Bevor der Bundestag am 10. Februar 1965 das, so Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid, "neue Instrument parlamentarischer Demokratie" erstmals ausprobierte, wurden die Formalia geklärt: Fünf Minuten Zeit sollte jeder Redner haben, es musste frei gesprochen werden, Zwischenfragen waren nicht gestattet. So die Regeln der versuchsweise eingeführten Aktuellen Stunde, die die parlamentarische Debatte lebendiger gestalten sollte, und die bis heute meist im Anschluss an die Fragestunde auf Antrag oder Verlangen der Fraktionen oder Beschluss des Ältestenrates stattfindet.
Reden ohne "Krücken"
Schmid bat eindringlich um die Einhaltung der Regeln - und kündigte ein entschlossenes Vorgehen an, sollte einer der Redner sie verletzen. Müsse er feststellen, dass "einer der Sprecher auf die Hilfe eines fertigen Textes nicht verzichten zu können glaubt", werde er ihn einmal "abmahnen, und, wenn er seine Krücken nicht wegstellt, ihm das Wort entziehen". Zudem habe er angeordnet, Rednern in der vierten Minute ihrer Redezeit ein Brettchen mit der Aufschrift "Sie haben noch eine Minute Zeit!" neben das Pult zu legen. Sobald die fünf Minuten abgelaufen seien, werde er "den Redefluss erbarmungslos stoppen". Nur ein Problem schien noch ungeklärt: Die Aktuelle Stunde sollte auf eine Stunde beschränkt sein, dabei würde die die Redezeit der Regierung unberücksichtigt bleiben. Sollte die Regierung aber in der letzten Minute das Wort ergreifen, habe jeder Abgeordnete das Recht, das Wort zu verlangen, um auf die Ausführungen zu reagieren. Um eine ausufernde Debatte zu verhindern und das Problem zu umgehen, "uns den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir bei Zeitüberschreitungen verfahren sollten", bat Schmid die "Herren von der Regierungsbank" in diesem Punkt um Zurückhaltung.
Die Einführung einer Aktuellen Stunde ging auf einen Antrag auf Ergänzung der Geschäftsordnung der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zurück, den der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung im Januar 1965 befürwortet hatte. Der Ausschuss hatte empfohlen, die Aktuelle Stunde zunächst probeweise einzuführen und erst dann über die endgültige Einführung zu befinden, wenn genügend Erfahrungen mit dem neuen Modell gesammelt worden seien. Auch Bundeskanzler Ludwig Erhard zeigte sich innovationsfreudig. In einem Schreiben an den Bundestagspräsidenten teilte er mit, er begrüße die Einrichtung einer Aktuellen Stunde und sei damit einverstanden, "dass die Mitglieder der Bundesregierung sich an die für die Mitglieder des Bundestags vorgesehene Redezeit halten und grundsätzlich - wobei ich unter 'grundsätzlich' verstehe: ein für allemal und ohne Ausnahme - nicht länger als jeweils fünf Minuten sprechen".
Nachdem Schmid diesen Brief verlesen hatte und so alle Bedingungen geklärt waren, stand dem Verlauf der Kurzdebatte nichts mehr im Wege. Ihr Thema: Die Ausführungen des französischen Staatspräsidenten de Gaulle zur Wiedervereinigung Deutschlands. Elf Abgeordnete, Bundeskanzler Erhard und Außenminister Gerhard Schröder ergriffen das Wort - nicht ohne Probleme mit den Tücken der Geschäftsordnung. Bereits der erste Redner, der SPD-Abgeordnete Fritz Erler, musste sich entschuldigen, weil er von Unterlagen ablas: "Einige Notizen darf man benutzen; man darf nur keine Reden verlesen. Ich glaube nicht, dass ich den Eindruck erwecke, nicht der deutschen Sprache mächtig zu sein, ohne zu lesen." Am Ende blieb noch Zeit übrig, und Schmid konnte die aktuelle Stunde überpünktlich schließen. Sein Fazit: "Ich glaube, das Haus hat die Bewährungsprobe dieser ersten Stunde bestanden. Vivant Sequentes, darf ich auf Lateinisch sagen."