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Februar 1/2003
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Dialog

Ist die Türkei reif für Europa?

Gerd Müller (links) und Ekin Deligöz (rechts)

Soll die Türkei nach vielen Jahren der Bewerbung als Vollmitglied in die Europäische Union aufgenommen werden? Was wären die Folgen – für Europa, für Deutschland, für unsere Kultur? Über diese Fragen, die Ängste und Sorgen auslösen, aber auch Chance und Brückenschlag bedeuten können, führte BLICKPUNKT BUNDESTAG ein Streitgespräch mit der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Ekin Deligöz und dem außenpolitischen Sprecher und stellvertretenden Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe Gerd Müller.

Blickpunkt Bundestag: Frau Deligöz, Sie sind in der Türkei aufgewachsen, leben aber seit langem in Deutschland. Können Sie verstehen, warum die Kultur des Abendlandes in Gefahr sein soll, falls die Türkei EU-Mitglied wird?

Ekin Deligöz: Natürlich gibt es Vorurteile gegenüber dem Unbekannten und die Sorge, dass die Türkei noch nicht die demokratischen Standards hat, die Europa gern sehen möchte. Hinzu kommen offene Fragen wie Zypern oder die Wahrung der Menschenrechte. Aber: Die Türkei ist andererseits schon sehr lange ein sehr enger Partner von Deutschland und ein fester Bestandteil in der europäischen Werte- und Sicherheitsgemeinschaft. Die zweieinhalb Millionen in Deutschland lebenden Türken bilden eine wichtige Brücke und sind eine gute Visitenkarte für die Türkei. Deshalb bin ich persönlich der Meinung, dass die Türkei längst ein Teil Europas ist und deshalb auch Teil der Europäischen Union sein sollte.

Blickpunkt: Was, Herr Müller, befürchtet die CSU: Sind es die vielen Menschen, die zu uns kommen könnten, ist es die fremde Religion oder sind es die hohen Kosten?

Müller: Die Frage des EU-Beitritts der Türkei ist eine wichtige Frage, die mit den Menschen sorgsam diskutiert werden muss. Wir sind für eine privilegierte Partnerschaft der EU mit der Türkei. Die Türkei ist ein sehr europa- und deutschlandfreundliches Land. Deshalb wünschen wir herausgehobene Beziehungen. Aber wir sagen nein zur Vollmitgliedschaft. Weil wir meinen, dass dies auch für die Menschen in der Türkei nicht der richtige Weg ist.

Blickpunkt: Die Union hat lange Zeit anders gedacht. Woher nun der Meinungsumschwung? Wird das Thema zum Wahlkampf missbraucht? In Hessen und Niedersachsen sind ja bald Landtagswahlen ...

Müller: Nein, das hat mit Wahlkampf nichts zu tun. Der Weg der Türkei in die Europäische Union geht ja schon lange zurück, bis 1963. Es ist richtig, dass damals der Türkei die Perspektive der Mitgliedschaft gegeben wurde. Aber damals bestand die EU auch nur aus bedeutend weniger Mitgliedstaaten. Heute sind wir auf dem Weg zu einer politischen Union mit 25 Mitgliedstaaten. Wir überfrachten die politische Union mit einem Beitritt der Türkei. Wir sind ja noch nicht einmal ausreichend dafür vorbereitet, den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zu vollziehen. Die Türkei braucht privilegierte Beziehungen, aber keine Vollmitgliedschaft.

Deligöz: Warum ziehen Sie diesen Strich gerade bei der Türkei? Warum nicht bei Bulgarien, Polen oder Litauen? Das hat doch einen Grund!

Gerd Müller

Im Gespräch: Gerd Müller...

Müller: Natürlich, sogar eine Reihe von Gründen. Wir meinen, dass der Erweiterungsprozess insgesamt überhastet von dieser Bundesregierung vorangetrieben wird, dies gilt auch für die jetzige Osterweiterung, obwohl wir diesen großen Schritt mitgehen. Aber: Die EU ist von ihrer inneren Verfassung auf weitere Schritte nicht vorbereitet. Wir werden schon mit der jetzigen Erweiterung, mit Ungarn, Polen, große Probleme im institutionellen Bereich bekommen.

Deligöz: Das heißt: Sie sind gegen die Osterweiterung?

Müller: Nein, wir sind dafür! Wir weisen nur auf die Defizite hin, die Union beitrittsfähig zu machen. Da haben wir noch eine ganze Menge zu leisten. Bereits jetzt über die nächste Runde – Türkei – zu reden, ist problematisch. Denn damit stellt sich die Frage der Finalität der EU: Israel hat bereits seine Mitgliedschaft angefragt, die Ukraine, die Balkanländer – sie alle stehen vor der Tür. Damit hätten wir eine vollkommen andere Europäische Union.

Blickpunkt: Welche Rolle spielt die Furcht vor kultureller Überfremdung? Und: Ist die in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch akut, schließlich ist die EU weniger eine Religions-, sondern eine demokratische Wertegemeinschaft? Dürfen wir der Türkei, wenn sie die üblichen Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt – Rechtsstaatlichkeit und ökonomische Stabilität – die Tür vor der Nase zuschlagen?

