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Dezember 12/1999
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Auch der Bundestag gewinnt durch Europa

An der Wende zum Jahr 2000 stellen sich Beobachter der parlamentarischen Demokratien in Deutschland und den anderen Staaten der Europäischen Union die Frage, ob die nationalen Parlamente im Zuge des europäischen Einigungsprozesses ihre Bedeutung verlieren, ob ein gestärktes und selbstbewussteres Europäisches Parlament zum Beispiel den Deutschen Bundestag in den Schatten stellen wird. Bundestagsabgeordnete von Koalition und Opposition haben diese Sorge nicht. Im Gegenteil: Sie sehen die Chance, dass von einer Stärkung des Europäischen Parlaments auch der Bundestag profitiert.

Auch der Bundestag gewinnt durch Europa

Fortschritte im europäischen Einigungsprozess führen zu der logischen und unausweichlichen Konsequenz, dass die nationalen Parlamente Entscheidungskompetenzen an die Institutionen der Gemeinschaft abtreten. Das ist gewollt und geplant. Der Deutsche Bundestag setzt immer häufiger europäische Richtlinien in nationales Recht um. Die Verordnungen, die unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gelten, werden zur Kenntnis genommen und den Bürgern vermittelt. Außerdem ratifiziert der Bundestag Verträge, die von der Gemeinschaft mit Drittstaaten abgeschlossen werden.

Deutschen Bundestag

Dennoch ist kein Machtverlust des Bundestages eingetreten, urteilt der Vorsitzende des Europa­Ausschusses, Friedbert Pflüger (CDU), "weil er bei allen zentralen Fragen und bei der europäischen Gesetzgebung ein gewichtiges Wort mitreden kann". Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Kompetenzabgrenzung hat diese starke Stellung ausdrücklich bestätigt.

Der Bundestag definiert in dem fortschreitenden Einigungsprozess seine Rolle neu und sieht es als eindeutigen Gewinn an, über den Tellerrand der Bundesrepublik hinausschauen zu können. Als große Chance bewerten die Abgeordneten, an der Gestaltung einer europäischen Politik konstruktiv mitwirken zu können. Das politische Wirkungsfeld erweitert sich eindeutig. Dabei achtet der Bundestag intensiv darauf, dass ein gewisses Demokratisierungsdefizit ausgeglichen wird, indem das Europäische Parlament in Straßburg mehr Entscheidungsvollmachten von dem Rat und der Kommission in Brüssel erhält. "Ein Parlament, das nichts zu sagen hat, wollen wir nicht", legt sich der stellvertretende Vorsitzende des Europa­Ausschusses, Professor Jürgen Meyer (SPD), fest.

Europäisches Parlament

Die Arbeit des europäischen und des deutschen Parlaments ist eng verzahnt. Alle 99 deutschen Europaabgeordneten haben auch in der Bundeshauptstadt Berlin ein Büro, 14 gewählte Vertreter aus diesem Kreis haben ein Rederecht im Europa­Ausschuss des Bundestages.

Weil das europäische Parlament eine noch dichtere Sitzungsfolge hat als der Bundestag, ist die Teilnahme an den Ausschussberatungen nicht immer gewährleistet. Über konkrete Projekte findet problemlos ein ständiger Austausch statt. In diesem Punkt hat man aus Erfahrungen der Vergangenheit gelernt. Zwischen 1979 und 1989 gab es praktisch keine formellen Beziehungen zwischen den Parlamenten, was sich nachteilig auf den Prozess des Zusammenwachsens auswirkte.

Der Bundestag, der Europa­Ausschuss und die jeweils zuständigen Fachausschüsse beteiligen sich in allen Stadien an der europäischen Gesetzgebung, an politischen Grundsatzentscheidungen, an dem Reformprozess und an der Kontrolle der Institutionen der Gemeinschaft. Die Bundesregierung ist nach Artikel 23 des Grundgesetzes verpflichtet, den Bundestag über alle Angelegenheiten der Gemeinschaft "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten". Ebenfalls muss die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundestages vor Entscheidungen einholen, durch die neues Recht geschaffen wird ("Rechtssetzungsakte"). Auch bei Verhandlungen im Kreis der Mitgliedstaaten muss die Stellungnahme des Bundestages berücksichtigt werden. Auf dieser Basis wirkte der Bundestag beispielsweise bei der Einführung des Euro und der Agenda 2000 mit, bei der es um die Reform der EU geht. Künftige Schwerpunkte sind der Erweiterungsprozess und die schwierigen Probleme der Finanzierung, die geplante gemeinsame Außen­ und Sicherheitspolitik sowie die Flüchtlings­ und Asylpolitik. In ihrem europäischen Tagesgeschäft sichert sich die Bundesregierung durch einen ständigen Dialog ab.

Plenarsitzung in Berlin: Der Deutsche Bundestag spricht ein gewichtiges Wort bei der europäischen Gesetzgebung mit.
Plenarsitzung in Berlin: Der Deutsche Bundestag spricht ein gewichtiges Wort bei der europäischen Gesetzgebung mit.

Der "Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union" des Bundestages hat eine starke Stellung. Seine Einrichtung wurde eigens im Artikel 45 des Grundgesetzes verankert. Dieses mit 36 Mitgliedern besetzte Gremium kann für das Gesamtparlament die Rechte gegenüber der Bundesregierung wahrnehmen. Regelmäßig berichtet der Bundeskanzler vor und nach den europäischen Gipfeltreffen über die Pläne und Verhandlungsziele der Bundesregierung und die erreichten Ergebnisse. Mit der veränderten Informationspraxis, so heißt es in einem Resümee des Europa­Ausschusses, ist insbesondere "der Missstand früherer Jahre" beseitigt worden, dass die Beschlüsse des Bundestages häufig wegen mangelnder Unterrichtung für eine wirksame Einflussnahme auf die europäische Willensbildung zu spät kamen, der Bundestag also Ratsentscheidungen lediglich nachvollzog. "Mit seiner behutsamen, flexiblen Kontrolle ist der Europa­Ausschuss zu einem Mitspieler auf der europapolitischen Bühne geworden."

Dieses Gremium und die Fachausschüsse des Bundestages prüfen in jedem Einzelfall genau, ob bei europäischen Entscheidungen das Subsidiaritätsprinzip eingehalten wurde, das heißt, ob die Regelung nötig und erforderlich ist. Neben der Beratung der Bundesregierung ist die Erfolgskontrolle ein gleichgewichtiger Schwerpunkt. Der Ausschuss blickt aber auch in die Zukunft. In einer "Millenniumssitzung" wird der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit den Abgeordneten debattieren, welches Gesicht Europa im nächsten Jahrhundert erhalten soll.

Für den europäischen Einigungsprozess kann ein "Rutschbahneffekt" ausgeschlossen werden, nach dem die Entscheidungskompetenz auf allen Politikfeldern sukzessive vom Deutschen Bundestag abgezogen werden und auf der europäischen Ebene landen würde. Die Gemeinschaft pflegt ohnehin stärker als in den Anfangsjahren das Subsidiaritätsprinzip. Danach soll die EU nur diejenigen Aufgaben übernehmen, die gemeinsam wirksamer als von isoliert handelnden Einzelstaaten bewältigt werden können. Die Bereiche Bildung und Kultur sind aus der Verantwortung des Bundes und der deutschen Bundesländer überhaupt nicht wegzudenken. Inzwischen setzt sich auch der Gedanke durch, dass europäische Regionen grenzüberschreitend gemeinsame Probleme ohne den Segen aus Brüssel lösen können.

Die nationale Zuständigkeit einiger Bereiche der Politik und damit die Gesetzgebungskompetenz des Bundestages sind überhaupt nicht oder nur teilweise zu verlagern, jedenfalls nach der herrschenden Auffassung über das europäische Haus. Die Finanz­ und Steuerpolitik wird weitgehend in der Hoheit von Bundestag und Bundesregierung verbleiben, was die Harmonisierung auf einigen Sektoren nicht ausschließt. Obwohl die Außen­ und Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten künftig effizienter gestaltet und koordiniert werden soll, gilt der Grundsatz als unantastbar, dass nur das nationale Parlament Soldaten seines Landes bei internationalen Krisen einsetzen kann. Die Entscheidung über die Wehrpflicht gehört ebenso zu den Kernbereichen nationaler Politik.

Pflüger unterstreicht, das Bundesverfassungsgericht habe eindeutig klargemacht, dass demokratische Legitimation in Europa primär durch die Parlamente der Mitgliedstaaten erfolge und die Legitimation durch das von Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament lediglich zusätzlich hinzutrete. Der CDU­Parlamentarier betonte: "Generell ist es die Aufgabe der Parlamente, dafür zu sorgen, dass es in Europa mehr Demokratie, mehr Bürgernähe, mehr Freiheit und mehr Transparenz und nicht immer nur mehr Bürokratie gibt."

Plenarsitzung in Straßburg: Die Arbeit des Europaparlaments ist eng verzahnt mit den nationalen Parlamenten.
Plenarsitzung in Straßburg: Die Arbeit des Europaparlaments ist eng verzahnt mit den nationalen Parlamenten.

Der SPD­Abgeordnete Meyer, der als Rechtsprofessor Experte für die Kompetenzverteilung und ­verlagerung ist, zeigt sich ebenfalls überzeugt, dass auch das materielle Strafrecht nicht völlig europäisiert werden kann, weil es zum Teil auf kulturellen Aspekten und historischen Entwicklungen aufbaut. Beispielsweise sei undenkbar, dass andere europäische Staaten die Beleidigung von Religionsgemeinschaften unter Strafe stellen würden, wie es in Deutschland der Fall ist.

Mit der praktischen Zusammenarbeit und mit der Ausarbeitung von rechtlichen Mindeststandards sind Bundestag, der Europa­Ausschuss und die Fachausschüsse völlig ausgelastet. Vor Einführung der Euro­Geldscheine musste gerade geregelt werden, wie die Fälschung der Banknoten behandelt werden sollte. In einigen Staaten, in denen der Euro eingeführt wird, gilt das Herstellen von Geldscheinen als Urkundenfälschung und damit als minderschweres Delikt. Bei den Arbeiten für eine europäische Grundrechtscharta vertritt Meyer den Deutschen Bundestag und ist in dieser Funktion von allen Fraktionen bestätigt worden.

Der Bundestag nutzt jede Gelegenheit, in der europäischen Politik mitzumischen. Demnächst soll die Einladung des europäischen Parlaments angenommen werden, Vertretungen, also Kontaktbüros, in Brüssel und Straßburg einzurichten, um den Schulterschluss noch enger zu gestalten.

Heinz­Joachim Melder

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/1999/bp9912/9912006
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