Jerusalem, im August. An alles wurde gedacht. Die Demonstranten sollten Gebetsriemen und Klopapier mitbringen. Waffen waren jedoch verboten, denn "der Marsch wird mit Entschiedenheit stattfinden, aber ohne Gewalt", wie es im Aufruf hieß. Ein weiteres Mal versuchten tausende von Gegnern des israelischen Abzugs aus dem Gaza-Streifen in der vergangenen Woche vergeblich, in den Siedlungsblock Gush Kativ zu kommen: Schaffen es viele, könnte es ihnen gelingen, den Rückzug in letzter Minute zu stoppen; wohl mehr als 2.000 Abzugsgegner halten sich schon dort auf. Denn schon am 15. August sollen die israelischen Soldaten an die Türen von Gush Kativ klopfen und die Einwohner auffordern, ihre Häuser zu verlassen. Wer 48 Stunden danach immer noch da ist, wird gewaltsam aus dem Gaza-Streifen gebracht.
Tausende von Soldaten trainieren seit Wochen für diesen Tag. Aber das Heer der Demonstranten mit orangenen Hemden, Hüten und Bändern, das ihnen gegenübersteht, hindert sie an ihren letzten Vorbereitungen: Zu den Kundgebungen zu Beginn der beiden Protestmärsche kamen mehr als 20.000 Menschen; fast genauso viele Sicherheitskräfte wachten darüber, dass sie es nicht in den Gaza-Streifen schafften. Für viele der Demonstranten ist der Gaza-Plan von Ministerpräsident Ariel Scharon, dem die meisten bei den letzten Wahlen noch ihre Stimme gegeben haben, "diktatorisch". Nach ihrer Ansicht droht ein "weiterer Riss in der bröckelnden Mauer der Demokratie". Einige radikale Rabbiner und bekannte Rechtsextremisten verfluchten Scharon nachts bei Vollmond auf einem Friedhof in einem gespenstischen kabbalistischen Ritual. Nun droht dem Ministerpräsidenten innerhalb eines Monats der Tod, wie sie behaupten. Ein anderer Rabbiner warnte die Sicherheitskräfte, die am Abzug mitwirken, davor, dass sie bald an Krebs oder einem Unfall sterben könnten. Der Grund dafür sei klar: "Einen Juden gewaltsam aus seinem Haus zu vertreiben, ist eine sehr große Sünde". Scharon fährt zwar mittlerweile einen neuen gepanzerten Mercedes, wiederholt aber unbeeindruckt, dass die Entscheidung auf demokratischem Weg zustande gekommen sei und sich die Gegner des Gaza-Plans damit abfinden müssten.
Ein Riss geht durch Israel, oft mitten durch Familien; zum Beispiel durch die des Brigadegenerals Gershon Hacohen, der das militärische Kommando über den Rückzug hat. Vor kurzem traf er am Gaza-Übergang Kissufim zufällig seinen Bruder Aviya. Der ist zu den Siedlern in Gush Kativ gezogen und hofft gemeinsam mit ihnen zu verhindern, dass sein Bruder den Auftrag der Regierung ausführen kann. Während ihres kurzen Treffens sprachen beide auch über Aviyas Tochter. Nach dem Abschluss ihrer Offiziersausbildung ist sie in der Gegend von Kissufim im Einsatz: Sie wird sich dem Befehl nicht widersetzen, die Siedlungen zu räumen. Die meisten israelischen Jugendlichen sehen das mittlerweile anders. Sie halten es für richtig, wenn sich Soldaten nicht an der Räumung des Siedlungsblocks beteiligen - es sind fast zwei Drittel der Israelis im Alter von 15 bis 18 Jahren. Nach einer Umfrage der Zeitung "Jediot Ahronot" würde die Hälfte der befragten Jugendlichen einen solchen Befehl verweigern, wären sie Soldaten. Während die Mehrheit aus der Generation der Eltern den Gaza-Plan Scharons weiter unterstützt, lehnt ihn mehr als die Hälfte ihrer Kinder ab. Unter den Demonstranten sind zahlreiche Kinder und Jugendliche, die sich mit den Soldaten streiten, die nur wenig älter sind als sie, und diese auffordern, ihre Befehle zu verweigern. Mehrere Minderjährige wurden schon verhaftet und verbrachten längere Zeit im Gefängnis. "Arik Scharon, Du bringst uns einen Holocaust!", hieß es etwa auf einem Flugblatt, das ein Mädchen auf der letzten Kundgebung in Sderort verteilte. Am Abend wurden dann Jugendliche in kleinen Gruppen losgeschickt, um an den Posten der Sicherheitskräfte vorbei in den Gaza-Streifen zu gelangen.
