Seit Jahrtausenden machen sich die Menschen Gedanken über die Moral ihres Handelns. Auf die ethische Schlüsselfrage nach dem Erhalt des humanen Impulses wurde dabei manch bemerkenswerte Antwort gefunden. Doch jene - vor allem im christlichen Abendland entwickelten - ethischen Grundsätze werden heutzutage radikaler hinterfragt denn je.
So behaupten einige Hirnforscher, dass unsere vermeintlich freien Entscheidungen in Wirklichkeit nur das Ergebnis bestimmter neuronaler Verschaltungen und Prozesse seien. Der "freie Wille" und damit jede Ethik, die diesen Namen noch verdient, wären somit pure Illusion. Und Norbert Copray hätte sich dann eigentlich die Herausgabe dieses "Ethik Jahrbuchs" ersparen können.
Das Buch wurde herausgegeben von der in Frankfurt/Main ansässigen Fairness-Stiftung; sie engagiert sich für "faire Unternehmensstrukturen, faire Führung und Fairness am Arbeitsplatz". Ohne Ethik, so heißt es, könne es weder in Unternehmen noch in gesellschaftlichen Organisationen oder Gruppen Vertrauen und damit erfolgreiches koopratives Handeln geben. Wichtige Entscheidungen setzten ethische Klärungen und klare Wertpräferenzen voraus.
Konsequenterweise wird der Band daher durch das Kapitel Freiheitsethik eröffnet - mit dem verblüffenden Effekt, dass der geistige Mehrwert, den sich der Leser durch die im Inhaltsverzeichnis offerierten Themen und Autoren erhofft, bereits in den ersten beiden Aufsätzen erwirtschaftet wird. Karl-Heinz Brodbeck gelingt es mit Bravour, die überzogenen Ansprüche einiger Neuroforscher auf eine vollständige Naturalisierung der Ethik als "Hirngespinste" zu entlarven.
Damit ist der Weg frei für eine grundsätzliche Klärung des komplexen Verhältnisses zwischen Moral und Ethik. Norbert Copray zeigt auf, dass uns allein mit der "Moral" - jener Gesamtheit sittlicher Ge- und Verbote, die unsere soziale Einbindung regeln - überhaupt nicht geholfen ist. Es muss schon die kritische Prüfung von Werthaltungen und Normen und damit die Bewertung der Verhältnisse und des Verhaltens der Menschen untereinander und gegenüber der Natur hinzutreten. Nietzsches harsche Kritik an der Moral - sie stehe "der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: Sie verdummt" - ist nach wie vor aktuell. Ethik lässt sich immer nur im Gegensatz zur Moral entwickeln. Und diese Botschaft strahlt selbstverständlich auf alle Teilbereiche der Ethik aus.
Im Zentrum der Bioethik, wie kann es anders sein, steht die Debatte um die "Würde des Embryos". Diese gilt es nach Dietrich Böhler im Zweifel gegen noch so verlockende Kosten-Nutzen-Erwägungen zu schützen. Doch ist jene oft zu beobachtende pauschale "Skandalisierung der Biopolitik" überhaupt verantwortbar? Die Moral, so jedenfalls Volker Gerhardt, steht keineswegs immer auf Seiten der Bedenkenträger.
Da Menschenwürde und Menschenrechte stets auch eine globale Dimension entfalten, ist in Zeiten fortschreitender Globalisierung auch eine globale Ethik vonnöten. So möchte etwa Karl Otto Hondrich der kriegsführenden US-Macht jene nachhaltige Erfahrung des "alten Europa" ans Herz legen, dass sich die Welt nicht mit Gewalt, sondern nur mit Moral ordnen lässt. Und Hans Küng stellt dagegen beinahe resignierend fest, dass sich durch moralische Appelle von außen ohnehin nichts bewirken lässt. Allein das "Ethos" der Akteure - gemeint ist moralisches Handeln von innen heraus - könne dem Versagen der Märkte und Institutionen sowie dem allgemeinen Versagen der Moral entgegenwirken.
Was es mit diesem Versagen konkret auf sich hat, erfährt der Leser dann im Kapitel Wirtschaftsethik. Da geht es nämlich nicht nur um "Freiheit als Grundlage der Ethik des Unternehmers" (Klaus-Jürgen Grün), sondern auch um den "Abschied von einer Ethik der Mäßigung" (Christoph Lütge) oder gar um "Der Gierigen Zähmung" (Mathias Schüz).
Welche ethischen Orientierungen etwa eine "Unternehmenskultur" begründen helfen (Claudia Nagel), einen Berater für die Politikberatung qualifizieren (Axel Höselbach) oder die Macht der Medien in zivilisierte Bahnen halten (Ulf D. Posé) und vieles andere mehr wird im Kapitel "Unternehmensethik" erörtert. Und während die Rechtsethik nach Lothar Brock vor allem eine Friedens- und Fortschrittsethik sein sollte, die in eine "Weltrechtsordnung" mündet, fordert die Politische Ethik nach wie vor soziale Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit, so Otfried Höffe, ist schließlich die Anerkennung dessen, was sich die Menschen einander gegenseitig moralisch schuldig sind.
Die 30 Beiträge dieses gediegenen Buches - die den inhaltlichen Bogen von der "Bioethik" bis zum "Weltethos" spannen - bleiben dem Leser jedenfalls nichts schuldig, was einer zeitgemäßen Aufarbeitung des komplexen Themas dient. Die schwierige Übung, einen lesbaren Überblick über die zentralen ethischen Themen der Gegenwart vorzulegen, ist in vorbildlicher Weise gelungen. Ohne Umschweife werden die Positionen der aktuellen ethischen Debatten dargestellt und auf ihr Potential hinsichtlich einer gegensätzlichen oder verbindlichen Perspektive geprüft. Dem im Vorwort erhobenen Anspruch, dem Leser den "Anschluss an die bedeutenden Argumente und Wertentscheidungen" der Ethikdebatten unserer Zeit zu ermöglichen, wird dieses Buch vollends gerecht.
Norbert Copray (Hrsg.)
Ethik Jahrbuch 2004.
Fairness-Stiftung, Frankfurt/M., 2004; 310 S., 34,90 Euro