Der Satiriker Wiglaf Droste hatte jüngst eine kuriose Idee. Etwas irritiert von der ständigen Präsenz nationalsozialistischer Figuren in Film und Fernsehen, schlug er vor, jeder Bundesbürger möge sich einen Nachmittag lang in seine Wohnung einschließen und unentwegt den Namen Hitlers vor sich hin sagen. Irgendwann, so Drostes Konzept, würde es ihm zu den Ohren herauskommen. Die Causa wäre erledigt.
So eine Form von Vergangenheitsbewältigung kann natürlich nur in der Satire gelten - provozierend und wirklichkeitsfremd zugleich. Dabei mag Drostes Diagnose tatsächlich auf etwas Wahres hindeuten. Im 60. Jahr nach Kriegsende findet Erinnerung aus verschiedenen Perspektiven statt, sehr divergent, manchmal sogar widersprüchlich: Holocaust und militärischer "Endkampf", Bombenkrieg und Vertreibung, Einmarsch der Roten Armee und Ankunft der westlichen Besatzungsmächte. Es gibt die Sicht der Opfer und der Täter, die des In- und Auslands, und es gibt den Willen zur ernsthaften Auseinandersetzung genauso wie den Vermarktungswillen der Unterhaltungsindustrie, die sich oftmals dem Diktat der Spannung beugt.
Gerade Letztere hat im Moment in Nichtfachkreisen eine große Deutungshoheit übernommen. Spätestens seit Bernd Eichingers Kinoerfolg "Der Untergang" besinnen sich Medien und Öffentlichkeit auf eine alte Weisheit: Nationalsozialismus "sells"! Verging schon früher kaum ein Jahr, in dem es Hitler nicht mindestens einmal auf das Titelblatt eines Hamburger Nachrichtenmagazins gebracht hatte, so ist im Erinnerungsjahr die düstere Epoche zwischen 1933 und 1945 dauerpräsent. Mal ist es ein neuer Titel aus der Historienindustrie des Guido Knopp, mal Marc Rothemunds Film über Sophie Scholl. Mal ein Arte-Themenabend, mal ein neuer deutscher Familienroman. In diesem Takt schlingert sich Erinnerung in die Zukunft.
Dabei sah das vor Jahrzehnten noch anders aus. Übte sich Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Scham und Vergessen, so codierte man sich bald zu einer Opfer- und Notgemeinschaft um. Gedacht wurde vornehmlich der Opfer aus einer vermeintlich "sauberen" Wehrmacht oder der aus den einstigen Ostgebieten Vertriebenen. Erst mit dem Auschwitz- und dem Eichmann-Prozess drangen die eigentlichen Opfer Hitlers ins kollektive Bewusstsein. Es sollte jedoch noch gut weitere 20 Jahre dauern, bis ein deutscher Bundespräsident die historische Wahrheit benennen konnte. Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes setzte Maßstäbe. Erstmals wurden nicht nur alle Opfergruppen benannt, erstmals wurde der 8. Mai unmissverständlich als "Tag der Befreiung" begangen. Ein Knoten war zerschlagen, der authentische Erinnerung möglich machen konnte. Doch dann bekam die Diskussion erneut einen anderen Klang. Martin Walsers umstrittene Friedenspreisrede in der Paulskirche von 1998, bei der er von der "Moralkeule Auschwitz" sprach, löste bei vielen die Befürchtung aus, dass Erinnerung in naher Zukunft nur noch eine Sache für Fachkreise sein werde. Das Wort von der "Historisierung" ging um. Mit dem Tod der Zeitzeugen, so befürchteten viele, wäre Geschichte im öffentlichen Bewusstsein vergangen. Doch die Kritiker haben sich geirrt. Längst ist aus "History" "Memory", aus Geschichte Gedächtnis geworden.
Der Generationswechsel scheint erfolgreich vollzogen worden zu sein, ohne dass die Gegenwart des Nationalsozialismus geringer geworden ist. Indes: Ein zweites Hinschauen ermöglicht einen skeptischeren Blick. Der Historiker Norbert Frei etwa fürchtet in seinem gerade erschienenen Buch "1945 und wir" einen "Rückfall in die Deutungsmuster der 50er-Jahre". Die Publikationen von Jörg Friedrich, Uwe Timm oder Wibke Bruhns haben in ihm den Verdacht wach gerufen, dass man mancherorts lieber wieder auf die eigenen Opfer der Hitlerei gucken möchte, als die Zerstörung in den Kontext einer von Deutschland losgetretenen Vernichtungs- und Rassenpolitik zu stellen.
Vollkommen aus der Luft gegriffen sind solche Sorgen nicht. Dabei muss nicht einmal nur an die Ränder des Politischen geschaut und an das vollkommen unsägliche NPD-Wort vom "Bombenholocaust" erinnert werden. Längst macht sich in der Mitte der Gesellschaft so etwas wie Entkontextualisierung breit. Dort, wo authentische Geschichte am nächsten scheint, ist sie bisweilen am weitesten weg. Frei zumindest ist sich sicher, dass Hitler vielerorts nur noch eine "Gruselgröße einer multimedialen Populärkultur" ist. Andere Kritiker pflichten dem bei. Die Faszination des Bösen, die in den letzten Jahren manchen Fernsehredakteur zur Produktion immer neuer Geschichtsdokus animierte, hat längst zu so innovativen Vokabeln wie der des "Nazi-Westerns" geführt.
