Deutliche Kritik an der weitreichenden Einmischung Brüssels in die Kommunalpolitik vor Ort übt Peter Straub, Präsident des Ausschusses der Regionen (AdR) in der EU. Dieses Hineinregieren schränke die Selbstverwaltung der Gemeinden und regionalen Gebietskörperschaften erheblich ein, beklagt der Präsident des baden-württembergischen Landtags im Interview. Bisher spiele die Subsidiarität in der EU-Politik eine zu geringe Rolle. Hoffnungen setzt der CDU-Politiker in die künftige EU-Verfassung, die auf EU-Ebene erstmals Kontrollmöglichkeiten zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips eröffne und dem AdR Klagen gegen dessen Verletzung vor dem Luxemburger Gerichtshof erlaube. Insgesamt zeigt sich Straub indes optimistisch, dass sich EU-weit eine Politik der Dezentralisierung im Interesse der kommunalen und regionalen Autonomie durchsetzen werde.
Das Parlament:
Die Handlungsspielräume in den Rathäusern werden durch die chronische Finanzknappheit faktisch immer mehr eingeengt. Droht aber nicht auch eine Strangulierung der Selbstverwaltung vor Ort durch das Hineinregieren der EU in die Kommunal- und Regionalpolitik?
Peter Straub: In der Tat ist das leider der Fall. Die Vorgaben und Auflagen aus Brüssel schränken die kommunale Planungshoheit teilweise erheblich ein. Da stellt sich schon die Frage, ob dieses Hineinregieren sinnvoll ist. Meine Antwort ist klar: Die EU sollte sich zurückhalten.
Das Parlament:
In welchen Bereichen gehen denn die Brüsseler Reglementierungen zu weit?
Peter Straub: Da fällt mir zum Beispiel die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie ein: Dieses EU-Gesetz schreibt recht weitreichend die Ausweisung von Schutzgebieten zur Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen sowie wildlebender Tiere und Pflanzen vor. Ein großes Konfliktthema ist die Daseinsvorsorge und dabei besonders die Wasserversorgung. Aus meiner Sicht muss dies eine kommunale Aufgabe bleiben, in Deutschland waren die Bürger bislang sehr zufrieden mit der Leistung der Gemeinden auf diesem Gebiet. Man darf nicht vergessen, dass es sich dabei neben der Höhe der Kubikmeterpreise um ganz prinzipielle Dinge wie die Versorgungssicherheit und die Standards bei der Wasserqualität dreht. Brüssel will diesen Sektor EU-weit verpflichtend für den freien Markt und für private Unternehmen öffnen. Ich vertrete jedoch mit Nachdruck die Auffassung, dass der Bereich der elementaren Daseinsvorsorge nicht vollständig der Kommerzialisierung unterworfen werden darf. Wenn das andere Staaten so handhaben wollen, dann ist das deren Sache. Aber es darf da keinen Zwang für alle geben.
Das Parlament:
Warum muss sich eigentlich Brüssel in die kommunale und regionale Autonomie einmischen? Welchen politischen Nutzen sieht die EU, die ja Bürgermeister und Gemeinderäte wohl nicht einfach ärgern will?
Peter Straub: Die EU verfolgt das Ziel, überall auf dem Kontinent möglichst gleiche Lebensverhältnisse durchzusetzen. Diese Tendenz zur Vereinheitlichung finde ich nicht gut. Es darf und muss Vielfalt geben, das stellt eine Bereicherung für Europa dar. Es darf und muss nicht überall alles über einen Kamm geschert werden. Brüssel soll sich um die großen Leitlinien in der Politik kümmern, aber die Selbstverwaltung vor Ort respektieren. Nur wenn diese Bürgernähe gewährleistet ist, wird die EU von den Menschen akzeptiert.
Das Parlament:
Sie sprechen von der Subsidiarität. Aber steht dieser viel beschworene Grundsatz in der EU nicht bloß auf dem Papier?
Peter Straub: Kein Zweifel: Der Gedanke der Subsidiarität wurde in der EU bislang zu wenig berücksichtigt, Demokratiedefizite sind in der Gemeinschaft nicht zu übersehen. Unsere Hoffnungen ruhen jetzt darauf, dass die neue EU-Verfassung tatsächlich in Kraft tritt. Wir vom Ausschuss der Regionen haben im Konvent zwar nicht alles erreicht, was wir wollten. Aber in der Verfassung, und das ist ein großer Erfolg, wird erstmals eine wirksame Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verankert. Neben den nationalen Parlamenten hat künftig auch der AdR das Recht, vor dem EU-Gerichtshof gegen eine Verletzung der Subsidiarität durch die Brüsseler Politik zu klagen. Das ist schon ein wichtiger Hebel.
Das Parlament:
Aber Städte, Gemeinden und regionale Gebietskörperschaften haben doch kaum Einfluss auf die EU-Gesetzgebung, die wird im Dreieck zwischen Brüsseler Kommission, Straßburger Parlament und den nationalen Regierungen beschlossen.
Peter Straub: Ganz so stimmt das nicht. Richtig ist, dass der Regionalausschuss keine effektiven Mitbestimmungsrechte hat, wir sind nun mal ein Gremium mit beratender Funktion. Immerhin muss die Kommission ihre Gesetzentwürfe dem AdR zuleiten, und wir können dann unsere Kritik und unsere Forderungen formulieren, im Brüsseler Sprachgebrauch sind dies Empfehlungen. Wird dann von diesen Positionen abgewichen, so muss dies uns gegenüber begründet werden. Klar, einen machtvollen Einfluss kann man so natürlich nicht nehmen. Aber wir setzen darauf, dass mit der künftigen Verfassung in der EU die Sensibilität gegenüber Kommunen und Regionen zunimmt und dass allein schon die potentielle Drohung mit Klagen in Luxemburg ihre Wirkung entfaltet.
