"Ganz oben ist es am schönsten", schrieb die "Süddeutsche Zeitung". "Der Rundblick von der Dachterrasse des Sudhauses über die zu Füßen liegende Altstadt von Schwäbisch Hall übertrifft fast alles, was Deutschland an Stadt- und Landschaftsbildern zu bieten hat. Beugt man sich stadteinwärts über die Zinnen hinaus, dann steigen einem die beiden modernen Würfel der Kunsthalle Würth entgegen. Darüber tut sich das Panorama der am jenseitigen Talhang aufsteigenden mittelalterlichen Stadt mit der krönenden Michaelskirche auf."
Der Schönschreiber aus München machte intuitiv zwei wichtige Beobachtungen über Geschichte und Kommunalpolitik in dieser altehrwürdigen Salzsiederstadt im Nordosten Baden-Württembergs. Er erwähnt den Namen des Schraubenmilliardärs Reinhold Würth aus der schmucklosen Nachbarstadt Künzelsau, der, mehr als manchem lieb ist, in Schwäbisch Hall sichtbare Zeichen gesetzt hat wie die Kunsthalle. Und er formuliert eine Menschheitsweisheit, die Jahrzehnte lang für Hall zutraf: Ganz oben ist es am schönsten.
Hohenlohes kultureller und wirtschaftlichen Fixstern wusste wie kaum eine andere Stadt der Republik, wie schön es sich hoch oben leben lässt. Sie war bis Anfang dieses Jahrhunderts die reichste Stadt im deutschen Südwesten. Im Gegensatz zu Sindelfingen, das in seinen goldenen Zeiten und gebenedeit durch den Computerhersteller IBM die Zebrastreifen aus Marmor anfertigen ließ, hat man in Hall weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart seinen Reichtum in pures Schaugepränge umgesetzt. Die Gewinne aus dem Salzsieden drücken sich deutlich sichtbar in der Architektur und im mittelalterlichen Stadtbild aus. Mit dem Verlust der Reichsunmittelbarkeit und der Einverleibung der Stadt ins Königreich Württemberg 1806 setzte ein 150 Jahre dauernder Zeitabschnitt der Bedeutungslosigkeit ein.
Das Blatt wendete sich erst wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das Schwäbisch Hall neben einer Flut neuer Arbeitskräfte und neuer Ideen in Gestalt der Heimatvertriebenen auch die aus Berlin geflüchtete Bausparkasse brachte. Welch ein Segen für die Stadt und das Land. Auf diese Steine haben einige tausend Arbeitnehmer gebaut und vor allem die Stadtverwaltung. Denn mit dem langsamen wie unaufhaltsamen Aufstieg des schlauen Füchsleins - alias Bausparkasse Schwäbisch Hall - zu Europas größtem Branchenunternehmen und dem größten Arbeitgeber am Ort, gab es am Ufer des Kochers so etwas wie einen Dukatenesel: Jedes Jahr füllte sich das Stadtsäckel mehr mit den Gewerbesteuerzahlungen der Bausparkasse. Das war jahrelang ein Batzen von 100 Millionen Mark - eine Summe, an der die Stadtväter fast jeden teilhaben ließen, der nur geschickt die Hand offen hielt.
Das Ende kam jäh, der Fall war tief. Von heute auf morgen stellte die Bausparkasse ihre Gewerbesteuerzahlungen an die Stadt ein, Hall wurde über Nacht vom Bürger zum Bettelmann. Es war das Schreckensjahr 2001. In der Bankenmetropole Frankfurt fusionierten die DG Bank und GZ Bank - beides genossenschaftliche Banken - zur DZ Bank. Das war einerseits Pech für die florierende Genossenschaftstochter Bausparkasse, noch mehr aber für das dortige Rathaus. Die neue DZ Bank musste praktisch eine Milliarde Mark in den Wind schreiben, weil die Vorgängerbanken Mist gebaut hatten. "Auf Grund des vollständigen Versagens des Vorstands der DG Bank kommt eine Stadt wie wir in eine existenzielle Notlage", schimpfte seinerzeit der Haller Oberbürgermeister Hermann-Josef Pelgrim. Die DZ Bank drückte deshalb im Rahmen der gewerbesteuerlichen Organschaft die Steuern für den Konzern auf Null und verrechnete die Gewinne der Haller Bausparkasse mit ihren Verlusten - was übrigens auch für die Stadt Frankfurt am Main zu Gewerbesteuerausfällen führte.
Der Oberbürgermeister zog die Notbremse und kündigte an Weihnachten 2001 den Bürgern seiner 35.000 Einwohner großen Stadt einen Sack voller Grausamkeiten an. "Wenn wir nichts täten", sagte Pelgrim damals, "dann kämen wir unter Zwangsverwaltung, und ich könnte den Schlüssel im Rathaus abgeben." Selten rauchten die Köpfe der Stadtoberen wie der Gemeinderäte wie in diesem Herbst der herben Wahrheiten. Der unbedingte Zwang zum Sparen traf zuallererst die Mitarbeiter der Stadtverwaltung selbst; fast jeder vierte musste um seinen Arbeitsplatz bangen, die freiwilligen Leistungen wurden deutlich gekappt. Briefe wurden an die benachbarten Kommunen verschickt, ob sie denn neue Mitarbeiter bräuchten, die man ihnen wohlfeil überlassen könnte: Die Resonanz war jedoch gleich null. Inzwischen ist die Verwaltung von circa 560 Beschäftigten um gut 100 geschrumpft, und dies, so wird ausdrücklich gesagt, ohne betriebsbedingte Kündigungen.