Nicht in der vermeintlichen "Historisierung" liegt gegenwärtig die Gefahr, sondern in einer zunehmenden Ahistorisierung. So haben etwa die Kontroversen um den Kinofilm "Der Untergang" stellenweise zu unzeitgemäßen Betrachtungen geführt. Die Diskussion darum, ob es erlaubt sei, Hitler als Mensch zu zeigen, klangen nicht selten gestrig. Als hätte es die spätestens mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess einsetzende Diskussion um die feingewobene Struktur der Vernichtung und um die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten nie gegeben, wollten manche immer noch an dem Diabolus von "Outer Space" festhalten, an einen Verführer, der mit kosmischer Kraft über die Deutschen kam. Solche Gedanken atmen in der Tat den einseitigen Geist der 50er Jahre. Der Historiker Habbo Knoch hat vor einigen Jahren in seiner Untersuchung über das Bildmaterial zu den Verbrechen des Nationalsozialismus festgestellt, dass solche Anschauungen Produkte der unmittelbaren Nachkriegszeit sind. Bis Anfang der 60er-Jahre kursierten in westdeutschen Medien vornehmlich Bilder von Hitler und einer weit entrück -ten Führungsriege. Opfer oder Mittäter waren medial nicht präsent. Die Nazis waren eben die anderen. Und die kamen von irgendwo, nur nicht aus dem Herzen der deutschen Gesellschaft. Denn wenn der Untergeher tatsächlich ganz irdisch war, dann muss er, um mit Brecht zu sprechen, mindestens auch einen Koch und einen Friseur gehabt haben. Bis dato durfte davon ausgegangen werden, dass dies Selbstverständlichkeiten sind, die nicht nur in Fachkreisen verbreitet sind. Die Kontroverse aber hat gezeigt: Tief im Magen des Volkskörpers rumort noch immer etwas Unverdautes.
Doch es geht bei der Enkelgeneration nicht nur um das Verdrängen einer Schuld, die ohnehin nicht erblich ist. Auch das eigentlich Gutgemeinte agiert mehr und mehr in luftleeren Sphären. Wenn etwa am 10. Mai das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas von Architekt Peter Eisenman eingeweiht wird, dann kann auch dies eine erinnerungstechnische Doppelbödigkeit haben. Schon früh gab es deshalb eine große Koalition der Kritiker. Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) fand den Entwurf "zu beliebig", und Michael Naumann erkannte gar etwas "Albert-Speer-Haftes". Der verständliche Wunsch, dem kollektiven Gedächtnis einen bleibenden Erinnerungsraum zu geben, ist schwer umsetzbar. Eisenmans Vorstellung, dass sich die Vergangenheit heute nur noch "durch eine Manifestation in der Gegenwart" verstehen ließe, hat sich noch längst nicht bewährt. Noch immer steht zu befürchten, dass sein Entwurf, der in seiner bewussten Symbollosigkeit und seiner grauen Nacktheit die historischen Realien außen vor lässt, zum steinernen Manifest einer neuen Erinnerungskultur werden könnte. In dieser wird der Geschichte zwar gedacht, ihre Inhalte aber werden nicht gezeigt. Ohnehin: Auschwitz erschien in den letzten Jahren mehr und mehr wie ein Ort jenseits von Zeit und Raum. Der Politikwissenschaftler Lothar Probst geht soweit, in ihm den Topos einer "europäischen Zivilreligion" zu sehen.
2005 ist ein besonderes Gedenkjahr. Bis zum 8. Mai wird kaum ein Tag vergehen, an dem nicht irgendeine europäische Stadt ihrer Befreiung und ihrer Opfer gedenken wird. Der immer wieder befürchtete Schlussstrich ist ausgeblieben. Noch immer ringen die Nachgeborenen um die Formen des Gedenkens. Vielleicht mag es unmöglich sein, bei der Vielzahl der Opfer- und Tätergruppen und bei den unzähligen Perspektiven auf die Geschehnisse allgemein gültige Figuren und Ausdrucksweisen zu finden. Vielleicht ist es gerade die Polyphonie der Stimmen, die authentische Erinnerung möglich macht, zum ersten Mal möglich macht. Ein Chor, den bis dato niemand besser zum Ausdruck gebracht hat, als Walter Kempowski in seinem gerade abgeschlossenen kollektiven Tagebuch "Das Echolot". Erinnerung bedeutet hier nicht weniger als den unmöglichen Versuch, jede einzelne historische Stimme über die Zeit zu retten. Bereits vor 40 Jahren schrieb in diesem Sinne der Schriftsteller Heinrich Böll: "Große Sachen zu bereuen ist ja kinderleicht: Politische Irrtümer, Ehebruch, Mord, Antisemitismus - aber wer verzeiht einem, wer versteht die Details?"