Als Georg Simmel 1903 schrieb, die Stadt sei keine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt, lebte nur ein knappes Zehntel der Menschheit in Großstädten. Heute ist es längst mehr als die Hälfte. Und mit der drastisch zunehmenden Verstädterung sind - namentlich in der Dritten Welt - auch die räumlichen Formen des Zusammenlebens immer bizarrer und menschenfeindlicher geworden. Weil der globale Trend zur Megalopolis, insbesondere die ihr zugeschriebenen Kennzeichen (wie Segregation, Gewalt, Slums, Verkehrschaos) als Bedrohung empfunden wird, stellt man ihm seit einiger Zeit die Tradition der europäischen Stadt, gleichsam als positive Alternative, entgegen. Das aber birgt auch die Gefahr einer gewissen Idealisierung. Zwei Bücher befassen sich nun, auf je unterschiedliche Weise, mit eben diesem Leitbild-Charakter.
Beim Stichwort "europäische Stadt" haben wir in aller Regel historisch gewachsene, klar voneinander abgegrenzte Zentren vor Augen. Straße, Platz oder Park sind Orte des Austauschs, der zufälligen Begegnung, des Kennenlernens von Andersartigem, hier spielt sich gesellschaftliches Leben ab. Diese Orte haben damit eine wichtige soziale Funktion Wenngleich sich empirisch nicht mit letzter Sicherheitnachweisen lässt, welche Räume wie auf ihre Nutzer wirken, so ist doch festzustellen, dass die Ausgestaltung dieser Räume keineswegs ohne Einfluss auf die Art und Weise der hier stattfindenden Prozesse ist.
Dass also ihre Plätze die "lächelnden Augen" einer Stadt darstellen, ist eine so eingängige wie zutreffende Metapher. Bleibt man im Bild, dann wird man allerdings heute konstatieren müssen, dass viele dieser "Augen" leider "blind" geworden sind: Ohne wahrnehmbaren baulichen Rahmen, gefräst durch überbreite Straßen, von Autos durchbraust oder zugeparkt, ungastlich und bar jeglicher Aufenthaltsqualität: So offenbaren sich nicht nur hierzulande viele Plätze.
Es geht auch anders, sagt der Bildband von Frank Maier-Solgk und Andreas Greuter. Gezeigt werden gelungene, attraktive Piazzas, wie man sie aus Italien kennt, - klare räumliche Fassung, erkennbar historisch und gewachsen, mit stupenden Aufenthaltsqualitäten. Auf suggestive Weise ruft der Band damit ins Bewusstsein, was als unverzichtbarer Bestandteil der städtischen Kultur mal vernachlässigt, mal in hypertrophe Künstlichkeit gesteigert wird - den öffentlichen Raum städtischer Plätze, seine Gestalt und Wirkung.
45 zumeist historische Beispiele werden hier präsentiert, die - wie der Marktplatz in Hildesheim, die Piazza dei Signori (Vicenza), der Bedford Square (London) oder der Grote Markt (Antwerpen) - nicht nur, so der Untertitel, "Mittelpunkte urbanen Lebens" sind, sondern exemplarisch für eine Revitalisierung der ?res publica', die kulturelle Tradition und sinnliche Gestaltung zu verweben weiß. Die raumbildende und funktionelle Vielfalt solcher Plätze stellt etwas dar, das zurückzuerobern sich lohnt und das ausweislich neuerer Anlagen - etwa das Centre Pompidou (Paris) oder der Shouwburgplein (Rotterdam) - auch schon gelungen ist. Obgleich oder gerade weil hier auf theoretische Zusammenhänge verzichtet wird, vermag dieses Buch Anschaulichkeit zu wahren und zu sensibilisieren für eine Qualität des Stadtraums, die mehr ist als geschönte Erinnerung. Darüber darf aber die politische Diskussion über Wesen und Zukunft der europäischen Stadt nicht vergessen werden.
