Enormer, nicht enden wollender Applaus war das erste, womit 100.000 Menschen unter dem Fenster des Palastes auf die Nachricht vom Tod des Papstes antworteten. Gesichter, wohin ich schaute in der Dunkelheit. 200.000 klatschende Hände. Der Applaus sei befremdend und wohl eine italienische Weise der Trauer, musste ich später lesen. Auf italienischen Friedhöfen habe ich freilich Applaus noch nie gehört, oder in einem italienischen Sterbehaus. Im Gegenteil, da habe ich schon Frauen gehört, deren Klage um ihre Söhne oder Männer oder Väter ich meinen Lebtag nicht vergessen kann. Beim Tod von Johannes Paul II. war alles anders. Nichts war befremdend. Es war ein Prozess der Trauer, der Tage und Wochen dauerte, vor allem vor dem Leid des lebenden Papstes. Alle Welt weinte bei seinem letzten Ostersegen, als kein Wort mehr über seine Lippen wollte. Als es dann endlich ans Sterben ging, zog jedoch unerklärliche Heiterkeit wie eine zarte Wolke über den Petersplatz und die Menschen, die aus Rom und der Welt im Gebet unter sein Fenster drängten.
Ein Rosenkranz war gerade beendet worden, als mein Handy klingelte. "Der Papst ist tot", sagte meine Tochter. Ich schaute zu seinem Fenster hoch und sah auf den großen Bildschirmen über den Köpfen der Menge, wie Erzbischof Sandri vor dem erleuchteten Portal des Petersdoms ans Mikrofon ging: "Um 21.37 Uhr ist unser Heiliger Vater in das Haus des Vaters zurück gekehrt." Jubelndes Händeklatschen war das erste, worin sich die Spannung der Menschen auf dem Platz entlud. Dann begann im linken Campanile die Andreas-Glocke schwer und traurig zu schlagen. Die Pilger und Römer aber begannen mit einem neuen Rosenkranz. Jubel unterbrach das Gebet jedes Mal von Neuem, sobald ein Bild des Papstes auf vier großen Bildschirmen am Kopf des Petersplatzes erschien, als überwältigender Applaus für den letzten Auftritt des größten Künstlers, den Gott am Anfang des neuen Jahrtausends zu sich rief, von einem überwältigten Publikum. Es war der letzte Vorhang für den größten Schauspieler auf dem Welttheater unserer Zeit. Es war die Stunde Karol Wojtylas.
Anwalt der Schwächsten
Der "Samstag vom Herzen Mariens" ging gerade zu Ende: ein kleiner Festtag, der dem Kalender von Papst Pius XI. nach dem Sonnenwunder von Fatima eingegliedert wurde. Die Sonne war untergegangen; die Menschen schauten gebannt zum Licht hinter dem Fenster in dem Palast und auf die Kuppel des Petersdoms, auf das blass erleuchtete Mosaik Marias, der "Mutter der Kirche", das Johannes Paul II. über Berninis Kolonnaden hat anbringen lassen. Er war der letzte Künstler von Rang, der noch einmal Hand an die Gestalt des Petersplatzes legte. Am Beginn des ersten postchristlichen Jahrtausends war er eine letzte Renaissancefigur. Doch jetzt hatte er noch einmal als religiöses Genie unseren Gebeten in der Tiefe gelauscht. Sein Kopf war zum Fenster hin gewandt, die Lippen zu schwach, um noch mitzubeten.
Ein alter Schulfreund aus Kindertagen hat mich mit seiner Frau besucht, um ihn noch einmal zu erleben; mein älterer Bruder kam aus München dazu. Keiner hat die Menschen aus aller Welt gerufen, die alle zusammen noch einmal am Lieblingsgebet des Papstes weiter weben wollten, viele von ihnen seit langen Jahren zum ersten Mal: "Ave Maria, gratia plena ..." Darüber hatte der Barmherzigkeitssonntag begonnen. Johannes Paul II. selbst hatte dieses Fest 2000 eingeführt, mit der Festliturgie jener Messe, die sein polnischer Freund Stanislaus nun noch einmal für ihn gefeiert hatte, in Erinnerung an die Nonne Faustyna Kowalska, die der polnische Papst heilig gesprochen hat. Stanislaus hatte ihm noch einmal die heilige Kommunion "als Wegzehrung" gereicht, danach die Stirn, Hände und Füße gesalbt. Noch einmal versuchte Johannes Paul, seine Hand zum Segen zu erheben, noch immer lauschte er unserem Gebet aus der Tiefe. Als wir ans Ende gekommen waren, hauchte er mit letzter Kraft ein "Amen" und starb. Links und rechts von seinem alten Fenster leuchteten plötzlich sechs andere Fenster im obersten Stock des Palastes auf.
