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02/2002
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ESSAY

Dieter Grimm

Dieter Grimm

Der Bundestag und das Verfassungsgericht

von Dieter Grimm

Der Bundestag erlebt das Bundesverfassungsgericht vor allem als diejenige Institution, von der es abhängt, ob seine Gesetzesbeschlüsse Geltung erlangen. Zwar sind es, gemessen an der immensen Normenproduktion des Parlaments, nur vergleichsweise wenig Gesetze, die in Karlsruhe scheitern. Doch trifft es bisweilen gerade solche Gesetze, die der Mehrheit besonders am Herzen liegen. Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit ist dann für sie ebenso schmerzlich, wie es von der Minderheit als Erfolg verbucht wird.

Die Rollen wechseln freilich mit den Wahlausgängen, und noch keine parlamentarische Minderheit hat auf ihr Antragsrecht verzichtet, wenn sie Chancen sah, eine politische Niederlage in einen juristischen Sieg zu verwandeln. Nicht immer das Ergebnis, wohl aber das Instrument der gerichtlichen Normenkontrolle ist dem Parlament daher lieb, und auch der Ärger über das eine oder andere Urteil hat bislang keinen Ruf nach Beschränkung oder gar Abschaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgelöst.

In der Tat gehört die Verfassungsgerichtsbarkeit zu jenen Neuerungen, die sich den Erfahrungen des Scheiterns der Weimarer Demokratie verdanken und die der deutschen Verfassungsordnung eine besondere Vorbildrolle in der Welt verschafft haben. Demokratische Grundzweifel an der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie es sie in den USA gibt, haben unter diesen Umständen in Deutschland nicht Fuß gefasst.

Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass Verfassungsgerichtsbarkeit gar keine Demokratieprobleme aufwürfe. Ihre Wurzel liegt aber nicht in einem Grundwiderspruch, sondern darin, dass Verfassungsnormen selten den Präzisionsgrad erreichen, der eindeutige Ergebnisse erlaubt. Deswegen sind es ja auch nicht so sehr eklatante Verfassungsverstöße, mit denen sich Karlsruhe zu befassen hat, sondern berechtigte Meinungsverschiedenheiten darüber, was die Verfassung angesichts eines konkreten Problems verlangt. Die Normen bedürfen dann der Interpretation, in der aber unvermeidlich auch ein Stück Dezision liegt.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bei der Auslegung des Grundgesetzes von Beginn an dem Gedanken der Optimierung verschrieben und ist dabei mitunter recht weit gegangen. Das zeigt sich am stärksten daran, dass es die Grundrechte nicht nur als Handlungsschranken für den Gesetzgeber, sondern auch als Handlungsaufträge an ihn versteht. Ein Gesetz kann infolgedessen nicht nur aufgehoben werden, wenn es in der Beschränkung einer grundrechtlichen Freiheit zu weit gegangen ist, sondern auch, wenn es zum Schutz einer bedrohten Freiheit zu wenig getan hat.

Das Verfassungsgericht trägt damit der Erfahrung Rechnung, dass die grundrechtliche Freiheit außer vom Staat auch von sozialen Mächten und gesellschaftlichen Entwicklungen bedroht wird. Eine besonders wichtige Quelle solcher Bedrohungen bilden heute der wissenschaftlich-technische Fortschritt und seine kommerzielle Verwertung, die deswegen nach Begrenzung verlangen. Da weder Wissenschaft noch Wirtschaft aus sich heraus Grenzen ihrer Tätigkeit hervorbringen, können die notwendige Gefahrenvorsorge und der notwendige Interessenausgleich nur vom Gesetzgeber kommen.

Wenn dieser Befund zutrifft, steht es aber in einer Verfassungsordnung, die in den Grundrechten ihre obersten Werte sieht, nicht im Belieben des Gesetzgebers, ob er sich zum Freiheitsschutz entschließt oder nicht. Das gilt auch dann, wenn die Freiheitsgefahren ungewiss sind und selbst von den Experten nicht zuverlässig eingeschätzt werden können. Liegt eine Grundrechtsgefährdung im Bereich des Möglichen, dann verlangen die Grundrechte eine entsprechende Vorsorge, und das Verfassungsgericht kann den Gesetzgeber dazu verpflichten.

Noch mehr als sonst muss das Verfassungsgericht in diesen Fällen freilich den politischen Handlungsspielraum, den die Verfassung dem Gesetzgeber einräumt, beachten. Dafür ist die Differenz von Ob und Wie bedeutsam. Das Grundgesetz stellt es dem Gesetzgeber zwar nicht frei, ob er Grundrechtsgefahren begegnen will oder nicht. Es überlässt ihm aber die Entscheidung, welche Maßnahmen zu ergreifen und wie die berechtigten Interessen auszugleichen sind. Kontrolliert werden kann dann nur, ob das Parlament geeignete Schutzvorkehrungen getroffen hat und beim Ausgleich der kollidierenden Grundrechte nicht grob einseitig vorgegangen ist.

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Dieter Grimm wurde 1937 in Kassel geboren. Studium der Rechts- und Politikwissenschaft in Deutschland, Frankreich und den USA, von 1979 bis 1999 Professur für Öffentliches Recht an der Uni Bielefeld. 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht. Seit 2000 Professur für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin, seit 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Daneben Lehrtätigkeit an der Yale University und an der New York University.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0202/0202003a
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