Eben dies ist das Anliegen von Walter Siebel ediertem Aufsatzband. Der Modellfall eines sozial ausgeglichenen, kulturell integrierten und prosperierenden Gemeinwesens wird hier gleichsam ins Kreuzverhör genommen - nicht in der Absicht, ihn angesichts globalisierungsbedingter Tendenzen zu demontieren, sondern um seine Tauglichkeit für die Zukunft zu bestimmen. Gerade weil der "F.I.R.E.-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate) mit seinen Raum- und Statusbedürfnissen" (Peter Marcuse) die Stadtzentren zu dominieren droht, braucht die Stadtpolitik eine neue strategische Ausrichtung, die sich durchaus auf endogene Potentiale stützen mag.
Für den renommierten Soziologen Siebel ist die europäische Stadt die Keimzelle der westlichen Moderne. Fünf Merkmale seien für sie grundlegend: (1.) "Präsenz von Geschichte", also eine vormoderne Geschichte im Alltag des Städters; (2.) "Stadt als Hoffnung", die verkörperte Aussicht, sich aus beengten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen befreien zu können; (3.) "die Stadt als besonderer Ort", - eine spezifische, eben urbane Lebensweise, geprägt durch die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit; (4.) der physischen Gestalt in ihrer Überlieferung und Kontinuität kommt ein symbolischer und identifikatorischer Wert zu; (5.) die sozialstaatliche Regulierung, die ihre Lebensbedingungen formen.
Die 33 Essays insgesamt machen deutlich, dass die europäische Stadt kein Fundament für eine Idealisierung bietet. Beispielsweise hatte sie insofern einen ambivalenten Charakter, als sie eine ex post interpretierte Form der Zivilgesellschaft darstellt, die immer noch auf ihre Herkunft als "gebildete Bürgergesellschaft" zu verweisen scheint und eine gewisse Exklusivität für sich beansprucht. Gehörten doch zur genuin städtischen Tradition bewusst die Ungleichheit sozialer Status- und Rechtspositionen, die Ausgrenzung von beruflichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, die Bevormundung der "unterbürgerlichen" Gruppen oder die strikte ökonomische Verregelung vom Marktrecht bis zur Gewerbeordnung.
Der vielbeschworenen Integrationsmaschine Stadt steht also ihr gleichzeitiges Exklusionskonzept gegenüber. Nur von kultureller Seite her ließe sich ihre eigentlich "europäische" Qualität bestimmen. Doch auch damit ist es für Siebel nicht mehr weit her - greife doch der Prozess der "Einhausung" und damit der Privatisierung über den engen Bezirk der Wohnung und des Betriebes hinaus und erfasse immer weitere noch im öffentlichen Raum verbliebene Funktionen. Damit erodiert nicht nur die bisherige Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit, sondern das Idealbild selbst wird massiv in Frage gestellt.
Wenn mit der "europäischen Stadt" nicht bloß eine normative Orientierung gesucht, wenn die zentralen Konstituenten dahinter erkannt und stabilisiert würden, dann kann hierin auch ein neuer "Möglichkeitssinn" liegen.
Freilich lässt sich aus dieser Doppel-Lektüre keine eindeutige Botschaft ziehen; wohl aber darf man sie mit einer literarischen Metapher illustrieren: Die Stadt stellt Bühne wie Kulisse für ein Theaterstück dar, das vom ökonomischen System verfasst, vom politischen System inszeniert und von Schauspielern dargeboten wird, die urbane Verhaltensweisen gelernt haben müssen. Wenn der Stückeschreiber, der Regisseur und die Schauspieler schlecht sind, dann macht auch das beste Bühnenbild daraus kein gutes Theater. Und während das eine Buch sich auf die Qualitäten des Bühnenbilds konzentriert, nimmt das andere gleich das ganze Theater ins Visier.
Walter Siebel (Hrsg.)
Die europäische Stadt.
edition suhrkamp, Frankfurt/M. 2004; 480 S., 16,- Euro
Frank Maier-Solgk (Text) und Andreas Greuter (Fotos)
Europäische Stadtplätze.
Mittelpunkte urbanen Lebens.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004; 160 S., 86,- Euro