So ist Johannes Paul der Große gestorben, vor dem nur zwei Päpste in den letzten 2.000 Jahren "groß" genannt wurden: Leo I. (440 - 461) und Gregor I. (590 - 604). Der dritte aber wurde schon zu seinen Lebzeiten immer wieder der Große genannt, und so wird Johannes Paul II. (1978 - 2005), der 266. Nachfolger Petri, auch in die Geschichte eingehen. Wie in einem Spiegel erkannte er sich selbst jedoch vor allem in Simon wieder - dem Apostel vom See Genezareth, der bis zu seinem Tod am Kreuz in Rom nicht gerade als großer Held von sich reden gemacht hatte, sondern oft schwach, verzagt, unzuverlässig war - und in der Stunde von Christi Passion.
Wie schwach auch immer er sich sah, für die Welt war Johannes Paul II. nur groß, von Anfang an. Schon zu seinen Lebzeiten "beschlagnahmte" er 26 Jahre lang das Augenmerk der Menschen wie keiner vor ihm: als der erste wirklich allgegenwärtige Mensch des Medienzeitalters, als Pilger um den Globus und als Souverän im Cyberspace. Überall groß, in seiner Unbeugsamkeit, seiner Bescheidenheit, seinem Glauben. In seiner Hoffnung. Als Beter. Als Visionär einer "Zivilisation der Liebe" gegen die "Zivilisation des Todes". Als Anwalt der Schwächsten. Am Schluss aber war er am größten in seinen Leiden. Deutlicher als Menschen jemals die Wundmale des heiligen Franziskus oder Pater Pios sehen konnten, erschienen - vor Jahren schon - seine Hörgeräte in Großaufnahme auf den Bildschirmen, seine groß gewordenen Tränensäcke, seine zitternden Hände, die er nur an seiner Stirn zur Ruhe bringen konnte.
Am Schluss war er ein "Schauspiel für Engel und Menschen" geworden, wie der Apostel Paulus gesagt hätte. Man sah den Speichel, der ihm von den Lippen troff wie irgendeinem Greis in einem Pflegeheim, und wie er dennoch als schwer Behinderter weiter in seiner roten Königstoga von seinem Rollstuhl aus die Behinderten segnete, die in ihren Rollstühlen an ihn heran geschoben wurden. "Zeige deine Wunde!" heißt ein berühmtes Kunstwerk von Joseph Beuys. Der Papst, der auch ein Künstler und Dichter war, zeigte am Schluss seine vollkommene Hilflosigkeit. Keiner sprach von den Windeln, in die dieser ehemalige Sportler inzwischen wohl ebenso gepackt werden musste wie unzählige andere Greise. Doch jeder sah, er konnte körperlich nichts mehr selber tun, nur noch segnen, beten, den Messopfern vorsitzen und noch einige Menschen als heilige Vorbilder in den Himmel erheben. Er konnte nicht mehr aufstehen, er konnte nicht mehr stehen und gehen, er konnte nicht einmal mehr in seinen alten Mercedes 600 einsteigen, in dem er sich noch bis Juni 2003 durch Rom chauffieren ließ, als einsamer, gebückter Mann auf dem Rücksitz - und dachte doch nicht daran, sich zu verstecken. Die Würde des Alters, der Siechen und Kranken, die er ein Leben lang verteidigt hatte, bezeugte er am Schluss mit seinem eigenen Alter, seinem eigenen Siechtum, seinen mannigfaltigen Krankheiten. Er konnte kaum noch reden und nur schwer atmen, als er immer noch weiter zu singen versuchte, jeden Sonntagmittag neu, Punkt 12 Uhr, wenn er mit Pilgern zusammen den "Engel des Herrn" sprach und die schwach gewordene Stimme hob: "Adjutorium nostrum in Nomine Domini ..." (Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn). Seine Hilfe kam vom Himmel, anders ist sein Leben gar nicht vorstellbar, und das alles zählt zu seiner Größe. Und am Schluss konnte er gar nicht mehr reden; da wurde er am allergrößten.
