Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
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Keyvan Dahesch

Wenig ermutigende Bilanz des europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen

Behinderte kämpfen noch immer gegen Diskriminierung und für finanzielle Erleichterungen

Eine wenig ermutigende Bilanz des abgelaufenen, ihnen gewidmeten europäischen Jahres 2003 (EJMB) zogen Menschen mit Behinderungen bei einer Perspektiv-Tagung der Bundesregierung und der nationalen Koordinierungsstelle EJMB in Berlin. Während Belgien, Bulgarien, Holland und Spanien umfassende Antidiskriminierungsgesetze beschlossen und England sein schon als vorbildlich geltendes Gesetz verfeinert hätten, habe die Bundesregierung das seit Jahren versprochene Regelwerk zur Umsetzung des in Artikel 3 Grundgesetz garantierten Benachteiligungsverbots von Menschen wegen ihrer Behinderung in das Zivilrecht immer noch nicht auf den Weg gebracht, beklagten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unisono.

Sigrid Arnade muss oft um ihre Flugreisen kämpfen. Viele Gesellschaften weisen die Rollstuhlfahrerin ab, weil sie keine Begleitperson hat oder weil sie einen medizinischen Fragebogen, den sie als unsinnig und diskriminierend ansieht, nicht ausfüllen will. Einmal wurde die Journalistin erst mitgenommen, als sie am Check-In um ein Telefon bat, um ihren Auftritt im Fernsehmagazin "Panorama" abzusagen. "An Rollstuhlfahrer vermieten wir nicht", bekam der rechts- und behindertenpolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion in Wiesbaden, Andreas Jürgens, bei einem bundesweiten Betreiber von Ferienwohnungen zu hören. Einem Paar im Rollstuhl verweigerte ein Musical-Theater in Hamburg Karten. Ohne Begleitung dürften sie nicht hinein, weil bei einem Feuer sich niemand um sie kümmern könne. Mit ihrem Blinden-Führhund durfte Susanne Römer in München nicht ein Kino besuchen. Auch ihr Hinweis, dass dies beispielsweise in England gang und gebe sei, konnte den Kinobesitzer nicht umstimmen. Als die Vorsitzende des Forums Selbstbestimmter Assistenz, Rollstuhlfahrerin Elke Bartz, eine Kreditkarte beantragte, wurde sie belehrt, dass sie als Pflegebedürftige bei einem Unfall - im Gegensatz zu nicht behinderten Karteninhabern - keinen Anspruch auf Leistungen aus der automatischen Unfallversicherung habe. Eine Gruppe geistig behinderter Menschen und ihre Begleitung aus Ludwigsburg, die vom Urlaub in Barcelona zurückfliegen wollte, wies der Pilot der Air France aus dem Flieger, weil er sie ohne ärztliches Attest nicht mitnehmen wollte.

Aus den zahlreich recherchierten Daten hat der Behindertenverband "Netzwerk Artikel 3", in dem 70 Selbsthilfeorganisationen um die Verwirklichung des Satzes in Artikel 3 Grundgesetz: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" kämpfen, solche Diskriminierungen dokumentiert und der SPD-Bundesjustizministerin Brigitte Zypries übergeben. (Im Internet unter: www.netzwerk-artikel-3.de/zag/009.php)

Die Belange behinderter Menschen könnten durch Zielvereinbarungen zwischen ihren Verbänden und den Luftverkehrsgesellschaften geregelt werden, heißt es im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) vom 1. Mai 2002. Doch da sich die Unternehmen bislang um solche Vereinbarungen gedrückt hätten, soll aus der Kann- eine Mussbestimmung werden. Obwohl damit lediglich Empfehlungen der europäischen Luftfahrtvereinigung von 2001 bindend gemacht werden würden, blieben Bundestagsabgeordnete und das Verkehrsministerium die Antwort schuldig.

Kritik bekam auch das Justizministerium ab, weil es die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie noch nicht in deutsches Recht umgesetzt hat. Ob neben Herkunft und ethnischer Zugehörigkeit auch Behinderung als Diskriminierungsgrund im Gesetz genannt wird, ist den Staaten überlassen. Ein Referatsleiter bemerkte denn auch, behinderte Menschen trügen mit Schuld an der Verzögerung der Umsetzung, "weil sie auch in das Gesetz aufgenommen werden möchten". Diese von der Versammlung als diskriminierend empfundene Äußerung bedauerte die Sprecherin des Bundesjustizministeriums, Eva Schmierer, später als "missverständlich".

Die Leiterin der Bahn-Kontaktstelle für Menschen mit Behinderungen, Ellen Engel, kündigte an, ab sofort werde Bahn-Personal ständig im Umgang mit den Schwierigkeiten Behinderter bei Reisen geschult. Viel Verständnis, aber ebenfalls keine Zusage erntete die Forderung, Informationen im öffentlichen Verkehr sollten über Lautsprecher angesagt und in gut erkennbarer Schrift angezeigt werden.

Erfahrungen gehandicapter Menschen will die Bundesregierung laut ihrem Behindertenbeauftragten, dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Hermann Haack, in einem neuen Kompetenzzentrum bündeln. Die behinderten Menschen sollen bei der Gesetzgebung und in Gremien wie dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen als Experten in eigener Sache auf Augenhöhe darüber verhandeln. Haack will auch erreichen, dass die Ministerien ihre Gesetzesvorhaben künftig auf mögliche Auswirkungen für behinderte Menschen überprüfen. "Sonst dürfen sie gar nicht ins Parlament", betonte der Behindertenbeauftragte.

