Bundespräsident Horst Köhler hat am 12. Januar das Luftsicherheitsgesetz unterzeichnet, zugleich aber wegen schwerer rechtlicher Bedenken den Gang nach Karlsruhe angeregt. Dieses Gesetz, das nunmehr in Kraft treten kann, soll die Rechtsgrundlagen schaffen für Maßnahmen gegen Bedrohungen, die von Flugzeugentführungen oder anderen gefährlichen Eingriffen in den Luftverkehr ausgehen. Den Hintergrund der Neuregelungen bilden die terroristischen Anschläge in den USA vom 11. September 2001. Konkreter Anlass der Gesetzgebung war allerdings erst die Entführung eines Kleinflugzeuges in Frankfurt am Main im Januar 2003. Dieser Irrflug hatte eine Diskussion über die Zulässigkeit des Einsatzes der Luftwaffe ausgelöst.
Im Mittelpunkt des Gesetzes stehen daher Möglichkeiten eines Bundeswehreinsatzes im Inneren. In Zukunft soll es der Luftwaffe gestattet sein, ein als Waffe missbrauchtes Zivilflugzeug abzuschießen. Ein solcher Abschuss, den das Gesetz verdunkelnd als "unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt" beschreibt, setzt voraus, dass das entführte Flugzeug offensichtlich gegen das Leben von Menschen eingesetzt, etwa in ein Hochhaus oder - horribile dictu - in ein Atomkraftwerk gelenkt werden soll. Zudem ist der Abschuss als wirklich letzte Möglichkeit ausgestaltet, darf also erst erfolgen, wenn andere Maßnahmen nicht mehr in Betracht kommen. Die Entscheidung über einen solchen Einsatz obliegt dem Bundesverteidigungsminister.
Zeitgleich mit der Unterzeichnung des Gesetzes hat der Bundespräsident gegenüber dem Bundeskanzler sowie den Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit einzelner Regelungen mit dem Grundgesetz geäußert. Köhlers Bedenken beziehen sich auf die eröffnete Einsatzoption der Bundeswehr, zielen mithin auf den Kern der Neuerungen. Nach seinem Wortlaut erlaubt das Luftsicherheitsgesetz den Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeuges auch dann, wenn die Maschine nicht nur mit Terroristen, sondern zudem mit unbeteiligten Passagieren besetzt ist. Die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 wurden bekanntlich mittels vier Passagiermaschinen verübt, in denen insgesamt 266 Fluggäste saßen. Mit dem Abschuss eines auch mit unbeteiligten Personen besetzten Flugzeuges, so der Bundespräsident, werde Leben zugunsten anderen Lebens geopfert.
"Leben gegen Leben"?
Das Staatsoberhaupt hat erhebliche Bedenken, ob diese Einsatzoption mit dem Grundrecht auf Leben und der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde (Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes) vereinbar ist, denn diese Grundrechte verböten eine Abwägung "Leben gegen Leben". Derartige Zweifel hatte Burkhard Hirsch, von 1994 bis 1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages, im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens mit drastischen Worten zum Ausdruck gebracht. Darf, so lautet die von dem Bundespräsidenten aufgeworfene und von ihm offenbar verneinte Frage, die Staatsgewalt Unschuldige töten, um eine Lebensgefährdung anderer Menschen abzuwenden? Nach Bundesinnenminister Otto Schily ist freilich schon die Frage falsch gestellt. Schily, dessen Ministerium bei der Ausarbeitung des Gesetzes federführend war, wies die verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundespräsidenten daher umgehend als "irrig" zurück. Das Luftsicherheitsgesetz sehe überhaupt keine Abwägung "Leben gegen Leben" vor. Vielmehr sei der Abschuss eines gekaperten Flugzeuges nur dann gestattet, wenn die Passagiere durch den beabsichtigten Absturz in jedem Fall zu Tode kämen, ein Einsatz der Luftwaffe aber den Tod unzähliger weiterer Personen verhindern könne.