Zum Allerkleinsten zählt dagegen, dass er mich 1978 zum Journalisten gemacht hat. Als er gewählt wurde, konnte ich nicht anders, da musste ich mit dem Schreiben beginnen, obwohl ich eigentlich Lehrer werden wollte. Wie ein Blitz war seine Wahl in mich gefahren. Nur Wochen vorher hatte ich im Autoradio die Totenfeier seines Vorvorgängers gehört, war an den Straßenrand gefahren und lauschte arabischen Gesängen vom Petersplatz, als Paul VI. (der "Hamlet auf dem Stuhl der Päpste") dort in einem schlichten schmucklosen Fichtensarg aufgebahrt lag. Aller Pomp war dahin. Dessen Vorgänger Johannes XXIII. hatte die Papstkrone und die Sänfte abgeschafft, zusammen hatten beide dem revolutionären Konzil vorgesessen. Ein Zeitalter war zu Ende, ein neues war angebrochen. Als ich kurz danach am Fernsehen verfolgte, wie Johannes Paul I. nach seiner Wahl als "lachender Papst" über dem Petersplatz erschien, dachte ich augenblicklich: Das ist der Falsche! Mit diesem Mann würde das neue Zeitalter nicht anfangen, das so deutlich in der Luft gelegen hatte. Vielleicht aber hat ja damals schon das Zeitalter der Beschleunigung angefangen, das wir heute überall beobachten. Denn nur 33 Tage später rief mich meine Mutter an und sagte, der neue Papst sei gestorben, und noch ein paar Tage später noch einmal mit der Nachricht, der nächste Papst sei ein Pole! Zwei Jahre zuvor hatte ich mein Geschichtsexamen abgelegt; jetzt war die Nachricht wie ein Feuerzeichen am Himmel. Denn Polen lag am 16. Oktober 1978 für meine Generation noch im Land "Mordor", jenseits der Mittelerde, fern von allem, besonders aber von Frankfurt am Main. Wie mit einem Lineal durchzog der Eiserne Vorhang die Landkarten in den Gehirnen und teilte die Welt von Europa aus in zwei unverbundene Hälften. Im Westen war schon lange nicht mehr geläufig, dass Wien weiter im Osten lag als Prag. Der Osten war das andere, er war das in jeder Hinsicht Ferne.
Und nun war mit einem Mal ein Mann aus dieser Ferne, aus der Kälte, aus dem Dunkel ins Zentrum der universalen Kirche katapultiert worden, in das gleißende Oktoberlicht Roms, der alten Hauptstadt der Welt. Jetzt müsste und würde sich alles ändern! Es war die Rückkehr der Geschichte nach bleierner Zeit. Genau das schrieb ich auf: Alles würde dieser Mann verändern! Er würde der gesamten Welt die Figur des Vaters wieder zurückgeben. In einer Welt ohne Übergänge und Durchgänge ließ mich seine Wahl plötzlich von einem Brückenbauer träumen, von einem wahren "Pontifex maximus", wie seit alter Zeit der Titel der Päpste lautet: ein Türaufreißer zwischen Ost und West und Nord und Süd. Wer konnte dazu besser geeignet sein als dieser Mann aus Krakau?! Ja, schon die Wahl war ein Wunder. Er würde zu einem Motor der Weltpolitik werden, daran bestand kein Zweifel. Wahrscheinlich gingen mir deshalb bei der Niederschrift meines ersten Artikels die Pferde auch ein wenig durch. "Habemus Papam!" nannte ich ihn: "Wir haben einen Vater!" - "Vielen Dank für Ihren Leserbrief", hieß es lapidar in der Antwort, mit der mir Kollegen einer großen Frankfurter Tageszeitung mein Debüt als Journalist quittierten. Der Papst aber tat alles, um mich von da an mit jedem seiner Schritte zu rechtfertigen. Schon am 22. Oktober 1978 rief er in einer ersten Botschaft die Menschen auf, "die Tore einzureißen". Nur Tage nach seiner Wahl war er zum Staunen der Welt geworden und zum Schrecken der alten Unordnung. "Ohne Johannes Paul II. wäre die Wende in Osteuropa nicht möglich gewesen", erklärte Michail Gorbatschow zwölf Jahre später, und Polens Ex-Premier Jaruzelski, dessen Macht er (nur als Pilger!) zuerst erschütterte, sagte unverblümt: "Er war der Sprengzünder des Aufstands." Karol Wojtyla hatte den Vatikan von der kleinsten Weltmacht wieder zu einem weltpolitischen Faktor gemacht wie kein Renaissance-Papst zuvor - und ich bin ihm bei seiner abenteuerlichen Reise durch die Geschichte an vielen Stellen begegnet. Doch wohin ich auch kam, er war immer schon vorher da, in Polen oder in Mexiko, bei der Madonna von Tschenstochau oder bei der Jungfrau von Guadalupe, der er sein Amt auf seiner ersten Auslandsreise im Januar 1979 wie ein Minnesänger weihte und wie ein Kreuzfahrer zu Füßen legte.
