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Juni 06/2000
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Moderne Medizin – eine ethische und rechtliche Herausforderung

Zu den Bereichen unseres Lebens, die der wissenschaftlich-technische Entwicklungsschub der letzten Jahrzehnte tiefgreifend verändert hat, gehört ohne Zweifel die Medizin. Moderne Medizin – das ist ein Stichwort, das für völlig neue Technologien in Diagnose und Therapie, für ein hoch komplex gewordenes Gesundheitssystem mit begleitendem Kostenanstieg und für die damit verbundenen gravierenden ethisch-rechtlichen Probleme steht.

Ein Forscher studiert eine Genomdatenbank, um Ansatzstellen für neue Therapeutika zu finden.
Ein Forscher studiert eine Genomdatenbank, um Ansatzstellen für neue Therapeutika zu finden.

Die Gründe, die diese Probleme zu einer so heftig diskutierten Herausforderung nicht nur für die medizinisch Handelnden und ihre Patienten, sondern auch für Gesellschaft und Politik werden lassen, sind rasch genannt: Die Technologien sind so neuartig, dass sie die gewohnten Handlungsmuster sprengen. Orientierung durch die – nach wie vor unverzichtbare – Ethik der ärztlichen Standestugenden reicht nicht aus, um die nötigen Grenzen aufzuzeigen. Die Rechtsnormen wie Menschenwürde und Grundrechte, die sich auf einen Konsens der Wertüberzeugungen stützen können, ziehen zwar Grenzen, doch können die erforderlichen konkreten Normen nicht ohne weiteres aus ihnen gewonnen werden. Und bei ihrer Findung – die nicht selten Abwägung verlangt – zeigt sich, dass sich die Gesellschaft nur in dem schmalen Bereich allgemeinster Wertüberzeugungen einig ist, ansonsten aber Pluralität herrscht.

Sucht man über die durch die Grundrechte gezogenen Grenzen hinaus nach handlungsorientierenden Normen, so kann man auf die Instanz des ärztlichen Berufsrechts zurückgreifen. Es gewinnt seine Bedeutung, weil es auf die Ziele des ärztlichen Handelns und auf die Arzt-Patient-Beziehung Bezug nehmen kann. Doch in den Zonen, in denen Güter in Konflikt treten, können die Entscheidungen, die von der Gesellschaft insgesamt getroffen werden müssen, nicht auf das Berufsrecht abgewälzt werden, zumal auch die Ärzteschaft, von der das Berufsrecht ausgeht, eine Differenzierung erfahren hat, die im komplexen Geflecht von Rollen und Ansprüchen den Bezug auf ein Standesethos nicht einfach macht. So wichtig zudem nach dem Subsidiaritätsprinzip das Berufsrecht ist, so kann es doch allein die Last der nötigen Grenzziehung nicht übernehmen.

Hier ist der Gesetzgeber, sprich das Parlament, gefragt. Freilich steht auch die gesetzgebende Institution in Form des Bundestages vor nicht geringen Schwierigkeiten. Sie muss entscheiden, wo es rechtlicher Regelung bedarf, wo Berufsrecht ausreicht und wo Gesetze erforderlich sind, und dabei der föderal differenzierten Gesetzgebungskompetenz folgen. Inhaltlich steht sie vor der Frage, auf welche Normen sie sich über die grundgesetzlich verbindlichen Rechte hinaus beziehen soll, und dies angesichts einer Pluralität der Wertüberzeugungen, die die sonst übliche Strukturierung der Meinungsbildung durch die Parteien sprengt.

Die Doppelhelix der DNS, in der die Erbanlagen codiert sind.
Die Doppelhelix der DNS, in der die Erbanlagen codiert sind.

Hinzu kommt das Problem, dass Forschung und Anwendung im Bereich der modernen Medizin europäisch und international erfolgen. Das bedeutet keineswegs, dass die Grenzziehung durch nationales Recht überflüssig geworden wäre. Rechtskulturen sind wie Gesundheitssysteme geschichtlich gewordene Größen, die nicht ohne erheblichen Substanzverlust einander angeglichen oder auf ein gemeinsames Konzept gebracht werden können. Doch bedürfen sie zu ihrer eigenen Wirksamkeit der Ergänzung und Stützung durch grenzübergreifende rechtliche Regelungen, die sich ihrerseits aus den bereits bestehenden europäischen und internationalen Rechtsnormen wie aus den nationalen Rechtskulturen speisen müssen.

