Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 08.08.2005
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Katajun Amirpur

Schiiten fordern mehr Rechte in der arabischen Welt

Ein neuer Machtkampf zwischen Sunna und Schia nach "Iraqi Freedom"

Die Ursprünge der Schia - einer der beiden Hauptrichtungen des Islams - liegen im alten Mesopotamien. Deshalb hat der Irak in der schiitischen Welt einen besonderen Stellenwert. Der Zusammenbruch des Regimes hat nach Jahrzehnten brutalster Unterdrückung die Hoffnung geweckt, die dort gelegenen heiligen Stätten könnten ihre frühere Ausstrahlungskraft wiedererlangen. Ajatollah Sistani spricht es in deutlichen Worten aus: Die irakische Pilgerstadt Nadschaf solle wieder zum "Herzen der Schia" werden.

Gerade für das politische Denken der Schia sind daher in den nächsten Jahren aus Nadschaf wichtige Impulse zu erwarten. Seit der Revolution im Iran dürfte die Frage der politischen Entwick-lung des schiitischen Islams und der Rolle, die die Geistlichkeit im Machtgefüge spielt, international nicht mehr von so großem Interesse gewesen sein wie heute. Wird die schiitische Mehrheit ein Staatsmodell nach dem Vorbild Irans favorisieren oder werden sich die Schiiten auf ein demokratisches Modell einlassen? Welche Rolle wird der Islam in der künftigen Verfassung Iraks spielen?

Im Gegensatz zu der von Ahmad Chalabi, dem Leiter des Iraqi National Congress, und den Befürwortern einer Irak-Invasion wie dem Islamwissenschaftler Bernard Lewis und Michael Rubin vom American Enterprise Institute verbreiteten Meinung stehen laut Aussage des Geschichtsprofessors und renommierten Nahostspezialisten Juan Cole von der Michigan University mindestens ein Drittel aller Iraker dem von Khomeini etablierten Staatsmodell aufgeschlossen gegenüber. Umfragen zufolge befürworten 70 Prozent aller Iraker einen religiösen Staat und eine noch weit größere Anzahl wünscht sich, dass die Geistlichkeit eine zentrale Rolle im Staate spielt. Jedenfalls dürfte feststehen, dass die Beziehungen zwischen Iran und Irak in Zukunft weit enger sein werden als in den vergangenen 30 Jahren. Als der iranische Außenminister vor kurzem den Irak besuchte, wurden die Begegnungen als freundschaftlich, ja als familiär beschrieben. Kamal Kharrazi wurde auch von Großajatollah Ali Sistani empfangen. Auf dieses Privileg wartete Paul Bremer vergeblich.

Die aktuelle Situation ist eine Ironie der Geschichte: Die USA eröffnen dem schiitischen Klerus, von dem sie durch die Revolution im Iran am schwersten gedemütigt wurden, einen politischen Handlungsspielraum, den dieser im Irak noch nie hatte. Da die Schiiten 60 Prozent der Bevölkerung stellen, werden sie den Ton angeben. Die gegenwärtige weltpolitische Bedeutung des schiitischen Islams dürfte also kaum zu überschätzen sein.

Das Aufkommen eines starken politischen Bewusstseins innerhalb der irakischen Schia und die politische Rolle, die die Schiiten in Zukunft im Irak spielen werden, sind auch für die anderen Staaten der Region, in denen schiitische Minderheiten und zum Teil auch Mehrheiten leben, bedeutsam. Beispielhaft war folgende Reaktion der saudischen Schiiten. Diese waren die ersten, die eine direkte Parallele zwischen den Geschehnissen im Irak und ihrer eigenen Situation herstellten und mehr Rechte für sich forderten. Ende April 2003 wandte sich eine schiitische Delegation an den Regenten Abdallah, der damals die Regierungsgeschäfte leitete, nachdem sein Bruder, König Fahd, einen Hirnschlag erlitten hatte. In einer Petition forderte sie, dass die Diskriminierung der Schiiten aufhöre. Dass die Delegation öffentlich vom Kronprinzen empfangen wurde, war ein Novum im Verhältnis zwischen der saudischen Minderheit und dem wahabitischen Herrscherhaus. Diese Reaktion des Prinzen dürfte auf den stärker werdenden Einfluss der Schiiten Iraks zurückzuführen sein. Ein weiteres Beispiel für die Auswirkung der Ereignisse im Irak auf die schiitische Welt insgesamt boten die Folgen des Vorgehens der US-Armee gegen Muqtada al-Sadr im Sommer 2004. Als in Kerbela geschossen wurde, demonstrierten Schiiten in Bahrain, im Libanon und in Pakistan gegen die US-Politik. Angesichts des Ausmaßes der Verbundenheit unter den Schiiten in aller Welt warf Juan Cole die Frage auf, ob man inzwischen von einer echten schiitischen Internationale sprechen könne.

Der schiitisch-sunnitische Wettstreit um Vorherrschaft dürfte tatsächlich nicht nur Auswirkungen auf Frieden und Stabilität im neuen Irak haben. Dieser Konflikt wird auch auf andere Regionen ausstrahlen und die bisherige Machtverteilung zwischen beiden Richtungen in der islamischen Welt hinterfragen. Zumal die Schiiten - außer im Iran - in ihren Heimatländern ausnahmslos politisch unterrepräsentiert sind, obschon sie beispielsweise in Bahrain und im Libanon gar die Mehrheit stellen. Zum Teil sind sie - wie in Saudi Arabien - schwerer Verfolgung ausgesetzt. Manche Autoren meinen wegen der zu erwarteten Umverteilung der Macht, dass das 21. Jahrhundert als das der Schia in die Geschichte eingehen werde: Der Anthropologe und Leiter des Middle East Studies Institute der Brown University, William O. Beeman, vertritt die These, dass ein "schiitischer transnationaler Block" aus den Schiiten Irans, Iraks, Libanons, Bahrains, Kuwaits, Saudi-Arabiens, Afghanistans, Pakistans und Indiens im Entstehen begriffen sei. Und Juan Cole spricht in diesem Zusammenhang von einer schiitischen Achse, die in Zukunft die Politik des Nahen Ostens dominieren werde.