Das Parlament:
Das klingt aber doch danach, dass der Regionalausschuss eher ein Papiertiger ist.
Peter Straub: Wir sind kein Papiertiger, das weise ich zurück, dass trifft die Situation nicht. Selbstverständlich wünschen wir uns mehr effektive Kompetenzen und ein stärkeres Durchsetzungsvermögen in Brüssel. Aber im Laufe der Jahre ist unser Gewicht erheblich gewachsen, vor allem gegenüber der Kommission, aber auch gegenüber dem Parlament, wo es lange Zeit erhebliche Vorbehalte gegenüber dem AdR gab. Und, um das zu betonen: Es geht ja nicht um unser Gremium an sich, wir vertreten die Interessen von Kommunen und Regionen in der EU.
Das Parlament:
Wird denn das Klagerecht vor dem EU-Gerichtshof wegen Verletzung der Subsidiarität konkret viel nutzen?
Peter Straub: Die Handhabung dieser Möglichkeit wird in der Praxis Probleme mit sich bringen. Ist ein EU-Gesetz in Kraft getreten, so muss der Regionalausschuss innerhalb von zwei Monaten Klage einreichen, falls er einen unzulässigen Eingriff in die kommunale und regionale Selbstverwaltung in einem Land sieht. Das ist natürlich eine kurze Frist, auch wenn wir die Problematik vom Gesetzgebungswerk her schon kennen. Der AdR hat ja keinen großen Apparat, der ihm zuarbeitet. Ich denke, wir werden für diese Frage eine spezielle Kommission einrichten. Nötig wird es auch sein, mit regionalen Instanzen in den Nationalstaaten wie dem Bundesrat oder auch dem Städtetag hierzulande ein Netzwerk zu schaffen, um den Informationsaustausch über die jeweilige Situation vor Ort zu verbessern. Ich rechne im Übrigen nicht mit einer Klageflut. Entscheidend ist, dass die EU-Politik gegenüber der kommunalen und regionalen Autonomie sensibler wird und wir gar nicht erst nach Luxemburg gehen müssen.
Das Parlament:
Wie überall spielt sich auch in der EU die Politik nicht nur auf dem formellen Instanzenweg ab. Kungeln denn Sie und die anderen AdR-Macher in den Brüsseler Kulissen kräftig mit?
Peter Straub: Von Kungelei will ich nicht reden. Aber selbstverständlich ist die informelle Ebene sehr wichtig. Man muss die richtigen Leute an den richtigen Stellen kennen, man muss Kontakte knüpfen und pflegen. Da haben wir vom Regionalausschuss schon einen gewissen Nachteil, weil wir nicht ständig in Brüssel präsent sind. Die AdR-Delegierten sind nun mal keine Profi-Europäer, wir sind allesamt in unseren Herkunftsländern gewählte Mandatsträger, und die Doppelfunktion zu Hause und in Brüssel kostet halt Zeit.
Das Parlament:
Was haben denn Sie und Ihre Mitstreiter bisher in der EU für Kommunen und Regionen herausgeholt?
Peter Straub: Unser größter Erfolg ist ohne Zweifel die im Konvent erarbeitete neue EU-Verfassung mit ihrem Bekenntnis zur Subsidiarität, was sich langfristig als Segen für die Selbstverwaltung vor Ort erweisen wird. Erinnern möchte ich dabei an den Einsatz des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel im Konvent als Beauftragter des Bundesrats. Ein anderes Beispiel: In die Abwicklung der verschiedenen EU-Förderprogramme bezieht die Brüsseler Kommission inzwischen nicht mehr allein die nationalen Regierungen, sondern auch regionale Instanzen mit ein: Die entscheiden nun mit, welche Gelder wo eingesetzt werden.
Das Parlament:
Brüssel regiert kräftig in die Politik der Rathäuser hinein, und anders als in der föderalen Bundesrepublik haben kommunale und regionale Gebietskörperschaften in manch anderen Staaten nicht viel zu melden. Welche Linie wird sich denn in der EU durchsetzen: der Zentralismus oder die Dezentralisierung?
Peter Straub: Ich bin da sehr optimistisch. Die Tendenz geht jedenfalls in Richtung Dezentralisierung, und wir vom Ausschuss der Regionen wollen in der EU diese Entwicklung weiter vorantreiben. Da gibt es viele Beispiele in Europa. In Finnland werden jetzt erstmals regionale Gremien gewählt: Diese Instanzen haben zwar nicht die Macht und den Einfluss deutscher Länder, aber immerhin die Kompetenzen französischer Regionalräte wie etwa im Elsass. Selbst im traditionell zentralistischen Frankreich will die Regierung die Autonomie von Städten und Regionen stärken. Der neue Madrider Ministerpräsident Rodriguez Zapatero hat angekündigt, den Regionen in Brüssel mehr Mitbestimmungsrechte einräumen und ihnen in Spanien Zuständigkeiten wie unseren Bundesländern geben zu wollen. Auch in den neuen EU-Ländern in Osteuropa gewinnen die kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften zusehends an Gewicht. Am 19./20. Mai nächsten Jahres veranstaltet der Ausschuss der Regionen in Breslau einen EU-Gipfel zum Thema Dezentralisierung. Wir hoffen, dass von diesem Kongress gerade im Osten des Kontinents eine Signalwirkung zur Stärkung der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung ausgeht.
Das Interview führte Karl-Otto Sattler.