Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
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Christian Hacke

In Vorahnung welterschütternder Katastrophen

Wilhelm Hennis sieht überraschende Parallelen zwischen Max Weber und Thukydides

Es sollte sich von selbst verstehen, dass jeder Versuch, Webers Werk von heutigen Wissenschaftsvorstellungen her zu interpretieren, problematisch ist, solange der historisch gewachsene Weber unverstanden, die Wurzeln des Werkes im Dunkeln bleiben". Dieses Zitat aus dem vorliegenden Buch zeigt, dass Wilhelm Hennis sich Zeit seines Lebens darum bemüht hat, Max Weber aus den "Klauen" der angelsächsischen und deutschen Scientisten zu befreien und ihn viel stärker als bisher in seinem spezifisch europäischen und deutschen Wissenschaftsverständnis zu interpretieren: "Als jüngeren Schüler der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie. Mit ihr müssen wir uns beschäftigen, wenn wir Weber verstehen wollen: So sehr sein Werk über die Schule hinauswuchs, nur vor dem Hintergrund dieser Schule wird es verständlich."

Auch hier hat sich Hennis diesem Unterfangen verschrieben, wie die Beiträge über "Max Webers Freiburger Antrittsvorlesung", über die "Protestantische Ethik" und über "Reiz und Aktualität Max Webers" eindrucksvoll beweisen. Doch das eigentlich Neue, das Hennis im vorliegenden Band im Denken Max Webers aufzuspüren sucht, ist die kühne Rekonstruktion der Wirkung des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides auf Max Weber.

Sie wirkt gewagt, weil Weber zwar Thukydides Werk seit seiner Jugend kannte und schätzte, aber über ihn selbst so gut wie nichts geschrieben hat. Hennis sucht deshalb indirekt nachzuweisen, dass Max Weber durch Thukydides nachhaltig geprägt wurde: Durch Roschers Werk über Thukydides übernimmt Weber wichtige Anregungen; sein Vetter Fritz Baumgarten erschließt ihm im Sinne von Thukydides das hellenische Denken, Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche werden für Weber die entscheidenden Größen, die sein Eindringen in die hellenistische Geisteskultur beeinflussen.

Aber worauf will Hennis hinaus? Er sieht Thukydides und Weber als Wahlverwandte eines "heroisch-pessimistischen" Realismus. Hennis will zeigen, dass Thukydides zwei zentralen Fragen nachging, die Weber ebenso zeitlebens umtrieben: Die Problematik der politischen Führung und die tragische Stellung des Menschen im historischen Prozess, weil dieser seine Situation annehmen muss, ob er will oder nicht.

Es sind also die Umstände, die, so Hennis, im Reiche der Wirklichkeit jedem politischen Prinzip seine eigentümliche Farbe und zugleich seinen unterschiedlichen Charakter geben. Dieses zwischen Thukydides und Weber geteilte Bewusstsein für die historische Konstellation führt laut Hennis dazu, dass beide die großen Umwälzungen ihrer Zeit als Bruch mit der bisherigen Weltgeschichte empfanden:

Für Thukydides war es so gesehen der Peloponnesische Krieg, für Weber die "Protestantische Ethik", die unter dem Stichwort "Entzauberung der Welt" eine neue melancholische Grundstimmung schufen und als Vision dessen, was heute unter Globalisierung verstan-den wird, auch in die Zukunft wirken.

Kühner Rückgriff

Ob Weber erst im Rückblick auf Thukydides das Bewusstsein für die eigene epochale Umwälzung entwickelte, ist für Hennis weniger wichtig. Entscheidend ist sein Anliegen, Max Webers Wurzeln bis in die Antike zurückzuverfolgen.

Hennis' Schrift ist ein historisch begründetes Plädoyer zur Rehabilitierung der "realistischen Theorie der Politik", die im Rückgriff auf Weber und Thukydides eine brillante und engagierte Begründung erfährt. Hatte Hennis Zeit seines Lebens die Entwicklungslinien von Machiavelli zu Hobbes, Rousseau und Montesquieu, zu Burke, Nietzsche, Tocqueville und Weber gezogen, so wagt er hier unter Berufung auf und im Vergleich mit Max Weber den kühnen Rückgriff auf den großen Realisten der Antike.

Gleichzeitig stellt sich Hennis offensichtlich selbst in diese Denktradition, denn für ihn steht - wie für Thukydides und Weber - die Struktur und Dynamik des politischen Gemeinwesens im Zentrum des Interesses: seine Eigenart, Kraft und Macht, seine Fähigkeit zur Erhaltung und Mehrung seiner Wohlfahrt.

Diese Problemstellungen sind und bleiben die ältesten und selbstverständlichsten Aufgaben der Politikwissenschaft. Auch in diesem Band legt Hennis beeindruckend Zeugnis davon ab, wie nötig wir heute den rücksichtslosen Blick für die Realitäten benötigen, in Wissenschaft, in Politik und nicht zuletzt in der Wissenschaft von der Politik.

Wilhelm Hennis

Max Weber und Thukydides.

Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2003; 200 S., 29,- Euro


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