Schließen, strecken, sparen lautete fortan das Motto im Rathaus, nachdem man auch die Hoffnung begraben musste, im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat würden die Voraussetzungen für die gemeinsame Veranlagung zur Gewerbesteuer von Mutter- und Tochtergesellschaften enger gefasst werden. Mehr als 1.000 Haushaltstitel standen nun zur Disposition. Ämter wurden zusammengelegt. Der Kelch der neuen Genügsamkeit, für die Haller ein völlig neues Gefühl, ging an niemandem vorbei, weder an den Museen noch an der Musikschule, der Stadtbücherei oder dem Theater. An der Gebührenschraube wurde bis zur Schmerzgrenze gedreht, was etwa junge Familien vor allem bei den Kindergartengebühren spürten.
Doch all dies war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zusätzlich wurde der Haushalt nämlich durch allgemein geringere Gewerbesteuereinnahmen und höhere Kreisumlagen belastet. Die einst reiche Stadt am Kocher musste wohl oder übel ihr Tafelsilber verscherbeln, das sie in der Vergangenheit mit mehr als 1.000 Wohnungen und Häusern angesammelt hatte. Sie verkaufte es ihren Töchtern wie der Gemeinnützigen Wohnbau. Eine einmalige Aktion. Mittlerweile sind auch die Friedhofsverwaltung, das Abwassermanagement und der Werkhof ausgegliedert. Lean administration nennt das die Stadt.
Man habe sich noch nicht zu Tode gespart, heißt es in der Finanzverwaltung; trotzdem müssten weitere Strukturen und Dienstleistungen abgebaut werden. Denn die bisherigen städtischen Sparmaßnahmen reichen nicht vorne und nicht hinten. Der Doppelhaushalt sieht für 2004 im Verwaltungsteil 71 Millionen Euro und für 2005 69 Millionen Euro vor, während der Vermögensetat um die Hälfte auf 5,6 Millionen Euro schrumpft. Damit lassen sich keine großen Sprünge mehr machen. Niemand in der Stadt glaubt auch noch daran, dass die herbe Dürreperiode wie 2001 angekündigt nur drei Jahre anhalten werde und anschließend wieder der Goldsegen auf Hall darnieder rieselt. Zwar hat die Bausparkasse gerade Gewerbesteuernachzahlungen für die 90er-Jahre in Millionenhöhe geleistet: Das mildert aber keinesfalls die gegenwärtige Finanzlage. Der Kämmerer steckt das Geld jedenfalls in den Sparstrumpf und will es für Ganztagesschulen, so der Bund sie bezuschusst, und eine weitere Stufe der Stadtsanierung ausgeben.
Die Bausparkasse Hall ist der größte Arbeitgeber am Platz und bei den guten Geschäften der vergangenen Jahre ist sie in gewisser Weise auch ein Arbeitsplatzgarant. Zwischen Rathaus und Vorstandsetage herrschen nach wie vor enge Verbindungen, und so nimmt es nicht wunder, dass von der Bausparkasse vor zwei Jahren als Solidaritätsbeitrag die Gründung einer Bürgerstiftung initiiert wurde, die die schlimmsten Fälle abgedeckt hat. Diese Stiftung findet immer mehr Zulauf und schafft ein Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot-Gefühl, wie man es bisher in der Stadt nicht kannte. So pflasterte ein Hotelier die Straße vor seiner Herberge auf eigene Kosten, und die evangelische und katholische Kirche betreiben gemeinsam einen Kindergarten. Das war in der Stadt des Reformators Johannes Brenz bis dato kaum vorstellbar.
Erstaunlicherweise spürt die Geschäftswelt unmittelbar nichts von der Finanzkrise, die sie als ein verwaltungsinternes Problem betrachtet. Der gewerbesteuertechnisch tiefe Fall hat dem Image Halls nicht geschadet, das von der Bausparkasse und den Freilichtspielen geprägt ist. Schwäbisch Hall ist eine gute Marke, meint deshalb ein international renommierter Keramikmeister.
Nutznießer dieser Situation ist auch der Schraubentycon Würth, oft als Medici von Hohenlohe bezeichnet, der so zu einem Flugplatz und einer alten Kirche kam, die er neben seiner gut frequentierten modernen Kunsthalle auf einem ehemaligen Brauereigelände ebenfalls zu einem Ausstellungsraum ausbauen möchte. Die Bevölkerung merkt so kaum, wie ihr sukzessive öffentlicher Raum entzogen wird.
Martin Geier ist Redakteur der "Stuttgarter Zeitung".