Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 01-02 / 03.01.2005
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Christian Hauck

"Wir wollen gar nicht wachsen"

Schleswig-Holstein: In Gemeinden mit weniger als 70 Einwohnern regeln die Bürger ihre Belange selbst

Die Zahl 70 hat für 18 Gemeinden in Schleswig-Holstein eine ganz besondere Bedeutung. Deren Bürgermeister blicken im Jahr vor jeder Kommunalwahl mit Besorgnis auf ihre Bevölkerungsstatistik. Übersteigt die Einwohnerzahl an einem bestimmten Stichtag die 70, ist Schluss mit einem in Deutschland seltenen Sonderstatus. Dann nämlich müsste ein Gemeinderat gewählt werden. Zählt eine Kleinstkommune weniger als 70 Einwohner, regeln die Bürger ihre Angelegenheiten im Rahmen einer Gemeindeversammlung selbst.

"Wir wollen gar nicht wachsen", bekennt ganz offen Helmut Kuhrt, seit 1978 Bürgermeister von Friedrichsgraben im Kreis Rendsburg-Eckernförde. Mit derzeit 68 Einwohnern zählt Friedrichsgraben zu den Großen unter den Kleinsten der 1.126 selbstständigen politischen Gemeinden im nördlichsten Bundesland. Die kleinste Kommune ist mit nur vier Einwohnern Wiedenborstel im Kreis Steinburg. Offen spricht niemand darüber. Doch tatsächlich setzen Kleinstgemeinden alles daran, ihre Struktur zu erhalten und die 70-Einwohner-Grenze nicht zu übersteigen. Notfalls, so ist zu hören, müssten rechtzeitig zum Stichtag eben einige Bürger ins Nachbardorf "umziehen".

Die Geschichte Friedrichsgrabens ist exemplarisch für viele der Kleinstgemeinden im Norden. Um 1765 siedelte Dänenkönig Friedrich westlich von Rendsburg einige aus Hessen stammende Kolonisten an, um die Moorlandschaft am Fluss Eider urbar zu machen. Zur politischen Gemeinde wurde das Dorf jedoch erst nach der Eroberung Schleswig-Holsteins durch Preußen 1866. Mit 143 Einwohnern richtig groß war Friedrichsgraben 1946, als nach dem Zweiten Weltkrieg hunderttausende Flüchtlinge im Lande Aufnahme fanden. 1948 kam mit der Elektrizität zwar der Durchbruch in die Moderne. 1965 musste jedoch die Dorfschule schließen, womit der Ort seine einzige kommunale Einrichtung verlor.

Heute umfasst Friedrichsgraben 538 Hektar vorwiegend landwirtschaftlich genutzte Fläche, sechs Bauernhöfe, 19 Wohnhäuser und eine Gaststätte. Die 20 Kinder besuchen Schulen und Kindergärten im acht Kilometer entfernten Hohn. Dort erledigt auch die Verwaltung des Amtes Hohn die laufenden Geschäfte der Gemeinde Friedrichsgraben. Alle Versuche einer Zusammenlegung mit benachbarten Kommunen blieben bislang erfolglos. Trotz finanzieller Anreize bewegte sich bei der großen Gebietsreform von 1970 gar nichts. Und sogar der Versuch der Nazis, Friedrichsgraben 1937 mit dem benachbarten Friedrichsholm zu vereinigen, verlief im Sande. Akute Gefahren für die Selbstständigkeit bestehen auch heute nicht. Im Kieler Landeshaus versichern beide große Parteien, dass auch bei einer möglichen Änderung der Verwaltungsstrukturen die politischen Gemeinden erhalten bleiben.

Keine Schulden, keine Sorgen

Nicht ohne Stolz präsentiert Kuhrt den Haushalt Friedrichsgrabens: "Wir haben keine finanziellen Sorgen und vor allem keine Schulden." Rund 45.000 Euro umfasst der Jahresetat, der mit einem Überschuss von 6.500 Euro abschließt. Einzelposten sind neben den Beiträgen für die Amtsverwaltung sowie den Schulverband die Kosten für den Unterhalt der Straßen. Und wenn Bürgermeister Kuhrt zweimal im Jahr die 46 stimmberechtigten Einwohner zur Gemeindeversammlung in die Gaststätte "Hohner Fähre" einlädt, gibt es statt Sitzungsgeld ein Essen mit einem Getränk. Schwierig wird es nur, wenn die "Hohner Fähre" wegen Betriebsferien geschlossen hat. Dann müssen die Friedrichsgrabener ihren Haushaltsplan in Kuhrts guter Stube verabschieden.

Der Autor ist Redakteur im Büro Landeshauptstadt des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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