Eine Tendenz zur Einschränkung der Menschenwürde bei Behinderten beklagte die Vizechefin der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, Ingrid Körner. Ihre geistig behinderte Tochter, gelernte Gastronomiehelferin, schüttele "verständnislos ihren Kopf und winkt mit ihren Steuer- und Sozialversicherungskarten, wenn bei Diskussionen Wissenschaftler behinderten Menschen wie ihr das Lebensrecht bestreiten". Betroffene hätten oft den Eindruck, sie müssten sich für ihre Existenz rechtfertigen. "Deshalb lehnen wir alles ab, was zur Selektion und Aussonderung dieser Menschen beitragen könnte", betonte Körner, "dazu gehören die Präimplantations- und Pränataldiagnostik." Jeder habe das Recht, sich ein gesundes Kind zu wünschen. "Aber die Betonung des Rechts auf gesunde Kinder beeinträchtigt das Lebensrecht von Kindern mit Behinderungen", sagte Körner.

Lob für die erweiterten Rechte behinderter Menschen, deren Einhaltung ein Ombudsmann überwacht, bekam Schweden. Dort schickt die Regierung die auf Pflege und Assistenz angewiesenen Menschen nicht in Heime, sondern stellt ihnen monatlich ein persönliches Budget zur Verfügung. Damit können sie sich ihre Hilfskräfte selbst als Arbeitgeber aussuchen und einstellen.

In Deutschland gibt es aber, wenn etwa die Angehörigen oder eine selbst ausgesuchte und angelernte Person in Anspruch genommen wird, von der Pflegeversicherung bis zu 60 Prozent weniger Geld als bei der üblichen Pflege durch ambulante Anbieter. "Wir wollen uns aber nicht vorschreiben lassen, wann wir duschen, essen und zur Toilette gehen sollen", sagt der seit dem 16. Lebensjahr durch einen Unfall querschnittsgelähmte Bremer Sozialrichter und Leiter der nationalen Koordinierungsstelle des EJMB, Horst Frehe. Das Forum Selbstbestimmter Assistenz (ForseA) kämpft in Deutschland für das Arbeitgebermodell nach dem schwedischen Modell. Dadurch würden rund 500.000 steuer- und sozialversicherungspflichtige Jobs entstehen.

Diesem Anliegen tragen die Koalitionsfraktionen im Bundestag mit den geplanten Änderungen der Pflegeversicherung und dem bereits beschlossenen Gesetz zur Einordnung der Sozialhilfe ins Sozialgesetzbuch ("Zwölftes Buch") aber nur scheinbar Rechnung. Pflegebedürftige sollen Gutscheine bekommen, die sie nur bei ambulanten Pflegediensten einlösen können. Außerdem fallen die besonderen Einkommensgrenzen in der Sozialhilfe weg. Behinderte bekamen bislang auch bei einem eigenem oder elterlichem Einkommen von bis zu 1.300 Euro im Monat Hilfen und Hilfsmittel bezahlt. Jetzt wurde die Höchstgrenze drastisch auf 690 Euro abgesenkt, ab der sie selber teilweise oder ganz dafür aufkommen müssen.

Die Frage ist, ob die Kosten der notwendigen menschlichen und technischen Hilfen weiterhin der Sozialhilfe aufgebürdet werden sollen oder ob sie nicht als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe von allen staatlichen Ebenen gleichmäßig getragen werden - und zwar europaweit. Das Ausland bietet freilich nicht nur positive Beispiele,. So haben sich in Deutschland etwa blinde Menschen in vielen Berufen bewährt. Im Richteramt haben zwei promovierte Juristen es sogar bis in die obersten Bundesgerichte gebracht: Der ohne Augenlicht aufgewachsene Hans-Eugen Schulze war von 1963 bis 1986 Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Der im Krieg erblindete Erwin Brocke wurde 1982 zum Vizepräsidenten des Bundessozialgerichtes in Kassel berufen. Zurzeit sind 60 Richterinnen und Richter ohne Sehkraft in allen Gerichtszweigen tätig. Auch der von Geburt an blinde Autor dieses Beitrags ist seit 26 Jahren ehrenamtlicher Richter am Sozialgericht in Frankfurt.

In Österreich ist jedoch Blinden eine solche Tätigkeit wegen "mangelnder körperlicher Eignung" untersagt. Daran hat auch der Mitunterzeichner der Proklamation des EJMB, Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, kein Jota geändert. Aus demselben Grund wurden in Österreich einer gehörlosen Frau die Ausbildung zur Gebärdensprachlehrerin und einer durch einen Autounfall querschnittsgelähmten Religionslehrerin die Ausbildung zur Sonderschullehrerin verweigert. Und in der reichen Schweiz lehnte die Bevölkerung bei einer Abstimmung im Mai 2003 mit großer Mehrheit sogar gleiche Bürgerrechte für Menschen mit Behinderungen ab. Begründung der Gegner: Behinderte bekämen sonst kein Mitleid.

Auf der Agenda der Behinderten-Verbände steht jetzt vor allem ein EU-weit geltender Schwerbehinderten-Ausweis. Und prinzipiell wird statt ausgrenzender Fürsorge die uneingeschränkte Teilhabe gefordert, statt abwertendem Mitleid Verständnis und völlige Gleichstellung, statt wohlmeinender Bevormundung das Recht auf Selbstbestimmung.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.