Andererseits ist der neue Irak in mancher Hinsicht auch eine Gefahr für den Iran. Denn die ranghöchste schiitische Autorität des Iraks hinterfragt die Legitimität des iranischen Regierungssystems. Das ist gefährlich für das iranische Regime. Seit der Revolution von 1978/79 ist die "Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten" die Staatsdoktrin Irans. Sie besagt, dass der zwölfte Imam, der im neunten Jahrhundert entschwand und dessen Rückkehr die Schiiten erwarten, in seiner herrschaftlichen Funktion durch einen Rechtsgelehrten vertreten wird. Diese Regierungsweise wird von den iranischen Staatsklerikern als gottgewollt behauptet. Der in Nadschaf ansässige Ajatollah Sistani vertritt allerdings die gegenteilige Meinung. Ali Sistani ist bereits der populärste Geistliche im Irak, in Bahrain und im Libanon und er weitet seine Aktivitäten auch im Iran beständig aus. Er argumentiert, dass Gott dem gesamten Volk die Souveränität übertragen habe und nicht einem einzelnen Rechtsgelehrten. Vor allem Sis-tanis wegen ist den konservativen Klerikern Irans wenig daran gelegen, dass die Theologenstadt Nadschaf wieder zum geistigen Mittelpunkt der schiitischen Welt aufsteigt. Über zweieinhalb Jahrzehnte haben sie der eigenen Bevölkerung das iranische System als gottgegeben präsentiert. Jetzt leugnet eine der wichtigsten Autoritäten des schiitischen Islams, Ajatollah Sistani, dies: Denn diese Staatsform sei nicht nur nicht schiitisch, meint er, vielmehr sei eine andere ihr noch eindeutig vorzuziehen - die Demokratie.

Tatsächlich ist das iranische System eine revolutionäre Neuerung innerhalb des schiitischen Staatsdenkens. Der Mainstream ging über Jahrhunderte davon aus, dass nur die Herrschaft des zwölften Imams rechtmäßig sei. Deshalb sei es unwichtig, wer herrsche. Diese Auffassung mündete historisch in eine Trennung von Staat und Religion und aus dieser quietistischen Haltung folgte selbst eine grundsätzliche Zustimmung der schiitischen Gelehrten zur Monarchie. Mit dem Argument des Quietismus kann aber eben auch eine parlamentarische Regierungsform begründet werden.

Für den Obersten Rechtsgelehrten Irans, Ali Chamenei, besteht daher Handlungsbedarf. Er sieht sich mit Gegnern der "Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten" im Lande konfrontiert. Hinzu kommt, dass Nadschaf wieder zu seiner historischen Bedeutung zurück-findet. Dieses geistige Zentrum könnte nicht nur in Zukunft weitgehend seiner (Chameneis) Kontrolle entzogen sein. Es ist zudem das prestigeträchtigste schiitische Lehrinstitut weltweit, auch wenn es unter Saddam Hussein nur wenig Wirkung entfalten konnte. Nadschaf könnte sich jetzt zu einem Sammelbecken der iranischen Opposition entwickeln. Dafür gibt es ein historisches Vorbild: Gerade weil er sich im Exil befand und dem Zugriff der iranischen Behörden entzog, konnte Ajatollah Chomeini in den 60er- und 70er-Jahren wirksam gegen Schah Mohammad Reza Pahlavi agieren. Jetzt emigrieren iranische Geistliche, die aufgrund ihrer abweichenden politischen Haltung in Iran starken Repressionen ausgesetzt sind, wieder in den Irak. Unter ihnen befand sich für eine Zeit lang auch der Enkel des Revolutionsführers, Hassan Cho-meini. Von geschichtsträchtigem Orte aus wetterte er gegen das iranische System, das nichts mit dem gemein habe, das seinem Großvater vorgeschwebt habe. Für eine iranische geistliche Opposition zur iranischen Theokratie jedenfalls kann es keinen besseren Zufluchtsort als Nadschaf geben.

Chamenei muss also auf die Ereignisse in Nadschaf Einfluss nehmen, und dass er genau dies tut, unterstellen ihm die Wortführer der amerikanischen Neokonservativen und auch irakische Politiker. Ein anderes politisches System gewinnt natürlich gerade vor dem Hintergrund der sich ständig verschlechternden Verhältnisse in Iran mehr und mehr an Attraktivität für die Bevölkerung: Dem iranischen System ist die Gesellschaft abhanden gekommen; die Mehrheit der Bevölkerung ist damit unzufrieden und wendet sich in Scharen von dem Staatsmodell Khomeinis ab. Falls der Irak tatsächlich jedoch - was allerdings gerade vor dem Hintergrund jüngster Äußerungen irakischer Politiker nicht zwingend ist - eine freiheitliche Ordnung entwickelt, wäre dieses Beispiel dem iranischen Regime kaum willkommen.


Katajun Amirpur ist Islamwissenschaftlerin in Köln.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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