Was soll unser Schulsystem leisten? Es soll alle in Deutschland lebenden jungen Menschen beim Aufwachsen und Lernen so gut unterstützen und fördern, dass sie Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen erwerben können, die für ein gelingendes privates und berufliches Leben nötig sind; es soll die Demokratie stärken, zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, soll Benachteiligungen ausgleichen und Chancengleichheit verbessern; und es soll schließlich helfen, die ökonomische Basis einer sich dynamisch entwickelnden Wissensgesellschaft zu sichern. Bei diesen Zielen besteht in unserer Gesellschaft Konsens - zumindest was die öffentlichen Verlautbarungen angeht. Gestritten wird über die Frage, ob das traditionelle vielgliedrige Schulsystem in Deutschland zukunftsfähige und europataugliche Grundlagen für diese Ziele bietet.
Spätestens seit Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse sind erhebliche Zweifel angebracht. 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben die denkbar schlechtesten Startchancen für ihr Leben. Das Schulsystem unterstützt das Auseinanderfallen der Gesellschaft. Statt Benachteiligung auszugleichen verschärft es sie und auch die Leistungsspitze bleibt unter den Erwartungen. Schwankende Schülerzahlen machen das vielgliedrige System zudem für Schulträger zu einem Riesenproblem. Indem zehnjährige Kinder in Schulformen mit unterschiedlich hohem Anspruch und Prestige einsortiert werden, werden viele Kinder gekränkt und beschämt. Dies führt mit Sicherheit nicht zur Entwicklung aller Potenziale, die in den jungen Menschen schlummern und auch nicht zur Bereitschaft lebenslang zu lernen.
Verdopplung der Abiturientenquote
Deutschland braucht eine Verdoppelung seiner Abi-turientenquote, um international den Anschluss an die führenden Wissensgesellschaften zu erreichen. Wie soll das in einem Schulsystem gelingen, in dem bereits die heute erreichte Quote von rund 35 Prozent als zu hoch gilt. Es ist barer Unsinn, dass bereits bei Zehnjährigen festgelegt wird, ob ein Kind eher Maurer oder Professor werden soll. Von konservativer Seite wird behauptet, die Probleme des deutschen Schulsystems hätten mit der Schulstruktur und vor allem mit dem einmalig frühen Selektionszeitpunkt nichts zu tun, sondern lägen an fehlenden Standards, fehlender Strenge, fehlenden Werten oder an unfähigen Lehrkräften. Zeitweise belegte die Kultusministerkonferenz die Strukturdebatte sogar mit einem Tabu, was einige Kultusminister jedoch nicht daran hinderte, Strukturveränderungen hin zu noch mehr Selektivität vorzunehmen.
Strukturen sind nicht bedeutungslos
Pädagogische Prozesse sind so vielschichtig, dass monokausale Ursachen eher unwahrscheinlich sind. Natürlich liegen die Probleme in Deutschland nicht nur in der Schulstruktur begründet. Andererseits ist jedoch auch sicher, dass Strukturen nicht bedeutungslos sind. Sie hinterlassen Spuren im Denken und Fühlen, in der Lehrerbildung, in den Lehrplänen, in der Selbsteinschätzung junger Leute, im Familienleben. Wer sich also ernsthaft mit der Frage auseinander setzen will, was einem demokratischen, chancengleichen und hoch leistungsfähigen Schulwesen in Deutschland im Wege steht, kommt nicht daran vorbei, sich auch mit der Schulstruktur zu beschäftigen. Wer darin gleich die Gefahr "ideologischer Schlammschlachten" wittert, kann sich vermutlich eine sachliche wissenschaftliche Debatte nicht vorstellen. Warum eigentlich nicht?
Ich plädiere für Sachlichkeit und einen schrittweisen Systemwechsel zu einem integrativen leistungsfähigen und chancengleichen Schulsystem, das nicht aussondert, sondern alle Kinder gleichermaßen willkommen heißt. Es sollen keine Schulen "abgeschafft" oder "zerschlagen" werden und durch "Mammut-Gesamtschulen" ersetzt werden. Jede einzelne heute existierende Schule soll vielmehr die Kinder des Wohnbezirks aufnehmen, einen integrativen Auftrag erhalten, zur individuellen Förderung verpflichtet werden und dafür auch die notwendige Unterstützung bekommen. "Falsche Schüler" soll es nicht mehr geben. Lehrerinnen und Lehrer müssen den professionellen Umgang mit der Verschiedenheit ihrer Schülerinnen und Schüler lernen, damit die Leistungsstarken nicht unterfordert und die Leistungsschwächeren nicht überfordert werden. Dass ein solcher Systemwechsel funktionieren kann, haben viele Länder vorgemacht. Wie die Eine Schule für alle dann heißt, ist nachrangig. Aber vielleicht hilft es zur Akzeptanz, wenn - wie in Polen - die Schulen der Sekundarstufe I einfach "Gymnasium" heißen. Polen war der Shooting-Star der PISA-Studie 2003.
Die Autorin ist im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft für den Bereich Schule verantwortlich,
Frankfurt.