Müller: Wenn ich mich in eine türkische Familie oder einen Unternehmer hineinversetze, dann muss man ihnen erläutern: Was heißt Vollmitgliedschaft? Sie heißt: Übernahme des gesamten Rechtsrahmens der Europäischen Union, wie er sich in den letzten 40 Jahren entwickelt hat. Für den anatolischen Kleinbauern bedeutet dies, dass er sich etwa im Lebensmittel- oder Umweltrecht – dritte Klärstufe – auf völlig andere Verhältnisse einstellen muss. Ob das wirklich alle wollen?

Deligöz: Das ist doch gut für das Land und die Menschen! Von der Rechtsstaatlichkeit Europas kann die Türkei doch nur profitieren. Wenn es um die Rechte von Minderheiten, die freie Meinungsäußerung, um die Zivilgerichtsordnung geht, kann ich keine Probleme erkennen.

Blickpunkt: Das heißt, ein EU-Beitritt hätte eine stabilisierende Wirkung auf die Türkei?

Deligöz: Sowohl auf die Türkei als auch rückwirkend auf Europa, weil Europa ebenfalls auf stabile Partner angewiesen ist. Dazu gehört die Türkei, die deshalb ja auch schon seit vielen Jahren Mitglied in der Nato ist.

Müller: All das kann sie auch in einer privilegierten Partnerschaft haben, dazu braucht es nicht die Vollmitgliedschaft. Ich wiederhole: Ein freizügiger Arbeitsmarkt von Stuttgart bis Istanbul schafft momentan eher mehr Probleme, als dass er sie löst.

Ekin Deligöz

... und Ekin Deligöz.

Deligöz: Schauen Sie sich doch einmal die Realitäten in der Türkei an: 74 Prozent der Bevölkerung leben heute in der Türkei in Metropolen; Türkei hat einen Wachstumsmarkt von vier bis fünf Prozent pro Jahr, Türkei ist schon lange Partner der EU, ein Drittel der Banken sind europäische Banken – die privilegierte Partnerschaft gibt es doch längst. Es geht deshalb um mehr: um die Idee, um die Vision des miteinander Lebens in einem multikulturellen Raum.

Blickpunkt: Ist die Türkei überhaupt für Europa ein Fremdkörper? Immerhin war das osmanische Reich über drei Jahrhunderte eine europäische Großmacht.
Warum also haben wir heute solche Besorgnisse?

Müller: Natürlich ist die Türkei ein Teil Europas, aber eben auch ein Teil Asiens. Sie ist kein homogener Staat, der sich an Brüssel ausrichtet. Wir wollen eine Stabilisierung und vielfältige Hilfen. Gegenwärtig hat die Türkei ein Bruttoinlandsprodukt von 25 Prozent im Verhältnis zum EU-Durchschnitt, 40 Prozent Inflation und eine enorme Verschuldung. Und 10 Millionen Kleinbauern, von denen 9 Millionen in der EU auf dem Markt keine Chance mehr hätten. Was bieten wir ihnen an?

Blickpunkt: Sie haben mehr Sorgen um die Türkei als um Europa?

Müller: Ich stelle die Prognose auf: Bei einer Vollmitgliedschaft der Türkei kommt es zu großen sozialen Verwerfungen.

Deligöz: Da kann ich Sie beruhigen: Die Türkei liegt in der Wirtschaftskraft in der Weltrangliste auf Platz 22. Das ist nicht schlecht. Und was die Bauern anbetrifft: Die liefern doch Produkte, die in Europa so nicht wachsen: Baumwolle, Zitrusfrüchte. Also sind sie eine Bereicherung. Und vergessen Sie nicht die wirtschaftliche Brückenfunktion der Türkei zum Nahen Osten. Nein, Herr Müller, sagen Sie lieber, was Sie wirklich am meisten stört.

Blickpunkt: Ist es die Sorge, dass unsere Kultur dem Ansturm von vielen Millionen Menschen nicht gewachsen sein könnte?

Müller: Natürlich ist dies auch ein Aspekt. Die Türkei hat einen ganz anderen kulturellen Hintergrund. Die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft ist nicht vergleichbar mit uns. Die Rolle der Religion, die Frage der Toleranz – wir tolerieren den Islam und Moscheen, umgekehrt ist es nicht der Fall ...

Deligöz: Vorurteil!

Müller: ... die Frage, wie man mit Minderheiten umgeht, all das zeigt, dass die Türkei eine eigene Geschichte hat. Und deshalb wären intensive Sonderbeziehungen das richtige Angebot. Die Türkei bleibt geostrategisch ein Freund, ein Partner. Wirtschaftlich wollen wir ihr helfen. Aber bei einer Vollmitgliedschaft in der EU bekämen wir eine Freizügigkeit, die zu einem neuen Wohlstandsgefälle führen würde.

Deligöz: Sie haben Angst vor der Einwanderung!

Müller: Wenn Millionen sich aufmachen und bei uns um Arbeit bewerben, wird das zu Verwerfungen in der Türkei und zu großen Problemen bei uns führen, denen wir im Augenblick nicht gewachsen sind.

Deligöz: Jetzt kommen Sie zum Kern der Sache! Im Gegensatz zu Ihnen glaube ich, dass allein der Prozess der EU-Mitgliedschaft zu einem wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei führt, so dass eine Auswanderung eben nicht stattfindet. Und das ist es doch, was wir erreichen müssen.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0301/0301036a
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