Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 26 / 21.06.2004
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Jeanette Goddar

Der Lehrer von morgen soll kein allwissender Alleinunterhalter, sondern kollegialer Moderator sein

Heinrich-Böll-Stiftung: Die Bildungsreform der Schulen ist auf einem guten Weg

Wer in der Gegenwart klar sehen will, tut gut daran, auch mal einen Blick zurück zu werfen. Jürgen Baumert, deutscher Pisa-Chef und damit so etwas wie ein Überbringer schlechter Nachrichten von Berufs wegen, tut das zuweilen. Dann wird aus dem Bildungsforscher, der den Deutschen 2001 beibringen musste, wie schlimm es um ihre Schulen steht, einer, der regelrecht Optimismus versprüht: Mitte der 90er-Jahre, sagt Baumert, hätte kein Mensch für möglich gehalten, was seither geschehen sei: "Bildung", sagt der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, "ist endlich wieder Thema. Innerhalb wie außerhalb der Schulen ist enorm viel in Bewegung."

Baumert sprach auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung, die am ersten Juni-Wochenende mehr als 250 Teilnehmer in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften geladen hatte. Unter dem Titel "Selbstständig Lernen - Bildung stärkt Zivilgesellschaft" stellte die grünennahe Stiftung die vierjährige Arbeit ihrer Bildungskommission zur Diskussion; die Bilanz fiel überwiegend positiv aus.

Statt ein ideologisches Gesamtkonzept zu erstellen, arbeitet sich die Kommission Empfehlungen praxisnah an sechs drängenden Problemen entlang. Erstens empfiehlt die Gruppe um die grüne Bildungsvordenkerin Sybille Volkholz eine neue Form der Finanzierung von Bildung, unter anderem mit Hilfe von Bildungskonten und -gutscheinen. In der zweiten Empfehlung wird ein neuer Weg zur Herstellung von Chancengleichheit gefordert. Jeder Schüler, heißt es darin, habe das Recht auf individuelle Förderung, auf Lernen in eigenem Tempo und analog zu seinen eigenen Fähigkeiten. Die Schule soll darauf verpflichtet werden, Schüler zu qualifizieren - und damit auch für deren Scheitern in die Verantwortung genommen werden.

Als drittes formuliert die Kommission, dass nur in einer autonomen Schule selbstbestimmt gelernt werden könne. Um die Qualität selbstständiger Schulen zu sichern, sollen sie regelmäßig verglichen und evaluiert werden. Viertens: Der Lehrerberuf soll von Grund auf reformiert werden.

Der Lehrer von heute, formulierte Sybille Volkholz, sei zwar hoch belastet - aber auch, weil er einen Teil der Belastung selber produziere. In der Schule von morgen sollen Lehrer keine allwissenden Alleinunterhalter, sondern kollegiale Moderatoren sein; Partner von Schülern und Eltern und stets im Gespräch mit allen um eine Verbesserung der Schule bemüht.

Fünftens empfiehlt die Kommission, die ausufernden Lehrpläne durch knappe Curricula mit klaren Zielvorgaben zu ersetzen. Mindeststandards sollen festschreiben, was jeder Schüler mindestens können muss.

In ihrer sechsten und letzten Empfehlung fordert die Heinrich-Böll-Stiftung einen neuen Umgang der Schule mit Migrantenkindern. Vielfalt an deutschen Schulen müsse akzeptiert und als Ressource statt als Hindernis gesehen werden. Jeder Schüler solle in der deutschen, aber auch in der Muttersprache gefördert werden. Multikulturalität, die zwischendurch in der Bildungsdebatte ein negatives Stigma bekommen hat, wird damit wieder als etwas Positives belegt. Denn neu ist: Jeder soll das Recht haben, seine Identität zu definieren.

Baumert lobte die "charmante Form des Pragmatismus", der aus den Empfehlungen spreche - und bettete sie als eins von mehreren Signalen für eine neue Ära in den Kontext der Bildungspolitik seit den frühen 70er-Jahren ein. Nach jahrelangen Ideologie-Debatten und anschließender Auskühlung bis zur bildungspolitischem Lethargie sei Bemerkenswertes in Gang gekommen: "Ihre Arbeit ist der beste Beweis für die Veränderung", sagte Baumert in Richtung Heinrich-Böll-Stiftung: "Endlich wird wieder über Qualität und nicht nur dogmatisch diskutiert."

In der Tat ist die Klage über die Unmöglichkeit, das Schulsystem zu reformieren, ebenso richtig wie ihr Gegenteil. Zwar glauben nicht einmal die allergrößten Visionäre, dass es in absehbarer Zeit gelingen könnte, die Selektion in der deutschen Schule abzubauen und Unterricht für alle nach finnischem oder schwedischem Vorbild einzuführen. Und auch die in Skandinavien längst geglückte Reduktion der Lehrpläne auf ein bis zwei Zentimeter dünne Kerncurricula sind in weiter Ferne.

Aber immerhin: In einem für deutschen Bildungsföderalismus fast revolutionären Akt haben sich 16 Kultusminister schon einmal auf die Einführung einheitlicher Bildungsstandards verständigt. Nach den Sommerferien wird eine nationale Qualitätsagentur mit Sitz in der Berliner Humboldt-Universität ihre Arbeit aufnehmen. Diese wird die Standards bundesweit einheitlich implementieren und evaluieren. Damit könnte auch der unterschiedliche Ruf der Bundesländer in ihrer Qualität der Anforderungen und Ausbildung demnächst ein Ende haben.

Und auch das Stichwort "Selbständige Schule" ist nicht mehr nur ein theoretisches. Zwar behandelt man es mancherorts vor allem als Worthülse, anderswo aber ist man auf dem besten Wege dorthin. Einige Bundesländer geben ihren Schulen inzwischen lediglich viel Freiheit bei Budgetverwaltung, Profilbildung und Personalauswahl; auch die Rolle der Schulleitungen ist hier und da gestärkt worden. Und so wie die Millionen aus dem Ganztagsschulprogramm schlimmstenfalls für eine ganztägige Betreuungsanstalt aufgebracht werden, führen sie besserenfalls zu neuen pädagogischen Konzepten.

Vor allem aber hat sich, seit man Schule nicht mehr als Theorie, sondern als Lebenswelt betrachtet, eines gezeigt: Schulentwicklung geht immer von der einzelnen Schule aus. Das heißt aber auch: Wer sich auf den Weg machen will, der kann das tun. Und so manche Schule ist längst unterwegs.

Download: www.boell.de

Buch: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.)

"Selbstständig lernen

Bildung stärkt Zivilgesellschaft

Sechs Empfehlungen der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung", Weinheim 2004

240 Seiten, EUR 16,90


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