Der Staat muss handeln
Immer vorausgesetzt, ein von Selbstmordattentätern gekapertes, mit unbeteiligten Passagieren besetztes Flugzeug soll tatsächlich als Waffe gegen unzählige Menschen eingesetzt, etwa in ein Hochhaus gestürzt werden, so kann das Leben der Fluggäste auch bei staatlicher Untätigkeit nicht mehr gerettet werden. Diese Menschen sind dem Tode geweiht, ganz unabhängig davon, ob der Verteidigungsminister den Abschussbefehl erteilt oder nicht. Hinzu kommt Folgendes: Die Menschenwürdegarantie und das Grundrecht auf Leben gelten nicht nur für die Passagiere, sondern gleichermaßen für die zu erwartenden weiteren Opfer am Boden - auch gegenüber diesen Menschen besteht der staatliche Schutzauftrag. Kann es vor diesem Hintergrund wirklich verfassungsrechtlich gewollt sein, dass die Staatsgewalt eine Vermehrung der Opferzahlen, worauf die Attentäter doch gerade abzielen, tatenlos, ja fatalistisch zulässt? Der in der Strafrechtswissenschaft diskutierten Frage, ob dem staatlichen Schutzauftrag gegenüber der zu erwartenden Mehrzahl an Opfern entgegengehalten werden kann, durch einen Abschuss des Flugzeuges werde die Lebenszeit der Fluggäste jedenfalls um wenige Minuten verkürzt, soll hier nicht nachgegangen werden. Trotz des Dilemmas - der Staat darf, ja er muss handeln.
So überzeugend eine Anordnungsbefugnis zum Abschuss damit auch sein mag, der Gesetzgeber hat sie in ihrer schicksalhaften Tragweite nicht hinreichend präzise formuliert. In der Abschusserlaubnis findet sich keinerlei Aussage darüber, ob diese tatsächlich auch dann gelten soll, wenn sich nicht nur die Attentäter, sondern zudem unbeteiligte Personen an Bord des Flugzeuges befinden. Deshalb behauptete der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) während der ersten Beratung des Gesetzes, man habe diese Konstellation absichtlich nicht regeln wollen. Für diesen Fall erlaube das Gesetz einen Abschuss gerade nicht. Diese Auffassung wurde zwar unlängst noch einmal von Volker Beck bekräftigt, dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Sie ist indes kaum haltbar, denn der fragliche Paragraf 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes ist jedenfalls "offen" formuliert (in ihren Stellungnahmen haben auch der Bundespräsident und der Innenminister sie implizit verworfen). Dennoch hätte das Gesetz hier deutlicher gefasst werden müssen.
Einsatz der Bundeswehr im Inland
Die Zweifel Köhlers gehen über grundrechtliche Bedenken noch hinaus. So stellt der Bundespräsident die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines jeden Einsatzes der Streitkräfte zur Abwehr von Gefahren aus der Luft in Frage. Selbst wenn es nicht zu einem Abschussbefehl käme, die entführte Passagiermaschine aber von Abfangjägern der Luftwaffe zum Landen gezwungen werde, sei es höchst fraglich, ob ein derartiger - vom Luftsicherheitsgesetz ebenfalls ausdrücklich zugelassener - Einsatz der Bundeswehr im Inneren vom Grundgesetz gedeckt ist. Diesbezüglich war es bereits im Gesetzgebungsverfahren zu einem Streit der Bundesregierung und den Regierungsfraktionen mit der Opposition gekommen. Das Grundgesetz lässt den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nur in ausdrücklich geregelten Fällen zu. Im Übrigen ist die Kriminalitätsbekämpfung, zu der auch die Abwehr des internationalen Terrorismus zählt, originäre Aufgabe der Polizei. Das Luftsicherheitsgesetz stützt die eröffneten Einsatzoptionen der Streitkräfte auf die Verfassungsnorm über die Katastrophenhilfe, die den Einsatz der Bundeswehr bei besonders schweren Unglücksfällen auch innerhalb Deutschlands zulässt (Artikel 35 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes). Der Bundespräsident bezweifelt, dass der Gesetzgeber sich auf diese Norm berufen darf. Die Bestimmungen zur Katastrophenhilfe könnten schon deshalb keine geeignete verfassungsrechtliche Grundlage darstellen, weil sie als Amtshilfe ausgestaltet seien. Nach einem anerkannten Rechtsgrundsatz richtet sich die Zulässigkeit von Amtshilfemaßnahmen stets nach dem Recht, das für die zu unterstützenden Behörden gilt - hier wären dies die Polizeigesetze der Länder. Daher, so folgert Köhler, sei es überaus zweifelhaft, ob das Luftsicherheitsgesetz eigenständige, vom Landesrecht losgelöste Regelungen vorsehen darf. Bundesinnenminister Schily hält auch diese Rechtsauffassung für falsch. Er verwies in seiner Stellungnahme auf die Regelungsbefugnisse und tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten des Bundes im Bereich des Luftverkehrs und betonte, die Länderpolizeien seien demgegenüber weder rechtlich noch praktisch in der Lage, Gefahren aus der Luft abzuwehren.
