären Kehrtwenden nicht zurück, wenn es denn die außenpolitische Vernunft gebot. So verkündete Herbert Wehner in seiner berühmten Rede vom 30. Juni 1960 plötzlich doch die Zustimmung der Sozialdemokraten zur politischen und militärischen Westbindung, die die SPD jahrelang so heftig attackiert hatte; und als am 23. Februar 1972 die Debatte des Deutschen Bundestages über die Ratifizierung der Ostverträge begann, gelang es CDU/CSU­Oppositionsführer Rainer Barzel, die Mehrheit seiner ursprünglich ablehnenden Fraktionskollegen doch zur Zustimmung zu bewegen.

Solide Verankerung in Europa, Realpolitik im Umgang mit dem zweiten deutschen Staat, weltpolitische Bescheidenheit: Diese unprätentiöse Außenpolitik, die sich über die Jahre in einer Fülle von internationalen Verträgen niederschlug, führte schließlich zu einem Zeitpunkt zur Wiedervereinigung, als fast niemand mehr damit rechnete – späte Belohnung für einen Tunichtgut, der sich unter dem Patronat der Alliierten allmählich zum Musterschüler gemausert hatte.

Mit einem weiteren Abkommen, dem "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland", auch "Zwei­plus­Vier­Vertrag" genannt, endeten am 12. September 1990 formell die die alliierten Vorbehaltsrechte. Die vier Mächte verzichteten darin auf "ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes". Damit war das am 3. Oktober 1990 feierlich wiedervereinigte Deutschland nach fast einem halben Jahrhundert unter alliierter Verwaltung wieder ein souveräner Nationalstaat geworden.

Und nun zeigte sich noch einmal, wozu die Lehrjahre im Provisorium gut gewesen waren. Mit dem Maastrichter Vertrag tat die Bundesrepublik Deutschland 1993 einen großen Schritt in Richtung vereinigtes Europa: Eine überwältigende Mehrheit stimmte im Bundestag für die Einführung des Euro und verzichtete so auf die lieb gewonnene deutsche Mark – und ein Stückchen gerade wiedergewonnene Souveränität. Denn das hatten die Bundesdeutschen in den vier Jahrzehnten "unter Aufsicht" offensichtlich gelernt: Es lebt sich besser, wenn man als "Koloss in der Mitte Europas" nicht von Feinden, sondern von lauter Freunden und netten Nachbarn umgeben ist –, auch wenn man als "Nettozahler" dafür gelegentlich tiefer in die Tasche greifen muss als alle anderen ...

Kosovo
Um den Menschenrechtsverletzungen im Kosovo ein Ende zu setzen, eröffnete die NATO
mit Unterstützung deutscher Soldaten den Luftangriff gegen Serbien.

Was die neue Souveränität allerdings auch bedeutete, erfuhr im März 1999 die rotgrüne Bundesregierung, als die Nato sich wegen der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo für den Luftkrieg gegen Serbien entschied: "Wir hatten keine andere Wahl", begründete Bundeskanzler Gerhard Schröder die deutsche Teilnahme an den Nato­Luftschlägen und damit den ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten seit 1945. Der Bundestag nahm ihm das ab; bis auf die Mitglieder der PDS applaudierten in seltener Einmütigkeit alle Fraktionen der Kanzler­Rede.

Ist dies die viel diskutierte "Normalität"? Uns ist sie dem Leben vor der vollen Souveränität, als "auswärtige Politik" nur die hohe Schule der Diplomatie sein durfte und "Frieden und Wohlfahrt im Lande selbst" das Hauptanliegen der Deutschen war, wirklich vorzuziehen? Das wird wohl erst die Geschichte entscheiden.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9907/9907014
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