Wie die wenigen Hinweise zeigen, ist die Herausforderung, die sich hinter dem Stichwort "Recht und Ethik der modernen Medizin" verbirgt, höchst komplexer Art. Die diesem Thema gewidmete, neu eingerichtete Enquete-Kommission sieht sich daher nicht nur aktuellen Problemen wie dem Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik, der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen, dem medizinischen Umgang mit Sterbenden und der Verteilungsgerechtigkeit angesichts knapp werdender Ressourcen im Gesundheitswesen gegenüber. Sie wird sich vor allem den dahinter stehenden grundsätzlicheren Fragen widmen müssen. Dabei wird nicht nur das Verhältnis von Berufs- und Gesetzesrecht, von nationaler und internationaler Rechtssetzung zu bedenken sein. Vor allem geht es darum, wie sich in diesem sensiblen Bereich Recht auf Ethik beziehen kann und soll.

Die Lösung ist zwischen zwei Extremen zu suchen: nämlich entweder unter Ethik die je eigene Moral im Sinn der jeweils verbindlichen Vorstellung gelungenen individuellen oder gesellschaftlichen Lebens zu verstehen und unmittelbar in Recht umzusetzen – damit aber angesichts der Pluralität der Moralen in einen unlösbaren Streit um das Recht zu geraten. Oder aber daraus die fragwürdige Konsequenz zu ziehen, Ethik zu vermeiden und durch einen Ausgleich von gesellschaftspolitischen Interessen zu ersetzen. Ein Ansatz, der diesseits dieser problematischen Extreme bleibt, ist auf die ethischen Überzeugungen verwiesen, die in den grundlegenden Rechtsnormen des Verfassungs- oder Menschenrechts festgehalten sind. Da sie allgemeinste Grenzen markieren, aber keine Quelle konkreterer Normierung darstellen, ist freilich eine "Fortschreibung" für den Bereich der modernen Medizin erforderlich, die nicht ohne den Beitrag der beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen und beruflichen Gruppen, aber auch nicht ohne Partizipation der Gesellschaft möglich ist.

Vergleichbare Industrieländer haben für die Meinungs- und Urteilsbildung, die für den ungewohnt gewordenen und deshalb besonders strittigen Rückgriff des Rechts auf die Ethik im Bereich der modernen Medizin nötig ist, bestimmte institutionelle Formen entwickelt. Auch in Deutschland kennt man zu diesem Zweck Formen der Verständigung wie parlamentarische Hearings, Statusseminare und Symposien der verantwortlichen Ministerien, interdisziplinär erarbeitete Berichte, Stellungnahmen von Gremien, runde Tische und auch Enquete-Kommissionen. Die neu gegründete Enquete-Kommission zu Recht und Ethik in der modernen Medizin wird nicht zuletzt fragen müssen, ob diese zumeist ad hoc gewählten Formen der ethisch-rechtlichen Urteilsbildung in Deutschland für den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs und seine Verzahnung mit dem interdisziplinär-fachlichen Stand der Erkenntnis ausreichen. Bei Recht und Ethik der modernen Medizin geht es ja um nichts weniger – und das ist der tiefere Grund des gesellschaftlichen Streits – als um unsere Vorstellung von Humanität, deren rechtlichen Schutz wir für unabdingbar halten.




Ludger Honnefelder

Ludger Honnefelder wurde 1936 in Köln geboren. Er studierte ab 1955 Philosophie, katholische Theologie und Pädagogik in Bonn, Innsbruck, Bochum und promovierte und habilitierte im Fach Philosophie. Zwischen 1972 und 1988 war Ludger Honnefelder Professor für Philosophie in Trier und an der Freien Universität Berlin. Seit 1988 lehrt er an der Universität Bonn und ist Direktor des Philosophischen Seminars. Er ist ferner seit 1993 geschäftsführender Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik e.V. und seit 1999 geschäftsführender Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften. Prof. Honnefelder ist Mitglied des Lenkungsausschusses für Bioethik des Europarats und der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0006/0006004
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