Not kennt doch Gebot
Es ist freilich mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, von einem fachlichen Können - in der Tat wäre allenfalls die Luftwaffe in der Lage, Terrorgefahren aus der Luft abzuwehren - auf ein (verfassungs-)rechtliches Dürfen zu schließen. Auch wenn die Pflicht der Staatsgewalt zur bestmöglichen Abwehr terroristischer Angriffe außer Frage steht, fordert das Grundgesetz in Artikel 87a Absatz 2 für jeden Einsatz der Bundeswehr im Inneren eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung. Es gilt der Grundsatz: Not kennt doch Gebot. Daher scheidet auch die zeitweilig im Bundesinnenministerium erwogene Berufung auf einen überverfassungsrechtlichen, also ungeschriebenen Notstand aus. Ein Rückgriff auf diese höchst umstrittene Rechtsfigur kommt allenfalls in extremen, völlig unvorhergesehenen Fällen in Betracht. Seit dem "11. September" ist dieser Weg jedenfalls bei Angriffen durch Passagierflugzeuge verwehrt. Da es sich bei den Streitkräften um einen wichtigen Faktor staatlicher Macht handelt, kann sich der Gesetzgeber auch nicht auf allgemeine Gesetzgebungs- oder Verwaltungskompetenzen des Bundes berufen. Vor diesem Hintergrund hatte Bundesverteidigungsminister Peter Struck (er hat im Ernstfall den Abschussbefehl zu geben) im Vorfeld der Entstehung des Luftsicherheitsgesetzes die Auffassung vertreten, es fehle für die diskutierten Inneneinsätze der Streitkräfte an einer verfassungsrechtlichen Grundlage und eine Änderung des Grundgesetzes angemahnt.
Mit Unsicherheiten sind aber auch die Ausführungen des Bundespräsidenten behaftet. Insbesondere bezweifeln Verfassungsjuristen, dass es sich bei den Grundgesetzbestimmungen zum Streitkräfteeinsatz im Rahmen der Katastrophenhilfe tatsächlich um einen Fall der Amtshilfe handelt. Fraglich ist ferner, ob die Länder wegen der Zuständigkeit des Bundes für den Luftverkehr die Gefahrenabwehr bei Terrorangriffen aus der Luft überhaupt regeln dürften. Allerdings bezeichnet das Luftsicherheitsgesetz selbst den Einsatz der Streitkräfte ausdrücklich als Amtshilfe, als Maßnahme zur Unterstützung der Polizeibehörden.
Dessen ungeachtet wird man jedenfalls bezweifeln dürfen, dass der in Artikel 35 des Grundgesetzes normierte Katastrophennotstand Verwendungen der Streitkräfte vom Deichbau bis zum Abschuss eines vollbesetzten Passagierflugzeuges durch Abfangjäger ermöglicht. Die Entstehungsgeschichte dieser erst mit der Notstandsgesetzgebung im Jahr 1968 in die Verfassung eingefügten Bestimmung zeigt, dass mit ihr Rechtsunsicherheiten beseitigt werden sollten, die vor allem bei der Hamburger Flutkatastrophe im Februar 1962 zu Tage getreten waren. An die Erlaubnis von Kampfeinsätzen dachte damals niemand. Insoweit wäre das Luftsicherheitsgesetz mangels ausreichender verfassungsrechtlicher Grundlage tatsächlich verfassungswidrig.
Landesregierungen wollen klagen
Warum hat nun der Bundespräsident trotz seiner im Ergebnis gewichtigen Bedenken das Luftsicherheitsgesetz überhaupt ausgefertigt? Er begründet dies damit, dass er die übrigen Vorschriften des Gesetzes, in denen es vor allem um Sicherheitsmaßnahmen wie etwa Zuverlässigkeitsüberprüfungen geht, wegen der gesteigerten Bedrohungslage für dringend erforderlich halte, wollte das In-Kraft-Treten dieser Regelungen also nicht verhindern. Im Übrigen obliegt es ungeachtet der anerkannten Prüfungsrechte des Bundespräsidenten primär dem Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsmäßigkeit von Normen zu klären. Ein Normenkontrollverfahren ist allerdings erst dann zulässig, wenn das fragliche Gesetz vom Bundespräsidenten bereits ausgefertigt und verkündet wurde. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass das Staatsoberhaupt die Regelung trotz seiner Bedenken passieren ließ und zugleich eine verfassungsrechtliche Überprüfung anregte. Altbundespräsident Johannes Rau war im Jahr 2002 mit dem Zuwanderungsgesetz ähnlich verfahren. Die unionsgeführten Landesregierungen haben schon angekündigt, beim Bundesverfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren einleiten zu wollen. Auch Burkhard Hirsch will gegen die umstrittenen Bestimmungen klagen.