"Dreh dich um, Europa!"
In Fatima ließ er die herausoperierte Kugel, die am 13. Mai 1981 seinem Leben um ein Haar ein Ende bereitet hätte, aus Dankbarkeit in die Krone der Jungfrau einarbeiten. "Oh, Maria!" hatte er nur immer wieder gestöhnt, als er blutbefleckt in seiner weißen Soutane auf dem Petersplatz wie in einer Arena zusammenbrach. Es war der Tag, an dem die fast heitere Ouvertüre seines Pontifikats an ihr Ende kam. Von diesem Tag an stand ein anderer Mensch der Römischen Kirche vor. Nun begann der Weg des gebeugten und gebrochenen Papstes, der die Welt erst recht und jetzt noch mehr mit einer Stärke aus seiner Schwäche he-raus in Staunen versetzte. Nur eines änderte sich nie in seinem Leben: seine Liebe zu Maria bis zu seinem letzten Tag. Eine andere große Liebe war ihm der alte Kontinent, wo 1978 noch Marx und Lenin angebetet wurden. "Dreh dich um, Europa!", rief er deshalb am 9. November 1982 dem Erdteil von Santiago de Compostela aus zu: "Kehr um, altes Europa! Ich rufe dich mit diesem Schrei voller Liebe. Wende dich! Begegne dir wieder! Sei du selbst!"
Ich war nicht der einzige, dem er fast überall voraus war, und Jerusalem bleibt der einzige Platz, wo ich ihn ein einziges Mal habe erwarten können. Das war, als er die Kirche über das heilige Land wie über eine Brücke in das dritte Jahrtausend führen wollte. Das war, als ich ihn in Yad Vashem den Psalm Davids flüs-tern hörte: "Ich bin ein zerbrochenes Gefäß geworden. Ich höre das Zischeln der Menge - Grauen ringsum. Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ?Du bist mein Gott'." In Rom war er der erste Papst, der die Synagoge betrat, in Damaskus der erste in einer Moschee, und im Frühjahr 2003 war er der letzte, der sich noch einmal mit aller Macht gegen den Krieg aufbäumte, damit aus dem anglo-amerikanischen Waffengang im Irak zumindest kein muslimisch-christlicher Weltkrieg der Zivilisationen wurde.
Was Johannes Paul der Große hinterlässt, wird Generationen brauchen, um es historisch, spirituell und politisch auszuloten. Er hat die Welt umgestaltet wie den Marmorblock, aus dem Michelangelo die Pietà herausgelöst hat. Er hat als einzelner Mensch die Welt zu reich beschenkt, um sie nicht auch zu verwirren, jetzt, wo er plötzlich nicht mehr lebt. Jetzt höre ich in den Nachbarhäusern und unten auf der Straße Römer und Römerinnen weinen, mitten in der Nacht. Auch die Polen weinen, die Mexikaner weinen, Tausende haben in den letzten Tagen und Nächten auf dem Petersplatz um und über ihn geweint, langsam löst sich der Schock, und der erste Applaus macht normaler Trauer Platz - eben weil Karol Wojtyla solch ein Glücksfall auf dem Stuhl Petri war. Denn er hat ja nicht in Reden und Büchern, sondern vor den Kameras aller Medien der Welt die schwierige Frage glaubhaft beantwortet: Was ist das, ein Heiliger? Mit seinem Tod hat sich deshalb auch urplötzlich der Blick auf ihn gewandelt. Wurde bisher immer wieder seine politische Wirkung hervorgehoben - wie er mit seinen betenden Händen das Sowjetsystem aushebelte - so fängt jetzt die Zeit an, auf diese Hände selbst zu schauen. Für die Kirche fängt seine Geschichte gerade erst an: als die Geschichte eines der größten Heiligen seit langer Zeit.
Paul Badde ist Korrespondent der "Welt" in Rom und beim Vatikan.