Doch die Fernsehbilder von Demonstranten, die in großer Zahl in den Süden des Landes strömen, und die orangefarbenen Bänder, die an vielen Autos flattern, erwecken einen falschen Eindruck: Seit langem ist eine Mehrheit unter den Israelis für Scharons Gaza-Plan; viele bezeichnen die Siedlungen dort sogar als einen Fehler. Rein optisch haben jedoch die Siedler gewonnen. Überall gibt es orangefarbene T-Shirts, Tücher und Hüte zu kaufen. Nicht zu übersehen sind auf den Straßen die orangefarbenen Bänder, die an Autos und Rucksäcken flattern oder als Stirnbänder dienen. Als die erfolgreichste PR-Kampagne des Jahres würdigte ein israelisches Wirtschaftsmagazin die Aktion der Siedler: "Unter Marketingaspekten wurde Orange - die Farbe der Flagge der Verwaltung des Siedlungsblocks von Gush Kativ - in unserem Bewusstsein verwurzelt, und man wird sich daran als einen schwindelerregenden Erfolg erinnern", hieß es zur Begründung - auch wenn die Organisatoren letztlich wohl nicht den Rückzug verhindern werden. Politisch werden sich zwar Befürworter des Gaza-Plans durchsetzen, aber die blauen Bänder, die sie verteilen, haben nur wenige an den Autos oder Rucksäcken. Einige Israelis, denen die Einheit der Nation am Herzen lag, kleideten sich schon orange und blau.
Aber selbst für linksgerichtete und friedensbewegte Israelis hat der Gaza-Rückzug einen Preis. Aus Gush Kativ kommen rund 70 Prozent des organisch angebauten Gemüses in Israel. So schnell wird sich dafür kein Ersatz finden lassen, denn es gibt nur wenige brauchbare Ersatzflächen in Israel, die in der Vergangenheit nicht mit Kunstdünger oder ähnlichem gedüngt worden sind. Aber auch die Siedler von Gush Kativ sind sich nicht einig. Während ihre Unterstützer mit allen Mitteln versuchen, in den Siedlungsblock zu kommen, verlassen ihn immer mehr Familien. In Nitzan zogen schon die ersten Familien in die bald mehr als 300 ockergelben "Caravillas" mit ihren roten Ziegeldächern an der Straße zwischen Aschdod und Aschkelon ein. In einer Tag-und-Nacht-Aktion wurden die vorgefertigten Vierzimmerwohnungen - ihr Name verbindet die Wörter Caravan und Villa - dort aufgebaut. Auch an anderen Orten im Süden errichtete man ähnliche Unterkünfte und mietete Wohnungen. Darüber hinaus wurden tausend Hotelzimmer für die Siedler reserviert, die die Soldaten gewaltsam aus Gush Kativ vertreiben müssen, und 2.300 Plätze in Gefängnissen stehen auch bereit.
Aber auch für die Toten in Gush Kativ trafen die Planer Vorsorge. In Nitzan bereiteten Arbeiter schon neue Gräber vor, in die sie unter der Aufsicht der Rabbiner umgebettet werden sollen. Vor dem eigentlichen Rückzug werden sich auch hunderte von Schlangen, Vögeln und anderen Tieren aus dem zehn Hektar großen Zoo in Gush Kativ auf den Weg aus dem Gaza-Streifen in eine neue Bleibe machen. Diejenigen Siedler, die zu einem freiwilligen Auszug bereit sind, legten Wert darauf, dass sie ihre alten Nachbarn behalten und in Israel möglichst gemeinsam ein neues Leben beginnen können. Nicht für alle ging dieser Wunsch in Erfüllung, auch wenn es gut für sie wäre. Denn israelische Psychologen halten den Zusammenhalt unter ihnen für besonders wichtig. So erwartet Nahi Alon nicht, dass der Abzug die Siedler traumatisiert zurück-lässt. Den Siedlern aus Yamit, die einst ihre Häuser auf dem Sinai aufgeben mussten, gehe es heute gut und sie hätten eine neue Heimat gefunden: "Der religiöse Hintergrund, der Glaube und der Zusammenhalt der Gaza-Siedler wird längerfristig ihren emotionalen Aufruhr verringern." Sie könnten später argumentieren, dass sie getan haben, was sie konnten, und sich nun darauf konzentrieren müssten zu verhindern, dass es den Siedlungen im Westjordanland ergehe wie Gush Kativ. Ähnlich sieht es auch die israelische Tageszeitung "Haaretz": Die Anführer der Siedler habe sich schon mit dem Gaza-Abzug abgefunden, der nicht mehr zu verhindern sei. Daher versuchten sie jetzt, mit ihrer Kampagne den Abzug zu einem "nationalen Trauma" zu stilisieren, um mögliche weitere Rückzüge aus dem Westjordanland zu verhindern, heißt es in "Haaretz". Ein Kommentar der Zeitung "Jediot Ahronot" geht härter mit den Siedlern ins Gericht: Wie "Ausländer in unserer Mitte" benähmen sie sich. Längst seien sie Herren eines Schurkenstaates mit eigenen Gesetzen und Interessen.
Im Gaza-Streifen bereiten sich Palästinenser und Siedler auf unterschiedliche Weise auf den 15. August vor: In Gaza-Stadt hat die palästinensische Führung tausende von Fahnen in Auftrag gegeben. Das Ende der Siedlungen soll mit einem großen Fest gefeiert und Busfahrten dorthin sollen angeboten werden. Dann müssen Bauarbeiter erst einmal den Schutt der Siedlerbungalows wegräumen, bevor neue Häuser für die palästinensischen Einwohner des Gaza-Streifens entstehen können, die dort bisher in drangvoller Enge leben; die Vereinigten Arabischen Emirate boten schon an, dort eine neue Stadt zu errichten. In Gush Kativ haben dagegen einige Siedler sich schon KZ-Uniformen mit dem Judenstern geschneidert. In ihnen wollen sie den Soldaten gegenübertreten.
Hans-Christian Rößler ist Redakteur der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung.