Die zwei Hasen, die zwischen Bahngleisen herumhüpfen, lassen sich vom Motorengeräusch des Autos nicht stören. Während der Besichtigungsfahrt durch das 400 Hektar große Gelände deutet in einer anderen Ecke Hauptfeldwebel Hans-Georg Kunisch auf eine Kläranlage: "Die hat höchsten ökologischem Standard, der Bau hat eine Million Euro gekostet." Kurze Zeit danach steigt Chauffeurin Gabriele Fritz aus dem Wagen und streift durch weitläufige Hangar- und Werkstatthallen, in denen einst Fahrzeuge und Fluggerät gewartet wurden: "Diese Räume sind doch geradezu ideal für Firmenansiedlungen, nach einer Instandsetzung sind die Gebäude noch gut zu gebrauchen", meint die Bauamtsleiterin im Rathaus von Stavenhagen.
Die Tour führt an einem tristen ehemaligen Flughafentower und einer weitgehend leerstehenden Klinik vorbei, deren medizinische Ausrüstung vom Feinsten war. In einer Bar im Offiziersclub, ein Soldat hat Kaffee serviert, erläutert Kunisch: "Die Sportvereine im Ort konnten die Anlagen gegenüber mitbenutzen." Das sind: eine moderne Halle mit Kraftraum, eine 400-Meter-Kunststoffbahn, ein Groß- und Kleinspielfeld, ein Beachvolleyballtreff. Im Offiziersclub lud Stavenhagens Bürgermeister Bernd Mahnke zu Empfängen, der Stadtrat tagte schon mal dort, Unternehmen richteten Betriebsfeiern aus.
Ein paar Kilometer außerhalb von Stavenhagen liegt die Kaserne Basepohl mit dem schönen Namen "Mecklenburgische Schweiz". Oder genauer gesagt das, was von diesem NVA- und Bundeswehrstandort übrig geblieben ist, nämlich noch rund 500 "Dienstposten": ein Logistik-Bataillon und eine Instandsetzungseinheit, so Kommandeur Axel Gutzmann. Ende der Achtziger waren es 4.500 NVA-Militärs, im Jahr 2000 dann 1.300 Soldaten und Offiziere der Bundeswehr. Viele Kontakte zu den Leuten in der Stadt bestehen heute nicht mehr, "die Soldaten fahren am Wochenende meist heim", erzählt Gutzmann. 2007 rücken weitere 300 Mann ab, Anfang 2010 knipst der letzte das Licht aus. Wie spielt sich so eine Abwicklung konkret ab? Der Oberstleutnant trocken: "Wir erhalten den Marschbefehl, und dann sind wir weg." Was Gutzmann nüchtern konstatiert, sorgt in Stavenhagen mit noch 7.000 Seelen für eine Mischung aus Niedergeschlagenheit, Zorn, Hochspannung und Tatendrang: Die Auflösung des Standorts trifft in der "Reuterstadt" einen Lebensnerv, der Name erinnert an den hier geborenen niederdeutschen Dichter Fritz Reuter.
Im Rathaus, einem schick hergerichteten alten Schloss, sitzen Mahnke, Bauamtschefin Fritz und der bei der privaten Berliner GKU-Standortentwicklungs-GmbH akquirierte professionelle Konversionsmanager Hartmut Röder und berichten vom lokalen Thema Nummer eins - nämlich von der wirtschaftlichen und städtebaulichen Bewältigung des Militärabzugs und vom Kampf um die Ansiedlung neuer Firmen. Der Bürgermeister: "Wir haben ein Drittel unserer Einwohner eingebüßt, zudem fehlen uns jährlich 15 Millionen Euro durch Kaufkraftverluste und durch weggebrochene Aufträge an Unternehmen." Fritz: "Alles ist inzwischen überdimensioniert, Kindergärten, Schulen und Sportanlagen sind zu groß, Wohnungen stehen leer, das zieht sich wie ein roter Faden durchs ganze Leben."
Röder lobt, "dass Stavenhagen bei der Konversion Vorreiter in Mecklenburg-Vorpommern ist". Bei einer Konferenz mit Verteidigungsminister Peter Struck und Rathauschefs aus Kommunen, die von Standortschließungen betroffen sind, wurde Stavenhagen jüngst in Bonn als positives Beispiel präsentiert. Aber ob die Konversion tatsächlich gelingt, muss sich erst noch erweisen. Mit zwei ansiedlungswilligen Unternehmen stehe man ernsthaft in Verhandlungen über Verträge zum Kauf von Flächen auf dem Kasernenareal, so Röder, zudem hätten 30 weitere Firmen prinzipiell Interesse bekundet.
"Wenn die Bundeswehr nicht gehen würde, wären wir eine der glücklichsten Städte Deutschlands", sagt der Bürgermeister. Aber so ist es eben nicht mehr. Die mathematische Größe von 15 Millionen Euro Kaufkraftminus und der statistische Bevölkerungsrückgang haben ganz konkrete Gesichter. So absolvierten in der Kaserne 48 junge Leute aus der Region eine Ausbildung in technischen Berufen, im Landkreis Demmin mit einer Erwerbslosenquote von 30 Prozent kein Pappenstiel. Damit ist es vorbei. "Richtig erschreckend", findet Ludwina Stelzer den ökonomischen Niedergang. Wenn die Chefin des Pfanni-Werks nach Feierabend durch die Fußgängerzone bummelt, "dann bin ich in den Geschäften als Kunde oft allein, früher war das anders". Geschlossen haben ein Buchladen, eine Kinderboutique, ein Bäcker, andere Geschäfte haben hart zu kämpfen: Zur allgemeinen Wirtschaftsschwäche kommt eben noch das Verschwinden des Militär-personals hinzu. Bei Pfanni mit 300 Beschäftigten gehen täglich Bewerbungen ein, "aber ich kann nichts machen", sagt Stelzer, "ich muss die Unterlagen zurückschicken".
"Das hat richtig weh getan": Mehrfach fällt bei Gerhard Wolff dieser Satz, wenn er von der Zeitenwende der Standortschließung spricht. Der Elektromeister erzählt in seinem Geschäft inmitten von Kühlschränken, Staubsaugern und Kaffeemaschinen von goldenen Zeiten: "Damals kauften Offiziersfamilien oft bei mir ein, die haben gutes Geld verdient, jetzt schauen kaum noch Soldaten vorbei." Der Handwerker mit 17 Beschäftigten erhielt ehedem 15 Prozent seiner Aufträge von der Kaserne, "das war eine sichere Bank, dafür gibt es keinen Ersatz". In Stavenhagen ist kaum noch was los, "vergangenes Jahr haben wir zwei Eigenheime gemacht, das wars". Margit Kühn, Chefin der in Stavenhagen ansässigen 300-köpfigen Zentrale der nordostdeutschen Supermarktkette Netto: "Der ganze Mittelstand leidet, schließt die Kaserne, gehen eben auch die Familien der Militärs." Kühn ist persönlich auch eine "Bundeswehrbetroffene", wie sie sagt: Ihr Mann ist Pilot und schiebt mittlerweile in Göttingen Dienst.
Das Hauptopfer der Anfang 2001 von Rudolf Scharping Knall auf Fall verkündeten Auflösung Basepohls heißt Eckhard Beyer. Der Geschäftsführer der kommunalen Wohnungsverwaltung sitzt nun auf einem Schuldenberg von 6,5 Millionen Euro und muss zudem mit Mindereinnahmen von jährlich einer Million Euro jonglieren. "Der Abzug war unser Drama", resümiert Beyer an seinem Schreibtisch eine fast abenteuerlich anmutende Geschichte. Früher zu NVA-Zeiten und dann in der Bundeswehr-Ära logierten viele Militärs in ursprünglich eigens für sie errichteten Plattenbauten. In den Neunzigern investierte die Bonner Hardthöhe 40 Millionen Euro in Basepohl, hat Bürgermeister Mahnke einmal ausgerechnet. Und wenn so viel Geld locker gemacht wird, "dachten wir natürlich, die Armee ist uns für 100 Jahre sicher", erinnert sich Beyer. So erwarb denn 2000 sein Unternehmen 700 Wohnungen von der Bundesvermögensverwaltung, wobei deren damalige Eile Beyer im Rückblick verdächtig vorkommt. Per Zweckbindung verpflichtete Berlin die Gesellschaft im Vertrag sogar, 120 Wohnungen für Bundeswehrbedienstete zu reservieren. Und kurze Zeit später dann aus heiterem Himmel Scharpings Aus für die Kaserne: Heute stehen 22 Prozent von Beyers Wohnungen leer. Das Unternehmen reichte gegen den Bund mit dem Vorwurf arglistiger Täuschung Klage vor Gericht ein, doch daraus wurde nichts.
Mehrere Plattenbauten werden nun abgerissen, das kostet über eine Million Euro, bezahlt mit Geldern aus dem Stadtumbau Ost. Beyer: "Das ist eine gewaltige Wertvernichtung". Der Kaufpreis von 6,5 Millionen Euro wurde seinerzeit über Kredite finanziert. Dieser Schuldenbuckel, hinzuzurechnen ist ein Zuschuss von einer Million Euro aus dem Rathaussäckel für die Wohnungsgesellschaft, ist die zentrale pekuniäre Hypothek des Bundeswehr-Weggangs, die auf der Stadt lastet: Weil diese Summe bei dem kommunalen Unternehmen verbucht ist, taucht das Minus nicht im Etat der Gemeinde auf. Nur so wird der mit einem gewissen Stolz vorgetragene Hinweis von Schultes Mahnke verständlich, die Stadt sei schuldenfrei.
Bei Peter Struck registriert der Bürgermeister durchaus Aufgeschlossenheit gegenüber den Problemen von Gemeinden, denen die Armee Adieu sagt. Der Zorn über Scharping scheint indes noch nicht verraucht zu sein. Als 2001 das Fallbeil über Basepohl niederging, gab Mahnke aus Protest einen erst vier Wochen zuvor von Scharping verliehenen Orden zurück. Demos fanden statt, eine sieben Kilometer lange Lichterkette reihte sich von der Ortsmitte hinaus bis zur Kaserne. Alles vergeblich.
Der Bürgermeister: "Mittlerweile gehen wir mit der dieser Herausforderung konstruktiv und offensiv um." Und das heißt: Unternehmen sollen auf das Areal. Nun gehört es zu den lokalen Paradoxien, dass sich Mahnke, Fritz und Röder für ihr Konversionsprojekt gar nicht unbedingt abrackern müssten. In Stavenhagen arbeiten schließlich bereits 2.300 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, eine aktive Wirtschaftsförderung hat Netto, Pfanni, Transportfirmen und andere Betriebe angelockt. Warum sollte man also nicht der Bundesregierung die Verantwortung für das schrittweise leerwerdende Gelände weit draußen überlassen? Zumal der Kampf um Neuansiedlungen angesichts der Wirtschaftsschwäche und des interkommunalen Konkurrenzkampfs um Ansiedlungen kein Zuckerschlecken ist.
Mahnkes Argument: "Die Renaturierung der Kaserne würde rund zehn Millionen Euro kosten" - auch wenn dieses Geld von Hans Eichel aufgebracht werden müsste. Genauso teuer würde es, auf 40 Hektar Konversionsgelände Straßen, Strom, Heizungs- und Wasserversorgung sowie Abwassersysteme auf den neuesten Stand zu bringen. Der Bürgermeister: "Man muss diese Chance ergreifen." Nach dem Vorliegen einer Machbarkeitsstudie hat er für die ersten 20 Hektar, die schon frei sind, ein Finanzierungskonzept auf den Weg gebracht: 90 Prozent der knapp fünf Millionen Euro Erschließungskosten stammen aus einem Fördertopf der Schweriner Landesregierung, fünf Prozent will die Stadt übernehmen, fünf Prozent soll die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) tragen, die Nachfolgerin der Bundesvermögensverwaltung. Konversionsmanager Röder: "Im Frühjahr 2006 ist der erste Spatenstich, 2007 soll die Erschließung fertig sein." Allerdings wird noch mit der BImA darum gerungen, zu welchem Preis Berlin die Grundstücke auf dem momentan teil- und später vollerschlossenen Areal an Investoren verkauft. Mahnke und Röder meinen, die BImA müsse da noch runtergehen. Vor allem aber: Es müssen Unternehmen gefunden werden, die sich niederlassen wollen - bei Bedarf würde Kommandeur Gutzmann sogar einen Teil des noch genutzten Terrains vorzeitig räumen. Das Rathaus wirbt auf Fachmessen, bei Präsentationstagen in der Kaserne, im Internet und mit Broschüren. Mahnke vergisst nicht den Hinweis, dass die Gewerbesteuer in Stavenhagen extrem niedrig sei und dass Firmen von bürokratischem Kram weitgehend verschont würden.
"Die Stadt betreibt die Wirtschaftsförderung professionell", lobt Netto-Chefin Kühn. Aber natürlich sei die Konversion angesichts der Konkurrenz um Firmenansiedlungen schwierig. Der Schultes zeigt sich optimistisch, dass es mit neuen Arbeitsplätzen klappen könne. Zu den Blickfängen in Mahnkes Büro gehört die kleine Nachbildung eines Panzers. Diese Gabe eines früheren Kommandeurs in Basepohl sorgt dafür, dass dem Rathauschef das Thema nie aus dem Blick-feld gerät - ein Geschenk aus jenen Tagen, als die Welt in Stavenhagen noch in Ordnung war.
Karl-Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in Berlin.