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Mai 05/2000
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essay

Eine außergewöhnliche Vision

Romano Prodi zum 50. Jahrestag der Erklärung von Robert Schuman

Die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950 zeugte von außerordentlichem politischen Mut und großer Weitsicht. Seine Idee war genial: Das Geniale lag nicht in erster Linie in dem Angebot, Frankreich und Deutschland zu versöhnen und den Grundstein für Partnerschaft und Freundschaft zu legen, so wichtig diese Geste auch war. Es lag vor allem in dem Vorschlag, durch einen neuartigen pragmatischen Prozess Frieden, Freiheit und Wohlstand in ganz Europa dauerhaft zu sichern.

Robert Schuman
Robert Schuman

Der vorgeschlagene Prozess war pragmatisch, weil schrittweise durch praktische Erfahrungen in enger Zusammenarbeit die Einigung der europäischen Nationen erreicht werden sollte; radikal neuartig, weil die Zusammenlegung wirtschaftlicher Ressourcen auch die gemeinsame Ausübung einzelstaatlicher Souveränitätsrechte bedeutete und eine vollkommen neue, einzigartige Form des Zusammenschlusses souveräner Staaten entstehen sollte.

Die Kraft der Idee Schumans ergibt sich besonders aus einem nicht im Voraus festgelegten Endergebnis für die europäische Integration. Sicherlich sollte es eine Wirtschaftsgemeinschaft sein, die auf dem Zusammenwachsen der Märkte beruht, aber daraus würde sich eine "weitere und tiefere Gemeinschaft" ergeben und letztlich eine Form einer "europäischen Föderation". Wie sie im Einzelnen beschaffen sein sollte, würden die Mitgliedstaaten in dem Vertrag festlegen, den sie gemeinsam aushandelten. Das Europäische Projekt soll sich – damals wie heute – nach dem politischen Willen seiner Mitglieder weiterentwickeln.

Aber welche Form die Gemeinschaft auch annehmen sollte, sie würde starke und handlungsfähige Institutionen benötigen. Auch hier zeigt sich eine weitere radikale Neuerung in der Schuman-Erklärung und den nachfolgenden Verträgen: die Gründung ständiger supranationaler Einrichtungen, um das europäische Projekt gemeinsam zu gestalten. Damit soll sichergestellt werden, dass es mehr sein wird als nur ein weiteres Modell einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die oft konfliktträchtig ist. Um eben diese Konflikte zu vermeiden, hatte Robert Schuman die außergewöhnliche Vision eines Europas mit supranationalen Einrichtungen.

Im Zuge der Entwicklung der europäischen Integration entwickelte sich auch das institutionelle Gefüge der Gemeinschaft. Am wesentlichsten sind die Veränderungen, die das Europäische Parlament erfahren hat: Von einer beratenden Versammlung, in die nationale Abgeordnete entsandt wurden, hat es sich zu einem durch allgemeine und direkte Wahlen legitimierten Organ entwickelt und zunehmende Befugnisse und wachsenden Einfluss auf die europäische Politik erhalten. Es ist in der Welt das einzige gewählte Parlament mit supranationalem Status.

Dieser wachsende Einfluss des Europäischen Parlaments warf natürlich bald die Frage auf, welche Rolle die nationalen Parlamente im europäischen Willensbildungsprozess spielen. Wie bekannt, hat der Ams-terdamer Vertrag im Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der EU deren stärkere Beteiligung an den Tätigkeiten der EU im Einzelnen festgelegt. Da-rüber hinaus kommt den nationalen Parlamenten, die ja zusammen mit den europäischen Organen, den nationalen und re- gionalen Regierungen integraler Bestandteil der europäischen Entscheidungsstrukturen sind, eine wesentliche Aufgabe bei der Entwicklung neuer politischer Entscheidungsformen in Europa zu.

In den vergangenen 50 Jahren haben wir die von Robert Schuman vorgegebenen Ziele bemerkenswert erfolgreich verwirklicht: Einerseits blickt der weitaus größte Teil unseres Kontinents auf die längste Friedensperiode seiner Geschichte zurück. Andererseits hat es die Europäische Union zu beispiellosem wirtschaftlichen Wohlstand gebracht.

Nach den großen geopolitischen Umwälzungen, die in Europa vor zehn Jahren mit dem Fall der Mauer ausgelöst wurden und die den Menschen, die lange Zeit unter totalitären Regimen leben mussten, Freiheit und Demokratie gebracht haben, liegt es nun an uns, die Vision Robert Schumans, die das ganze Europa umfasst, weiter umzusetzen.

Die Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa bietet eine einmalige historische Chance, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Die instabile Lage auf dem Balkan und die dortigen Konflikte zeigen, wie wichtig es ist, unseren Kontinent zu stabilisieren und Frieden, Wohlstand, Demokratie und Menschenrechte in ganz Europa zu sichern.

Die Erweiterung der Union muss ein Erfolg werden. Bei der Vorbereitung dieser Erweiterung können wir vieles aus den Erfahrungen Deutschlands bei der Herstellung der nationalen Einheit lernen. Die europäischen Institutionen und die deutschen Behörden haben von Anfang an eng zusammengearbeitet und beispiellose Anstrengungen unternommen, um die Integration des vereinten Deutschlands in die Europäische Union rasch und erfolgreich zu vollenden. Zwar war und ist auch noch weiterhin der Weg schwierig, aber die in nur zehn Jahren in den ostdeutschen Bundesländern erzielten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte machen mich zuversichtlich, dass auch die größere Erweiterung Europas gelingen kann.

Das geteilte Deutschland war Symbol der Teilung Europas; deshalb ist die deutsche Wiedervereinigung Symbol der umfassenden Einigung Europas.

Viele Menschen in Deutschland und anderswo betrachten allerdings die Erweiterung mit Sorge. Sie befürchten, dass es zum Beispiel zu höherer Kriminalität und größerer Arbeitslosigkeit in der Union kommen könnte. Diese Sorgen nehmen wir sehr ernst, glauben aber, dass eine Reihe von ihnen durch bessere Information und Aufklärung zerstreut werden kann. Deshalb hat die Kommission kürzlich eine umfangreiche Kommunikationsstrategie verabschiedet, in der sie das Europäische Parlament und die anderen Institutionen der EU, aber vor allem auch die nationalen Parlamente zum intensiven Dialog mit den Bürgern aufruft. In diesem soll über die Gründe für die Erweiterung und die damit verbundenen Vorteile, aber auch Verpflichtungen sachkundig aufgeklärt werden.

Die Erweiterung auf nahezu 30 Mitglieder ist ein ehrgeiziges, aber auch schwieriges Vorhaben. Dieser Herausforderung sich nicht zu stellen, würde bedeuten, eine historisch einmalige Chance nicht zu nutzen. Künftige Generationen würden uns das nie verzeihen.

Die geschilderten Herausforderungen sind vielschichtig und miteinander verknüpft: Sie können nicht isoliert und ohne starke und handlungsfähige Europäische Institutionen bewältigt werden. Deshalb sind, wie schon von Robert Schuman damals vorgeschlagen, starke, handlungsfähige Institutionen heute mehr denn je notwendig, und deshalb sind auch die in der derzeitigen Regierungskonferenz verhandelten institutionellen Reformen so wichtig.

Aber die institutionelle Reform, mit der die Union vor Ende 2002 fähig zur Aufnahme weiterer Mitglieder gemacht werden muss, ist nur der Anfang: Auf längere Sicht müssen wir auch eine tiefgreifende politische Revision vornehmen. Die Erweiterung auf fast 30 Mitglieder verpflichtet uns, die bestehende Politik und die Art ihrer Ausführung von Grund auf zu überdenken. Wir müssen uns die Frage neu stellen, was auf europäischer Ebene und was von den Mitgliedstaaten, den Regionen oder der Zivilgesellschaft getan werden kann.

Die kürzlich vom Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer, vorgestellten persönlichen Gedanken über die Finalität des europäischen Einigungsprozesses sind ein wichtiger und konstruktiver Beitrag für eine breite politische Debatte über die Zukunft Europas. Sie zeigen interessante und weitreichende Wege für eine künftige Ausgestaltung der Europäischen Union auf.

Eine Diskussion über die Zukunft Europas ist unbedingt erforderlich. Trotz unserer nicht zu leugnenden Erfolge sind die Bürger unzufrieden damit, wie die Dinge auf europäischer Ebene gehandhabt werden. Für viele ist "Brüssel" weit weg, und die Bürger fordern zu Recht größere Transparenz, eine verbesserte Handlungsfähigkeit, aber auch Rechenschaftspflicht der Institutionen sowie eine größere Mitsprache bei der Gestaltung des neuen Europas.

Die eigentliche Herausforderung besteht darin, die Art und Weise zu überdenken, wie wir Europa künftig gestalten – das heißt wir müssen demokratischere Formen der Partnerschaft zwischen den verschiedenen Entscheidungsstrukturen in Europa finden. "Brüssel", das sind wir alle, und Politik sollte von den Europäischen Institutionen, den einzelstaatlichen Regierungen und Parlamenten, den regionalen und lokalen Entscheidungsträgern sowie der Zivilgesellschaft gemeinsam gestaltet und konzipiert werden.

Die Kommission arbeitet hierzu gegenwärtig ein Weißbuch aus, das im kommenden Frühjahr vorgestellt werden soll. Ich hoffe, dass sich daraus – auch schon im Vorfeld – eine intensive und fruchtbare Diskussion ergibt.

Wo soll der Endpunkt dieses Prozesses sein? Streben wir eine Art "Vereinigter Staaten von Europa" an? Robert Schumann und andere europäische Politiker seiner Generation mögen an eine solche Form des Zusammenschlusses gedacht haben, aber entspricht dies auch den Vorstellungen unserer Bürger vom Europa, in dem sie leben wollen?

Letztlich müssen die Völker Europas darüber entscheiden, was eine "immer enger zusammenwachsende Union" in der Praxis bedeuten wird. Die Europäische Union besteht für den europäischen Bürger: Sie muss mit und von den Bürgern gestaltet werden.



Romano Prodi
Romano Prodi

Romano Prodi wurde am 9. August 1939 in Scandiano (Reggio Emilia), Italien, geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Nach dem Juraabschluss an der Katholischen Universität Mailand und einem Graduiertenstudium an der London School of Economic schlug Prodi die Universitätslaufbahn ein. Er hatte u.a. Professuren für Wirtschaft und Industriepolitik an der Freien Universität Trient sowie für Industrieökonomik und Industriepolitik an der Universität Bologna inne und lehrte in Harvard als Gastprofessor. Seine politische Laufbahn begann 1978 als Industrieminis-ter. 1995 wurde er Vorsitzender des Mitte-Links-Bündnisses "Ulivo" (Olivenbaum), 1996 Mitglied des Parlaments und dann auch Ministerpräsident. Seit September 1999 ist Romano Prodi Präsident der Europäischen Kommission.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0005/0005004
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